Mädchenerziehung im Nationalsozialismus

Rezension von Sabine Hering

Gisela Miller-Kipp (Hg.):

„Auch Du gehörst dem Führer“.

Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten.

Weinheim und München: Juventa 2001.

381 Seiten, ISBN 3–7799–11310, € 38,00

Abstract: Das von Gisela Miller-Kipp herausgegebene Buch stellt die erste auf Vollständigkeit ausgelegte Sammlung von Quellen und Dokumenten zur Geschichte des BDM dar. Damit ist für die Forschungen zur Erziehung der zehn bis 18jährigen Mädchen im Nationalsozialismus eine wichtige Grundlage in Form einer Dokumentation geschaffen worden, welche durch umfangreiche Kommentare und Interpretationen ergänzt und erschlossen wird.

Gisela Miller-Kipp hat sich im Laufe der letzten Jahre mit unterschiedlichen Aspekten der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt. Sie hat sich mit dem Reichsarbeitsdienst (1980 und 1994), mit der ländlichen Erwachsenenbildung im Dritten Reich (1980), mit der nationalsozialistischen Pädagogik (1989 und 1996) und mit dem BDM selber befasst (1982). Nun hat sie Teile ihrer Sammlung von Dokumenten zum BDM in einem Materialienband der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Für den vorliegenden Band hat sie umfangreich in Archiven und Literaturbeständen recherchiert und aus dem darauf gewonnenen Material nur einen kleinen Teil präsentieren können. „Ich habe mich dabei von der sozio-politischen Dimension meines Gegenstandes leiten lassen und dessen historische Komplexität im Auge behalten. Das lässt mich sagen, der zustande gekommene Band sei solide fundamentiert, das Korpus der Dokumente sei zuverlässig, informativ und repräsentativ.“ (S. 6)

Die Struktur des Buches Das Buch umfasst sieben Kapitel, welche jeweils eine Einführung und einen Dokumententeil enthalten: „Geschichte und Institutionen des BDM“ (S. 17–54); „Jugendführung – politische Lenkung – pädagogische Propaganda“ (S. 55–96); „Erziehung – Schulung – Berufsbildung und Berufslenkung“ (S. 97–188); Gesellschaftliche Ausbeutung – politische Instrumentalisierung“ (S. 189–244); „Gesundheitspolitik, Rassepolitik und Rasseideologie“ (S. 245–268); „Politische Ästhetik: Bilder der Frau und der weiblichen Jugend“ (S. 269–302); „Betroffenheit der Subjekte: Einlassungen und Erinnerungen 1946–1999“ (S.303–324).

Diesen Kapiteln folgt ein Verzeichnis der Bilder und Quellentexte (S. 325–354) sowie ein ausführliches Verzeichnis der Sekundärliteratur (S. 355–368) und Personalangaben plus Personenregister.

Der inhaltliche Bezugsrahmen, den Gisela Miller-Kipp zum Verständnis der von ihr ausgewählten Quellen und Dokumente anbietet, basiert auf differenzierten theoretischen Zugängen zur Thematik: Ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang kreisen vor allem um den Widerspruch zwischen der modernisierenden Wirkung, die dem BDM nicht abzusprechen ist, und dem konservativen Gesellschafts- und Frauenbild, in das er eingebettet war und zu dessen Fortschreibung er nicht unerheblich beigetragen hat: Es „wurde der weiblichen Jugend über den BDM zwar das Feld gesellschaftlicher Tätigkeit und ein modernes Berufsfeld eröffnet. Doch wurde sie nicht in ein eigenständiges gesellschaftliches Leben entlassen. Der BDM schrieb die dienende Funktion der Frau fort – zuletzt führte er die ihm angehörige weibliche Jugend in den Krieg.“ (S. 11)

Vor diesem Hintergrund erklärt es sich auch, dass es dem BDM zwar gelungen sei, die weibliche Jugend in Deutschland in einem bisher nicht vorstellbaren Umfang zu organisieren und ihr im Rahmen einer eigenständigen „Mädelorganisation“ Bedeutung zu verschaffen, dass er aber gleichzeitig „als regulative Organisation des Jugendlebens“ ein Instrument der Herrschaftssicherung der NSDAP war, indem er die politische Kontrolle und die gesellschaftliche Lenkung der weiblichen Jugend zu seiner vorrangigen (wenn auch inoffiziellen) Aufgabe machte. (Vgl. S. 11)

In welchem Umfang es gelungen ist, die realen Absichten der NS-Führung gegenüber den beteiligten Mädchen – auch den Führerinnen – zu verschleiern, zeigen vor allem die Erinnerungen an die Zeit im BDM, die im letzten Kapitel des Bandes in einigen eindrucksvollen Quellen Erwähnung finden. (S. 311ff.) Der „gute BDM“ im „bösen NS-Regime“ ist noch immer ein Topos, der in ehemaligen „Mädelkreisen“ den Blick auf die politische Rolle der nationalsozialistischen Jugenderziehung verstellt.

Insofern ist zu hoffen, dass die Dokumentation von Miller-Kipp dazu genutzt werden wird (anders als die etwa von Jutta Rüdiger publizierten rechtfertigenden Schriften und Quellenedition), eine kritische Auseinandersetzung mit dem BDM zu fördern und bei den noch lebenden Betroffenen ebenso wie bei der jetzt nachfragenden „dritten Generation“ für mehr Klarheit zu sorgen als dies bisher geschehen ist. Dass sich diese Form der Aufklärung nicht nur auf die „politische“ Dimension der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zu beziehen hat, sondern auch die Frage der weiblichen Identität mit einbeziehen muss, wenn es um den BDM geht, machen die Dokumente, die Miller-Kipp zusammen gestellt hat, überdeutlich: Das moderne Mädchenbild und das Bewusstsein der eigenen Tüchtigkeit, an welche sich viele Apologetinnen des BDM heute noch mit Stolz erinnern, ist nicht ohne das komplementär dazu existierende konservative Frauenbild und die Bindung jeglicher weiblicher Pflichterfüllung an den völkischen Staat denkbar gewesen: „Auch Du gehörst dem Führer.“ (Vgl. S. 12)

Aufgrund dieser Bedeutung des Buches wäre ihm eine optisch ansprechendere Präsentation zu wünschen gewesen. Im üblichen „Juventa-Look“ wird es vermutlich wiederum nur das Fachpublikum ansprechen – und nicht auch die Laien, die sich die Herausgeberin als Leserinnen und Leser gewünscht hat.

URN urn:nbn:de:0114-qn032186

Prof. Dr. Sabine Hering

Universität Siegen, Fachbereich Erziehungswissenschaft/Psychologie, Bereich Sozialpädagogik und Frauenforschung

E-Mail: Hering@paedagogik.uni-siegen.de

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