Solide Handwerksarbeit als Vorlage für Frauen- und Geschlechterforschung

Rezension von Ilona Scheidle

o.A.:

Nachlaßverzeichnis Dr. Marie Baum.

Ein Leben in sozialer Verantwortung.

Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 2000.

430 Seiten, ISBN 3–8253–1133–3, € 36,00

Abstract: Die Universitätsbibliothek Heidelberg veröffentlichte das „Nachlaßverzeichnis Dr. Marie Baum“ (1874–1964), Ehrenbürgerin der alma mater. Das Repertorium dokumentiert die Zeugnisse ihres Lebens: als Pionierin der modernen Sozialarbeit, Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung, Abgeordnete der Nationalversammlung und des Reichstages, als Wissenschaftlerin, Politikerin, Publizistin und als Ricarda Huchs Freundin. Das Findbuch ist ein Katalog zum Identifizieren und zum Auffinden einzelner Dokumente und zugleich ein Beitrag zur Biographie der Nachlaßgeberin .

Konzeption des Nachlassverzeichnisses

„Im Idealfall“ (S. 11) dokumentieren Nachlässe die Lebensstationen der Verstorbenen. Im genannten Verzeichnis ist dies so. Schließlich stand der testamentarisch verfügte ‚echte Nachlass‘ Dr. Baums von 1964 zur Verfügung, der ihren Werdegang als professionelle Wissenschaftlerin und Publizistin belegt, sowie später erworbenes Material von Freundinnen und Verwandten, das ihre privaten Verhältnisse und Netzwerke dokumentieren.

Die Studie wird von dem Aufsatz „Der Nachlaß Marie Baums als Spiegel eines Lebens in sozialer Verantwortung“ eingeleitet, dem das Findbuch folgt. Es verzeichnet 1684 Datensätze in systematischer Gliederung: Persönliche Briefe, Manuskripte, eigene Werke und Material zu deren Herausgabe, Sammlungen, Fotografien/Bilder, Druckwerke Ricarda Huchs. Wegen der Bedeutung der einzelnen Schriftstücke wurde das Prinzip der Einzelblattverzeichnung angewandt und jedes Dokument mit Sachbetreff, Ort, Datum, Umfang, Art der Vorlage und evtl. Besonderheiten beschrieben. Umfangreiche Bibliographien, ein Orts-, Personen- und Sachregister sowie die Signatur-Katalognummer-Konkordanz runden das Nachschlagewerk ab.

Ein valides Repertorium zum Nutzen und „Spinstern“(Daily)

Die Arbeit führt die Heidelberger historische Handwerkertradition von Brandts weiter und ist ein solides Nachschlagewerk. In diesem Sinne sind die Dokumentenbeschreibungen überaus informativ. Gleichwohl impliziert dieses Vorgehen das Problem, bestehende Wissensasymmetrien und patriarchal positionierte Wertigkeiten über Frauen und Männer fortzuschreiben. So pflegen die Kurzinformationen zu den KorrespondentInnen eine agnatische oder konnubiale Wissenstradierung: Dr. Elisabet von Harnack wird beispielsweise zuerst als „Tochter des Theologen Adolf von Harnack“ vorgestellt und dann als „Referentin beim Senator für Arbeit und Sozialwesen in Berlin“, wie es der Briefwechsel von 1954 einfordert (S. 252). Ein analoges Muster weist der Referenzrahmen für das Register auf, beispielsweise fehlende Schlagworte –wie „Prostitution“, „Sexualitätsdebatte“. Davon unabhängig kann das erfasste Material mit Wissen und Innovationsgeist hervorragend für eine feministisch positionierte Forschung genutzt werden, zumal die genannten Signaturen der Universitätsbibliothek benutzer/-innenfreundlich dazu einladen.

Geschichte ohne die Kategorie Geschlecht

Die Lebensbeschreibung ist „nachlassnah“. Auf die grundlegende Forschung von Heide-Marie Lauterer („Weil ich von dem Einsatz meiner Kräfte die Überwindung der Schwierigkeiten erhoffte.“ Marie Baum (1874 – 1964). In: Frauengestalten, hg. von Peter Blum, Heidelberg 1995) wird zwar verwiesen, deren frauen- und geschlechtergeschichtlichen Ergebnisse werden jedoch kaum verarbeitet.

Problematisch ist beispielsweise die ungebrochene und „genderneutrale“ Aktualisierung von Demutsformeln aus Nekrologen: „Besonders hob man auch ihre […] Persönlichkeit und ihre Bescheidenheit hervor“ (S. 42). Ob der badische Innenminister Remmele die Bescheidenheit 1926 bestätigt hätte, als Baum in Konsequenz von diskriminierenden Umstrukturierungsmaßnahmen ihr Abschiedsgesuch als eine der ranghöchsten Beamtinnen der Weimarer Republik einreichte, bleibt zweifelhaft. Die vorausgegangene „persönliche Degradierung“ (S. 28) war für Baum, Jellinek, Weber und andere namhafte Solidaritätsbekunder/-innen geschlechtlich und nicht persönlich situiert. Dies belegt der verzeichnete Kampf um die explizit weibliche Nachfolge, dessen strategische Komponenten herauszuarbeiten für die politische Geschichte spannend und lohnend erscheint.

Die Grenzen phänomenologischen Arbeitens zeigt der lebensgeschichtliche Aufsatz beim Darstellen von Baums „zwiespältige[r] Auffassung von Gleichberechtigung“ (S. 25). Marie Baum konnte, typisch für ihr Milieu, Frauenerwerbsarbeit einfordern, indem sie Anträge gegen die wirtschaftliche Demobilmachung von Frauen nach dem Ersten Weltkrieg im Parlament vorlegte, und gleichzeitig konnte sie die Bedeutung von Familie für das Staatsgeschehen hervorheben eben weil sie den Diskurs um weibliche Pflichtrekrutierung nutzte. Ergebnisse der Frauen- und Geschlechtergeschichte bieten hier Deutungsangebote und fördern das Sinnverständnis für das bürgerlich-liberale „Einerseits und Andererseits“ on Weimarer Politikerinnen.

Ein Leben in „sozialer“ Verantwortung?

Warum der Nachlass das Leben einer Frau dokumentiert, die „das ihr zuteil gewordene Privileg einer wissenschaftlichen Ausbildung in den Dienst der sozialen Verantwortung stellte“ (S. 13) bleibt unbegründet. Es wäre zu fragen, ob das Etikett „soziale Verantwortung“ nicht voreilig ist und die Biographie um relevante Dimensionen reduziert.

Baum war zeitlebens in der feministischen Bewegung aktiv: politisch, wissenschaftlich, christlich und sozial. Exemplarisch genannt seien folgende Lebensstationen: 1896 zweite Vorsitzende des Studentinnen-Vereins „Zürich“, badische Fabrikinspektorin, Geschäftsführerin des Düsseldorfer Vereins für Säuglingsfürsorge, Leiterin der Sozialen Frauenschule und des Sozialpädagogischen Instituts in Hamburg, Mitglied im BDF-Vorstand, DDP-Abgeordnete in der Nationalversammlung und im Reichstag, Lehrbeauftragte am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften der Universität Heidelberg, Gründerin der Heidelberger CSU [sic]. Der Nachlass mit detaillierten Belegen ihrer Vorlesungen und Vorträge, ihrer Netzwerke und FreundInnenkreise, sowie ihrer geistigen Vielseitigkeit zeigt mehr als der Titel „Leben in sozialer Verantwortung“ impliziert.

Die Arbeit bereichert das Wissen von „Listen“ über Frauen, also die detailierten Kenntnisse über das was, wo und mit wem Frauen was taten. Sie lässt Forschungen erwarten, die Baums Beitrag als Theoretikerin der Frauenbewegung während zentraler Jahre der staatswissenschaftlichen Lehre herausarbeiten, ihren Handlungsräume als Politikerin und ihren Erfolgs- und Misserfolgsstrategien nachspüren. Sie „bietet die Grundlage für eine umfassende Rekonstruktion des Lebens und Wirkens einer außergewöhnlichen Frau und dürfte […] Anlaß für weiterführende wissenschaftliche Arbeiten verschiedenster Fachrichtungen sein“ (S. 1), wie es der Direktor der Universitätsbibliothek Heidelberg in seinem Geleitwort formulierte.

URN urn:nbn:de:0114-qn032212

Ilona Scheidle, M.A.

Mannheim, Historikerin

E-Mail: ilonascheidle@web.de

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