Literatur als Ort der gender-Konstitution

Rezension von Hildegard Kernmayer

Virginia Richter:

Gewaltsame Lektüren.

Gender-Konstitution und Geschlechterkonflikt in Clarissa, Les Liaisons dangereuses und Les Infortunes de la vertu.

München: Fink 2000.

217 Seiten, ISBN 3–7705–3467–0, € 30,60

Abstract: Als literarisches Leitmedium und als zentrale „technology of gender“ trägt der Roman im 18. Jahrhundert entscheidend zur Ausbildung und Vermittlung von Geschlechterkonzeptionen bei. Dass die Herstellung vermeintlich konsistenter Geschlechtsidentitäten im literarischen Text dabei jeweils mit der Entautorisierung der weiblichen Figuren, ihrer Degradierung zu Objekten der Erkenntnis, der Lust, der Gewalt, schließlich ihrer Tötung einhergeht, weist Virginia Richter in ihren „gender“-sensiblen Lektüren dreier Romane jener bezüglich der Geschlechterdefinition als krisenhaft zu bezeichnenden Epoche nach.

Die sozio-ökonomischen Umwälzungen, die sich in den europäischen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts vollziehen, bedingen nicht nur eine Neuverhandlung des Gesellschaftsvertrages, sondern auch eine Neuordnung des Geschlechterverhältnisses. Vor allem dem Roman als epochendominanter literarischer Gattung und als Ort bürgerlicher Ideologiebildung und bürgerlichen Ideologietransfers kommt im Prozess der Neukonstitution von „gender“ eminente Bedeutung zu. Dass dabei das Schreiben vor allem bürgerlicher Autoren nicht auf die „bürgerliche Verbesserung“ der sozio-ökonomischen Situation von Frauen fokussiert, wie sie ja in den sozialpolitischen Traktaten der Aufklärung mitunter noch gefordert wird, ist auffällig. Der literarische Diskurs engagiert sich vielmehr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Etablierung jenes neuen Bildes von „Weiblichkeit“, das sich harmonisch in die zu realisierenden bürgerlichen Hierarchie- und Identitätskonzepte einfügt.

Clarissa or the History of a Young Lady

In den Jahren 1747 und 1748 erscheint auch Samuel Richardsons Briefroman Clarissa und avanciert zu einem „der“ Schlüsselwerke bürgerlicher Empfindsamkeit. Die Geschichte von der schrittweisen Zerstörung der schönen, intelligenten und tugendhaften Bürgerstochter Clarissa Harlowe wird in ihrer pädagogisch-didaktischen Intentionalität und in ihrem anti-aristokratischen und anti-libertinen Impetus einem protestantischen Bürgertum zur Leiterzählung, die seinen sozialen und ökonomischen Aufstieg ideologisch stützt. Darüber hinaus begründen jedoch auch die formalästhetischen Qualitäten des Textes dessen anhaltenden Erfolg. Die komplexe formale Struktur des Briefromans, Polyperspektivität und Vielstimmigkeit, die neue Technik der Psychologisierung der Figuren sind es, die seine Bedeutung für die Entwicklung nicht nur der englischsprachigen Literatur ausmachen. Neben Rousseau, Gellert, Lessing oder Goethe zählen vor allem Pierre Choderlos de Laclos und der Marquis de Sade zu den Rezipienten des Richardsonschen Romans.

Der Roman als Ort der „gender“-Konstitution

Den intertextuellen Bezügen zwischen Richardsons Clarissa, Laclos‘ Briefroman Les Liaisons dangereuses (1782) und de Sades philosophischer Erzählung Les Infortunes de la vertu (1787) geht auch die Münchner Literaturwissenschaftlerin Virginia Richter nach. Die Autorin begnügt sich in ihrer Studie allerdings nicht damit, einen in der Literaturgeschichtsschreibung hinlänglich dokumentierten Rezeptionsprozess noch einmal zu skizzieren. Sie stellt vielmehr die drei Texte in einen größeren kulturgeschichtlichen Zusammenhang und liest diese zum einen als Teil jenes Diskurses der Bürgerlichkeit, der sich angesichts der elementaren Krisen des feudal-aristokratischen Gesellschaftssystems als Gegendiskurs zu etablieren sucht, zum anderen jedoch auch als Vorboten einer literarisch-künstlerischen Moderne, die die theoretischen und politischen Konzepte der rationalistisch-aufklärerischen Moderne ihrerseits kritisch unterläuft. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht dabei jene „Neuordnung des Geschlechterdiskurses“ (S. 9), die mit der gesellschaftlichen Neuordnung einhergeht und die im Roman – jenem „Vehikel der didaktischen Absichten der europäischen Empfindsamkeits-Bewegung“ (S. 24) – ihren Ausdruck findet. Den diskurstheoretisch argumentierenden „gender“-Theorien etwa Judith Butlers, Joan Wallach Scotts und vor allem Teresa de Lauretis‘ verpflichtet und in Abgrenzung von den „gender“-Konzepten der siebziger und frühen achtziger Jahre, begreift die Autorin „gender“ weder als „soziale Ausformung des biologischen Geschlechts“ (S. 14) noch als originären Besitz des Menschen, sondern einzig als Effekt kultureller Diskurse. „Gender“ sei in diesem Sinne auch nicht nur „auf der Ebene der Repräsentation anzusiedeln“ (S. 23), sondern die Repräsentation von Geschlechtsidentität selbst sei mit deren Konstruktion gleichzusetzen. Repräsentation erzeuge also das, was sie darstelle. Die Konstruktion von „gender“ wiederum präsentiere sich als „ein fortwährender, unabschließbarer Prozess“ (S. 23), und sogar dessen Dekonstruktion sei als Teil des Konstruktionsprozesses zu bewerten. Jene Diskurse, die vor allem Geschlechtsidentität erzeugten – Richter nennt institutionalisierte Diskurse (etwa die Medizin) ebenso wie soziale und kulturelle Technologien (etwa den Film) oder Alltagspraktiken (etwa Formen des Zusammenlebens) – bezeichnet die Autorin in Anlehnung an Michel Foucault und Teresa de Lauretis als „technologies of gender“ (S. 22).

Im 18. Jahrhundert figuriert die epochendominante literarische Gattung Roman als „die“ wesentliche „gender“-Technologie und als „spezifischer Ort der ‚gender‘-Konstitution“ (S. 90f.). Vor allem die drei untersuchten Romane, die Virginia Richter hinsichtlich der Konstitution von „gender“ als Schlüsseltexte bewertet (S. 11), machen den Prozess der Herstellung konsistenter Geschlechtsidentitäten und im besonderen der Herstellung des Idealbildes der bürgerlichen Frau lesbar. Dieser vollziehe sich – so die zentrale Erkenntnis Virginia Richters – immer in Akten der Gewaltausübung, in deren Verlauf jegliche Selbstentwürfe der Protagonistinnen, all ihre Versuche, sich innerhalb eines antagonistisch konzipierten Geschlechterverhältnisses als das Eine zu setzen, männlichen Autoritätsansprüchen weichen müssen. Die Entautorisierung der weiblichen Romanfiguren, ihre Degradierung „zu Objekten der Erkenntnis, der Lust und der Gewalt“ (S. 203), endet in den Texten tatsächlich jeweils mit dem Verstummen der weiblichen Erzählstimmen, schließlich mit dem Tod der Protagonistinnen. Dass Geschlechtsidentität dabei jedoch nicht zwangsläufig als ontologische Größe, sondern vielmehr als Ergebnis performativer Akte (S. 92) gefasst wird, machen Virginia Richters formalanalytische Lektüren besonders Clarissas und der Liaisons dangereuses deutlich: Gerade die Form des polyperspektivischen Briefromans relativiere nämlich die Konzepte konsistenter Identitäten und betone die Instabilität der binären Konstruktion. So würden in Clarissa vor allem die formalen Möglichkeiten des Briefromans – „Darstellung der Figurenpsychologie ‚von innen‘, Perspektivenwechsel, ein vermeintlich distanzloses, unvermitteltes Erzählen“ (S. 90) – die semantische Polyvalenz der „gender“-Konzepte unterstreichen. Die Radikalisierung der epistolären Form in den Liaisons dangereuses erlaube dem Autor gar, „den ‚Zitatcharakter‘ jeglicher ‚gender‘-Gesten“ (S. 135) vorzuführen.

Gewalt im Text

Besonderes Augenmerk gilt in Virginia Richters Studie jedoch jenen Prozessen der Gewaltausübung, die mit der Herstellung konsistenter Identitäten einhergehen. Diese erfahren freilich – wenn auch innerhalb der immer gleichen thematischen Konstellation vorgeführt (eine empfindsame und tugendhafte Frau wird durch Verführung und Vergewaltigung auf die Probe gestellt) – angesichts der unterschiedlichen Entstehungszeiten und Entstehungskontexte der Romane unterschiedliche erzählstrategische Ausformungen. Während sich nämlich Richardsons Clarissa noch als Teil eines pädagogischen Projekts präsentiert, welches vordergründig „die Entbrutalisierung, Bildung und Verfeinerung speziell des männlichen sittlichen Verhaltens“ (S. 25) zum Ziel hat, dieses aber schließlich über den Umweg der „Moralisierung der Frau“ (S. 25) zu erreichen sucht, verzichten Laclos und Sade – beide letztlich den philosophischen Paradigmata des Materialismus und Pessimismus verpflichtet – weitgehend auf den Entwurf normativer Modelle. Dementsprechend kann Richardson Vergewaltigung und Tod seiner weiblichen Hauptfigur auch noch als einen „unverzichtbaren Teil des religiösen und didaktischen Projekts“ (S. 201), dem er anhängt, ausweisen und ihnen „im christlichen Signifikationssystem des Romans“ (S. 201) ihren Ort und Sinn zuweisen. Dass jedoch mit der Überführung des weiblichen Lebensplanes „in eine Passions- und Erlösungsgeschichte“ (S. 201) gleichzeitig die gewaltsame Zerstörung dieses Lebensplanes verdeckt wird, hat Virginia Richter eindrucksvoll nachgewiesen.

Die Praxis der Verschleierung ist auch noch in Laclos‘ Liaisons dangereuses wirksam. Wenn auch der Text, der trotz seiner Kritik am Konzept der Libertinage der libertinen Denkfigur verhaftet bleibt, kein metaphysisches oder moralisches Sinnangebot bereithält, das die Gewalt gegen die weiblichen Figuren erklären würde, so lässt in diesem Fall die ästhetische „Vollendung“ des Textes den Gewaltakt nahezu unkenntlich werden. Das Sichtbar-Machen von Gewalt erhebt dagegen de Sade in seinen Infortunes de la vertu zum erzählerischen Prinzip. Wie Virginia Richter zeigt, inszeniert der Autor „einen totalitären Raum, in dem sich Opfer und Täter auf ihre Funktionen reduziert gegenüberstehen“ (S. 202). Auf eine Verschleierung oder moralische Rechtfertigung der Gewaltakte wird hier jedoch völlig verzichtet. Beim Anblick der verstümmelten Leiche der Protagonistin Justine wird vielmehr das Ende jeglicher moralischer Bedeutung des Geschehens erkennbar. Das Arrangement der verstümmelten Leiche Justines und der „schönen Leichen“ Clarissas und der Présidente de Tourvel aus den Liaisons dangereuses, das Virginia Richter in ihren komparatistischen Analysen gestaltet, verdeutlicht indes mehr als lediglich das den Konzepten der Libertinage inhärente Gewaltpotential. Richters „gender“-sensible und vergleichende Lektüren der drei Romane erhellen vor allem die Kontinuität in den misogynen Gewaltdarstellungen der Literatur einer Epoche, die bezüglich der Geschlechterdefinition als „krisenhaft“ bezeichnet werden kann. Wenn auch erst bei de Sade sichtbar, so ist Gewalt „der ‚master narrative‘“ von der empfindsamen, gemarterten Frau inhärent.

Virginia Richters Studie beeindruckt in mehrerlei Hinsicht. Zum einen tragen die detailgenauen literaturwissenschaftlichen Analysen wesentlich zur Erhellung der mitunter komplexen Strukturen der drei Romane bei. Zum anderen ist der Autorin mit der Untersuchung der Texte als Orte der „gender“-Konstitution der Versuch geglückt, Konzepte feministischer Theorie an den konkreten literarischen Text rückzubinden und die Operationalisierbarkeit des bisweilen abstrakt anmutenden Instrumentariums vor allem poststrukturalistisch argumentierender feministischer Theorie für eine feministisch verfahrende Literaturwissenschaft zu belegen. Als diskursanalytisches Unternehmen vermag sich die Arbeit – auch wenn sie sich auf die Lektüre dreier Texte „beschränkt“ – durchaus produktiv in das übergeordnete „Projekt einer dekonstruktiven und rekonstruktiven Bewertung der westlichen Kulturgeschichte“ (S. 207) einzuschreiben.

URN urn:nbn:de:0114-qn033025

Dr. Hildegard Kernmayer

Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik, derzeit Charlotte-Bühler-Stipendiatin des FWF Universität Graz, Österreich

E-Mail: hildegard.kernmayer@kfunigraz.ac.at

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