Frauen in der DDR-Opposition

Rezension von Brigitte Geißel

Ingrid Miethe:

Frauen in der DDR-Opposition.

Lebens- und kollektivgeschichtliche Verläufe in einer Frauenfriedensgruppe.

Opladen: Verlag Leske + Budrich 1999.

299 Seiten, ISBN 3–8100–2495–3, DM 58,00 / SFr 52,50 / ÖS 423,00

Abstract: Die Autorin untersucht kenntnisreich sowie methodisch und theoretisch innovativ die Entstehung einer Frauenfriedensgruppe und leitet aus den Ergebnissen anregende Implikationen für die Bewegungsforschung ab.

Ingrid Miethe untersucht in ihrer spannenden Studie über Frauen in der DDR-Opposition ein Forschungsfeld, das bislang kaum wissenschaftlich bearbeitet wurde. Besonders ihr in der Bewegungsforschung innovativer methodischer Zugang ermöglicht neue und zukunftsweisende Ergebnisse. Im Zentrum stehen Frauen einer ostdeutschen „Frauen für den Frieden“-Gruppe, die Ingrid Miethe lebens- und familiengeschichtlich interviewte.

Fragestellung

Ausgangspunkt sind folgende Fragestellungen: Wie kommt es dazu, daß Frauen sich in einer Gruppe zusammenschließen, gemeinsam politisch handeln und sogenannte soziale Bewegungen konstituieren und in anderen Situationen wieder individuelle Wege einschlagen, sich politisch zurückziehen oder nur noch punktuell zusammenfinden?

Theoretischer und methodischer Rahmen

Auf der Basis einer kritischen und kenntnisreichen Analyse des Forschungsstandes (über ostdeutsche Bürgerbewegungen) – verbunden mit dem Aufzeigen zentraler Forschungslücken – kommt sie zu dem Ergebnis, daß ihre Fragestellungen am besten mit Hilfe „genetisch begründeter Biographieanalysen“ (S. 49) zu bearbeiten sind. Das entsprechende Forschungsdesign, eine Form der qualitativen Sozialforschung, stellt sie ausführlich vor und erläutert gut nachvollziehbar die Etappen des Forschungsprozesses. Auch der historisch-gesellschaftspolitische Kontext wird nicht vernachlässigt, wenngleich die Auswahl der Themen (nur auf den ersten Blick) etwas unsystematisch erscheint. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Einzelfallanalysen, d.h. sie rekonstruiert zur Beantwortung ihrer Fragestellungen detailliert die Lebens- und Familiengeschichten von drei Frauen als hermeneutische Fallrekonstruktionen und wertet die übrigen Interviews globalanalytisch aus, zum Teil unter persönlich-reflektierenden Gesichtspunkten. Aufgrund des hohen Innovationsgehalts dieser Kapitel werde ich mich im folgenden vor allem auf diese beschränken.

Empirische Ergebnisse

Spannend ist zum einen das Ergebnis, daß die politisch Aktiven der DDR-Bewegung derselben Generation angehören wie jene der bundesrepublikanischen 68er Bewegung. Bei beiden Gruppen war die Bearbeitung des Generationenkonflikts mit der im Nationalsozialismus involvierten Elterngeneration zentral. Zum anderen zeigen ihre Interviews, daß viele der politisch aktiven Frauen Gewalterfahrungen in ihren Herkunftsfamilien erlebt haben. Dementsprechend arbeitet sie die folgenden Typen heraus: Beim ersten Typus, der m.E. am stringentesten ausgewertet wurde, war die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte im Nationalsozialismus und die familiale Widerstands- und Opfertradition die entscheidende Motivation. Politische Biographie und Familiengeschichte sind bei diesem Typus untrennbar miteinander verwoben. Dessen Handeln wird erst verständlich im Kontext des Familienauftrags im Zuge der familialen Widerstandsgeschichte. Dieser Typus zog sich nach der Wende aus dem politischen Leben zurück, denn „der politische Familienauftrag ist mit dem Ende der DDR ebenfalls an ein Ende gekommen“ (S. 159). Beim zweiten Typus wurde das politische Engagement initiiert durch die Auseinandersetzung mit dem Erleben von Repressionen in der SBZ/DDR. Politische Aktivität in einem langjährig stabilen Gruppenkontext stellte eine Möglichkeit dar, das „biographische Grundproblem der Angst“ zu lösen. Der (unbewußte) Grundtenor lautete: „Meine Angst und die Überwindung der Angst durch politische Aktivität in der Gruppe.“ (S. 195) Dieser Typus blieb auch nach der Wende politisch aktiv. Für den dritten Typus wiederum stellt die politische Aktivität eine Auseinandersetzung mit familialer Gewalt dar. Politische Aktivität war „nicht direkt an das DDR-System gebunden“ (S. 230), vielmehr war sie gespeist durch die Erfahrungen emotionaler wie körperlicher Gewalt in der Herkunftsfamilie. Die politische Aktivität wurde somit kaum durch die Wende beeinflußt, sondern kontinuierlich weitergeführt. Der anschließende kontrastive Vergleich und die theoretischen Verallgemeinerungen stellen die Rückbindung der Ergebnisse an den vorgestellten theoretischen Rahmen, vor allem an das „framing-Konzept“, dar. Aufschlußreich ist dabei die Verortung politischer Aktivität im Kontext von Familiengeschichte sowie die These der „89er als 68er des Ostens“.

Zusammenfassende Bewertung

Für Sozialwissenschaftlerinnen/Sozialwissenschaftler und andere Interessierte ist die Studie von Ingrid Miethe unverzichtbar. Für die Bewegungsforschung könnten die theoretischen Implikationen zukunftsweisend sein, denn sie zeigen die Notwendigkeit sowie wissenschaftliche Fruchtbarkeit der Verknüpfung makrostruktureller und sozialpsychologischer Perspektiven auf und können somit zu einem besseren Verständnis der Entstehung und Entwicklung sozialer Bewegungen beitragen.

URN urn:nbn:de:0114-qn011092

Dr. Brigitte Geißel

Institut für Sozialwissenschaften – Politikwissenschaft, Technische Universität Berlin

E-Mail: geis0731@mailszrz.zrz.tu-berlin.de

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