Hans Richard Brittnacher:
Erschöpfung und Gewalt.
Opferphantasien in der Literatur des Fin de Siècle.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2001.
372 Seiten, ISBN 3–412–08001–2, € 39,90
Abstract: Die Ritualisierung der Gewalt in der Figur des Opfers bildet ein entscheidendes ästhetisches Verfahren in der Literatur des Fin de Siècle. Das Buch analysiert die Bedeutung des Opfermotivs in Werken von Hofmannsthal, Rilke, Borchardt, Flaubert, Wilde, George und D’Annunzio. Es gelingt dem Verfasser, eindrucksvoll zu belegen, dass die Ideologie des Opfers eng mit einem gender-spezifischen Machtgefüge zusammenhängt, in dessen Kontext eine verunsicherte Männlichkeit Wege nach einer erneuten Stabilisierung von Identität sucht.
1970 stellte Hannah Arendt nicht ohne Erstaunen fest, dass die Frage der Gewalt, trotz ihrer überwältigenden Rolle in der Geschichte der Menschheit, immer nur wenig spezifische Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Trotz verschiedenartiger Ansätze, zumal in der Anthropologie, in der Politikwissenschaft und in der Soziologie, hat diese Feststellung bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Dies stimmt erst recht im Bereich der Literatur- und Kulturtheorie – ein Blick in einschlägige Lexika, selbst solche, die wie bspw. das Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie eine kulturwissenschaftliche Orientierung für sich beanspruchen dürfen, zeigt, dass das Stichwort „Gewalt“ allenthalben fehlt und somit als analytischer Begriff anscheinend keine eigenständige Anerkennung findet.
Dies verwundert umso mehr, als die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts genügend Beispiele für die analytische Brisanz jenes Begriffs aufweist. Dass der Prozess der Zivilisation das Gewaltpotential nicht aufgehoben, sondern bloß verlagert hat, dürfte inzwischen fast zum Gemeinplatz geworden sein. Das Provozierende dieser Erkenntnis liegt darin, dass Gewalt nicht als Anomie, als gelegentlicher Ausbruch einer barbarischen Disposition, sondern als gesellschaftlich strukturierendes Element, als Bestandteil von Kultur, aufgefasst werden muss. In der entzauberten Welt der Moderne geht der Verlust einer transzendentalen Begründung mit der Setzung von Gewalt als Mittel zur Reorganisierung von Erfahrung einher. Die Frage ist demnach nicht bloß, wie Gewalt darzustellen sei, sondern auch, in welcher Art und Weise Gewalt die Ordnung der Repräsentation selbst in Frage stellt und umwälzt.
Für die Literaturtheorie bedeutet dies, dass sie Gewalt nicht nur als Thema, sondern als Element der ästhetischen Komposition, als Bestandteil einer diskursiven Strategie, auffassen muss. Anders ausgedrückt, die Frage nach der ästhetischen Funktion von Gewalt stellt sich unausweichlich.
Eine der für diese Fragestellung ergiebigsten Konstellationen ist ohne Zweifel das Fin de Siècle. Dass es an einschlägigen, zusammenhängenden Untersuchungen mangelt, ist somit nicht leicht zu erklären. Die vorliegende Arbeit Hans Richard Brittnachers ( eine im Jahr 2000 der Freien Universität Berlin vorgelegte Habilitationsschrift ( trägt eindrucksvoll dazu bei, diese Lücke zu schließen. Obwohl einzelne Kapitel schon erschienen waren, bildet das Buch ein einheitliches Ganzes, das in Grundzügen eine kleine Kulturgeschichte des Fin de Siècle unter dem Blickpunkt der ästhetischen Funktionalisierung von Gewalt darstellt.
Die Grundthese der Arbeit ist, dass im Fin de Siècle Gewalt zum bevorzugten ästhetischen Mittel als Lösung für einen ambivalenten Zustand der Erschöpfung und der Orientierungskrise wurde.
Die Grundfigur für die ästhetische Kodierung von Gewalt ist die des Opfers. Opferphantasien als Figuren der Ritualisierung von Gewalt bilden dementsprechend ein wesentliches Verfahren in der Literatur des Fin de Siècle. Das Buch geht von dieser zentralen These aus und versucht sie an konkreten Beispielen systematisch zu erhärten. Eine allgemeine Einführung über „Erschöpfung und Gewalt ( Signaturen des Fin de Siècle“ zeichnet in Grundrissen die kulturästhetische Situation der Jahrhundertwende unter dem Blickpunkt der Ideologie des Opfers nach und leitet in den Hauptteil des Buches über. In diesem Hauptteil wird die Grundfigur des Opfers in drei wesentlichen Ausprägungen anhand von Werken von Hofmannsthal, Rilke, Borchardt, Flaubert, Wilde, George und D’Annunzio untersucht
Teil I – Selbstopfer. Die Tradition des Alkestisstoffes; Teil II – Männeropfer. Tänzerinnen, Täterinnen, Femmes fatales; Teil III – Frauenopfer. Lebemänner, Dandys und Übermenschen. Diese drei Teile sind eng ineinander verschränkt, verfolgen sie doch verwandte Variationen desselben zentralen Motivs; zugleich jedoch zeigen sie in anschaulicher Weise die ganze Breite des Opfermotivs und das jeweils Spezifische von seinen verschiedenen Ausprägungen.
Unter der gewählten Perspektive der Ästhetisierung von Gewalt gelingt es dem Verfasser, neues Licht auf zentrale Autoren und Werke der Jahrhundertwende zu werfen, wobei akribische Werkanalyse und kulturwissenschaftliche Problematisierung wirkungsvoll kombiniert werden. Vom Anfang an wird die Kategorie der Ambivalenz als bestimmendes Merkmal des Fin de Siècle herausgestellt. Die Dominanz der Gewalt im ästhetischen System der Jahrhundertwende wird anhand dieser Kategorie beispielhaft abgehandelt: Gewalt als Bestandteil eines ästhetischen Spiels, das Wege der Aussöhnung mit einer drohenden Modernität sucht, zugleich aber auch als Faszinosum für ein elitäres Bewusstsein, das sich in morbider Endzeitstimmung weidet und in einem remythisierten Opferbegriff sein Heil erblickt.
Die Untersuchung beschränkt sich nicht auf den germanistischen Raum, sondern verfährt durchaus komparatistisch, indem Werken von Flaubert, Wilde und d’Annunzio eigene Kapitel gewidmet werden. Darüber hinaus wird auch den bildenden Künsten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Dutzend schwarzweiße Abbildungen bieten allerdings keine besonders reichhaltige Dokumentation.
Vor allem am Modell des Selbstopfers gelingt es Hans Richard Brittnacher, in besonders eindringlicher Weise nachzuweisen, wie die Figur des Opfers das Muster einer sozialen und privaten Krisenbewältigung darstellt, die sich auf ein implizites, gender-spezifisches Machtgefüge gründet.
Dieser erster Teil des Buches untersucht eingehend drei moderne Bearbeitungen des Alkestis-Stoffes ( als Drama (Hugo von Hofmannsthal), als lyrisches Gedicht (Rainer Maria Rilke) und als kulturpolitisches Essay (Rudolf Borchardt). Es wird überzeugend gezeigt, wie die Distanz und ironische Brechung der euripideischen Vorlage im Fin de Siècle von einer Strategie der Remythisierung verdrängt wird, die die Rolle der Frau als eine untergeordnete festsetzt. „Im Sog des Opferdenkens“ (S. 66) wird bei Hofmannsthal „der brutale Sachverhalt eines stellvertretenden Menschenopfers in die poetische Distanz entrückt“ (S. 80). Im Gedicht Rilkes existiert Alkestis „nur im Modus der Uneigentlichkeit, als Bedingung für das Werden von anderen“ (S. 92). Bei Rudolf Borchardt schließlich findet das Selbstopfer der Frau im Zusammenhang von eindeutigen Herrschaftsbeziehungen statt: „die Metaphorik von Liebe und Hingabe“ beschreibt „den krassen Vorgang der Tötung eines Menschen zum Wohl der Gemeinschaft“ (S. 120).
In allen drei Fällen, wenn auch im Falle Borchardts berechtigterweise mit besonderer Vehemenz, lautet Brittnachers Befund ähnlich: die Ideologie des Opfers ästhetisiert einen Vorgang, der vom Primat der patriarchalen Macht Zeugnis ablegt und bei dem das konkrete Leiden der Frau als sich Opfernde hinter das Glück des überlebenden männlichen Herrschers und die Selbstvergewisserung einer zeitweilig in ihrer fragwürdigen Identität verunsicherten Gemeinschaft tritt.
Der zweite und der dritte Teil des Buches untersuchen die Motive von Männeropfer und Frauenopfer. Am Anfang steht eine glänzende Analyse der Verschränkung von archaischem und christlichem Opfermodell in der Elektra von Hofmannsthal, dem wohl radikalsten Beispiel einer Ästhetik der Brutalität im Fin de Siècle. Dem folgen drei Kapitel über Variationen des Salomé-Motivs bei Flaubert und Oscar Wilde und in der bildenden Kunst. Der dritte Teil schließlich widmet sich anfänglich Stefan Georges Algabal als „lyrische[r] Phänomenologie der Gewalt“ (S. 273); ein ertragreiches Kapitel über „Die Kultur des Dandys“ leitet in die Analyse von Gabriele d’Annunzios Il piacere, den Schlussteil des Buches, über. Der Begriff der ritualisierten Gewalt in der Figur des Opfers bildet den roten Faden, der bei all der Detailliertheit der Einzelanalysen den größeren Zusammenhang und das allgemeine Erkenntnisinteresse des Buches nie aus den Augen verschwinden lässt. Am Ende, an der Figur des Dandys nachgezeichnet, bleibt das Bild der grundlegenden Ambivalenz einer Männlichkeit, die eine tief verunsicherte Identität durch ästhetische Surrogatrituale vergebens zu stabilisieren hofft.
Eine umfangreiche Bibliografie schließt das Werk ab. An dem Aufbau des Buches vermisst man allerdings einen Schlussteil, der die Ergebnisse der Untersuchung, wenn auch knapp, zusammenfassen würde. Auch ein Namensregister wäre eine höchst willkommene Ergänzung gewesen.
Die Rezension kann den vielen Anregungen, die aus diesem wichtigen Buch ausgehen, unmöglich gerecht werden. Es ist sehr zu wünschen, dass die Perspektive, die der reichhaltigen Untersuchung zugrunde liegt, systematisch weiterverfolgt und an anderen Beispielen erhärtet wird. In der gewiss nicht spärlichen Forschungsliteratur zum Fin de Siècle wird diese Arbeit auf jeden Fall sicher einen bleibenden Platz einnehmen.
URN urn:nbn:de:0114-qn033041
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