Vive la diversité!

Rezension von Doris Kolesch

Dirk Naguschewski/Sabine Schrader (Hg.):

Sehen Lesen Begehren.

Homosexualität in französischer Literatur und Kultur.

Berlin: edition tranvía 2001.

280 Seiten, ISBN 3–925867–54–6, € 21,50

Abstract: Der erste deutschsprachige Sammelband zu Homosexualität, Queerness und nicht-normativer Sexualität in der französischen Literatur- und Kulturgeschichte beleuchtet die verschiedenen Facetten dieses weiten Themenbereichs aus unterschiedlichen historischen und methodischen Perspektiven.

Sabine Schrader und Dirk Naguschewski haben einen verdienstvollen Sammelband vorgelegt, dessen Gegenstandsbereich weiter ist, als der Untertitel auf den ersten Blick vermuten lässt: Homosexualität in französischer Literatur und Kultur, darunter verstehen die Herausgeber/-innen, wie sie in ihrer materialreichen und äußerst lesenswerten Einleitung betonen, nicht nur „gleichgeschlechtliches Begehren“, sondern auch „Phänomene wie Hermaphroditismus, Androgynie oder Bisexualität“ (S. 8). Homosexualität wird in Sehen Lesen Begehren mithin als Chiffre für ein geschlechtliches Begehren verstanden, das sich den Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Denkmustern einer normativen Heterosexualität widersetzt und dessen durchaus prekäre, ebenso vielschichtige wie unklare Beziehung zum Lesen und Schreiben, zu Poetik und Ästhetik die Herausgeber/-innen explizit thematisieren. Nicht nur scheint der aus dem psycho-medizinischen Diskurs stammende Begriff „Homosexualität“ in ungleicher Weise männliche wie weibliche Lebensentwürfe und Erfahrungen zu repräsentieren. „Problematisch ist auch die prinzipielle Frage nach der Beziehung von Homosexualität und Literatur. Meint sie eine biographische Annäherung, die Ebene der ‚histoire‘, die des ‚discours‘ oder die des Erwartungshorizonts? Eine monokausale Beziehung zwischen der sexuellen Neigung – so sie denn bekannt ist – eines Autors oder einer Autorin und ihren Texten herzustellen, ist zweifelsohne naiv. Ebenso naiv wäre es aber, jegliche Form von Wirkkraft komplett zu verneinen.“ (S. 9)

Offener könnten die Chancen wie auch die Unsicherheiten des eigenen Unterfangens kaum dargestellt werden. Vor dem Hintergrund eines knappen, präzisen literaturhistorischen Überblicks der Herausgeber/-innen zu weiblicher und männlicher Homosexualität in der französischen Literatur insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts (hier wurde der weitergehende kulturelle Aspekt leider etwas aus den Augen verloren), gruppieren sich die Beiträge des Sammelbands unter den Überschriften „Historisch sehen“ – „Queer lesen“ – „Lesbisch begehren“ – „Schwul leben“.

Historisch sehen

Die historische Dimension des Themas entfaltet Bilder lesbischer Sexualität im 18. Jahrhundert am Beispiel von Denis Diderots 1796 posthum veröffentlichter La religieuse und den zeitgenössischen Pamphleten gegen die Königin Marie-Antoinette, deren angebliche „passion pour les femmes“ zu den beliebtesten Topoi der Angriffe gegen den französischen Hof gehörte. Galt in aufklärerisch-revolutionären Kreisen die vermeintlich lesbische Königin als Inbegriff der degenerierten Aristokratie, diente die Fiktion der lesbischen Nonne Diderot zur Denunziation des gesellschaftsunfähigen Klerus. Sabine Schrader arbeitet in ihrem Beitrag plausibel heraus, welche Funktion die fiktionalisierte Geständnispraxis und die Perspektive des Voyeurs, die den unterschiedlichen Texten gemeinsam ist, haben: Die „aveux“ von Diderots Suzanne wie auch der Marie-Antoinette der antihöfischen Pamphlete dienen ex negativo dem Entwurf einer neuen, antiaristokratischen und bürgerlichen Sexualität. Dabei fungiert der Voyeur als Kontrollinstanz, der das lesbische Begehren heterosexualisiert und damit erneut in den Raum des Bekannten und Erlaubten, Be-Greifbaren einschreibt.

Zwei weitere historische Beiträge untersuchen Androgynie und Hermaphroditismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Psychopathologie („Zwittrige Engel“ von Annette Runte) und die geschlechtsspezifischen wie ästhetischen Transgressionspotentiale der avantgardistischen Arbeiten Claude Cahuns („Que Salamacis surtout évite Salamacis! „ von Andrea Oberhuber). Obwohl Andrea Oberhubers Beitrag im Untertitel verspricht, Cahuns literarisch-photographische Verkörperungen des Anderen zu thematisieren, wird nur zwischen den Zeilen der Fußnoten erschließbar, wie schwierig bzw. teilweise unmöglich sich die Beschäftigung mit Claude Cahuns literarischen Schriften bis heute gestaltet, da eine Neuauflage ihrer literarischen Werke zwar in Vorbereitung, aber noch nicht abgeschlossen ist. Solche, mitunter marginal erscheinenden Beobachtungen und Erkenntnisse zählen insofern zu den spannendsten Aspekten der Lektüre von Sehen Lesen Begehren, da sie Fragen der materiellen Verfügbarkeit und Sichtbarkeit auf der Ebene des konkreten literaturwissenschaftlichen Gegenstandes stellen. Schade nur, dass die sich daraus ergebenden theoretischen und praktischen Implikationen nicht explizit thematisiert wurden.

Queer lesen

In der Sektion „Queer lesen“ werden Werke von Marcel Proust, François Mauriac und Michel Tournier dem schrägen Blick unterzogen. Volker Woltersdorff argumentiert in seinem Beitrag „Prousts queering“ überzeugend, dass es Proust – im Gegensatz beispielsweise zu Gide – nicht darum ging, die homosexuelle „Inversion“ in ein Normalitätsdispositiv zu überführen, sondern dass er ganz im Gegenteil eine „Homosexualisierung der modernen Erzählliteratur“ (S. 87) verfolgt. Die „Inversion“, jenen älteren Begriff, den Proust selbst dem jüngeren der Homosexualität vorgezogen hat, bezeichnet eine Amalgamierung von Sexualität, Erkenntnis und Sprache und ist gleichzeitig eine rhetorische Trope, die als Umwertung, Umkehrung vorhandener Codes und semantischer Oppositionen verstanden werden kann. Prousts ‚queere‘ Poetik inszeniert die Uneindeutigkeit, die Nicht-Festlegbarkeit und beständige Verschiebung seiner Erzählgegenstände auf der Ebene der Darstellung selbst. Daraus ergibt sich ein Kontinuum vieler, diverser (Homo-)Sexualitäten, das im Medium der Literatur eine vergleichbare Skepsis gegen ein selbst-transparentes, sagbares und „wahres“ Geschlecht formuliert und performativ vorführt, wie später die Theorien Foucaults und Butlers.

Die beiden weiteren ‚queeren‘ Lektüren von Dorothee Risse und Ralph J. Poole untersuchen Texte von Mauriac und Tourniers Robinsonade Vendredi ou les Limbes du Pacifique. Obgleich Homosexualität in den Romanen Mauriacs nicht explizit thematisiert wird, versucht Dorothee Risse, sie vermittels einer hermeneutischen Lektüre des begehrenden Blicks, der in den Texten in jeweils unterschiedlicher Weise auf die Portraits von Männern und Frauen geworfen wird, aufzuspüren. Unbefriedigend bleibt allerdings, dass der Beitrag keine Begriffsdifferenzierung zwischen homosexuell, homoerotisch und homosozial vornimmt und die von den Herausgeber/-innen eingangs erwähnte Gefahr nicht immer vermieden wird, eine naive und einfache Beziehung zwischen einer biographisch unterstellten sexuellen Neigung einerseits und dem literarischen Schreiben andererseits anzunehmen.

Hier ist Ralph J. Pooles Auseinandersetzung mit Tourniers Robinsonade präziser, insofern er Vendredi ou les Limbes du Pacifique weniger als schwulen Text deutet, sondern vielmehr als queeren Text, „dessen ‚queerness‘ sich im Gegeneinanderausspielen des ‚Perversen‘ und des ‚Normalen‘ auszeichnet.“ (S. 156) Doch Pooles interessante Bezugnahme auf neuere methodologische Ansätze aus den „queer“- und „post-colonial-studies“ gerinnt allzu oft zu einer Form von pseudo-theoretischem Jargon, dessen Erkenntnisleistungen fragwürdig sind und dessen hermetisches Diskursgeklingel offensichtlich die Lust der Leser/-in an der Lektüre unbedingt verhindern will.

Lesbisch begehren

„Lesbisch begehren“ untersucht den Zusammenhang von Erotik, Sexualität und Zensur bei Violette Leduc und unterzieht Texte von Hélène Cixous und der frankokanadischen Autorin Nicole Brossard einer genauen und umsichtigen Lektüre. Catherine Viollets Ausführungen zur Zensur der Werke Violette Leducs, die trotz massiver Fürsprache und Protektion durch Simone de Beauvoir 1954 von Gallimard nur verstümmelt publiziert wurden, zeigen das Potential der Verschränkung traditioneller literaturwissenschaftlicher Methoden und kulturkritischer Diskursanalyse. Viollets Analyse arbeitet den poetologischen Stellenwert lesbischen Begehrens für Leducs Schreiben heraus, ein Zusammenhang, der jedoch, wie die Betrachtung der unterschiedlichen Manuskriptfassungen belegt, durch massive Eingriffe von Selbstzensur und Verlagszensur den publizierten Texten wieder ausgetrieben wurde.

Esther von der Osten gelingt es in ihrer textnahen Entfaltung von Figuren weiblichen Begehrens bei Cixous, den vielschichtigen und subtilen Bewegungen der unablässigen Differenzierung auf einer poetologischen Ebene nachzuspüren.

Auch Susanne Dürrs Reflexionen über Erotik und Poetik am Beispiel von Nicole Brossards Gedicht Sous la langue. Under tongue überzeugen in der Verquickung biographischer, politischer und literarischer Aspekte und machen Brossards Lyrik als Arbeit der Umbesetzung männlich besetzter Sprache nachvollziehbar. Nur einige sprachliche Ungenauigkeiten, wie die Annahme einer „natürlichen Solidarität unter allen Frauen“ (S. 203) oder die Aussage, Luce Irigaray beschreibe „die für die Frau optimale Form von Erotik“ (S. 212), trüben gelegentlich den Lektüregenuss.

Schwul leben

Der vierte und letzte Teil des Bandes nimmt zeitgenössische Entwicklungen des „Schwulen Lebens“ in den Blick. Birte Kähler situiert Pierre et Gilles’ schöne schwule Welt vor dem Hintergrund der Postmoderne, Claude Foucart interpretiert in „Le sida et la mort: A fleur de peau“ die Haut im Zeitalter von Aids als Ort der erotischen Begegnung und zugleich der Krankheit, und Dirk Naguschewski arbeitet in seinem Beitrag „Von der Gesellschaft ins Ghetto? „ am Beispiel von Guillaume Dustan das Selbstverständnis und die spezifischen Produktions- und Publikationsbedingungen aktueller schwuler Literatur in Frankreich heraus.

Sehen Lesen Begehren bietet damit einen profunden Überblick über die Diversität und Vielfalt homosexueller Themen in der französischen Literatur- und Kulturgeschichte und schließt eine Lücke in der deutschsprachigen Romanistik. Es bleibt zu hoffen, dass die in diesem Band versammelten Anregungen aus den „gender“ und „queer studies“ aufgegriffen werden und Eingang in den romanistischen Forschungsalltag finden. Gerade für Fragen nach dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik, von Stilen des Lebens, Schreibens und Lesens verspricht die Untersuchung ‚queerer‘ Phänomene methodologisch wie thematisch lohnenswert zu sein.

URN urn:nbn:de:0114-qn033069

Prof. Dr. Doris Kolesch

Institut für Theaterwissenschaft der FU Berlin

E-Mail: kolesch@zedat.fu-berlin.de

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