Auch eine Theorie der Moderne

Rezension von Sabine Rohlf

Barbara Hahn:

Die Jüdin Pallas Athene.

Auch eine Theorie der Moderne.

Berlin: Berlin Verlag 2002.

368 Seiten, ISBN 3–8270–0444–6, € 24,00

Abstract: Barbara Hahn zeichnet die Wege schreibender Frauen durch 200 Jahre deutsch-jüdische Kulturgeschichte nach. Ausgehend von Paul Celans vieldeutiger Jüdin Pallas Athene, werden dabei stereotype Bilder der „Jüdin“, der „Intellektuellen“ und die scharfe Trennlinie zwischen humanistisch christlicher und jüdischer Tradition zur Diskussion gestellt. Mit Celans Figur schreibt sich gleichzeitig die theoretische Herausforderung in diese Studie ein, nach Ambivalenzen und Dialogen zu fragen, deren Voraussetzungen mit beispielloser Gewalt zerstört wurden. Gestützt auf Archivmaterial und veröffentlichte Texte der von ihr vorgestellten Frauen, spannt Hahn den Bogen von frühen Strategien der Assimilierung bis in die Jahre nach 1945. Das Buch ist keine Überblicksdarstellung, sondern präsentiert einzelne, einander auch überschneidende Konstellationen – intellektuelle Netzwerke, Briefwechsel, intertextuellen Transfer.

Die Jüdin Pallas Athene ( mit Umsicht machte Barbara Hahn diese provozierende Figur Paul Celans zum Titel ihres neues Buches. In der Konfrontation widerstreitender Frauenbilder weist die jüdische Athene auf Frauen und Mädchen, die in den Jahren nach 1933 von Deutschen misshandelt und getötet wurden. Und sie weist auf radikal zerstörte Möglichkeiten des Dialogs christlich-antiker und jüdischer Kulturtraditionen: Die Jüdin Pallas Athene. In dieser Formulierung ist die Frage nach den Konstituenten einer Kultur gebündelt, die Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1933 prägte. Wie wurde sie bestimmt? Gab es Raum für Konzepte, die die Verengung auf antike und christliche Stränge der Tradition nicht mitmachten? Wer entwickelte solche Theorien und wer nahm sie auf?“ (S. 24) Mit diesen Überlegungen, die Fragen nach Geschlechterkonzepten einschließen, beginnt Hahns Suche nach Jüdinnen – „dieser schwierigen Kategorie“ (S. 25) – in 200 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte. Ein vielschichtiges Projekt, verstanden, wie es im Untertitel heißt, auch als eine Theorie der Moderne.

Rekonstruktionen und Konnotationen

Die in Princeton lehrende Professorin für Deutsche Literatur, die sich schon lange mit dem Briefwechsel Rahel Levin Varnhagens und mit anderen Zeugnissen deutsch-jüdischer Kultur beschäftigt, entfaltet ihr Thema auf zwei Ebenen: Neben einer historischen Rekonstruktionen

des Lebens und der Arbeit schreibender Frauen verfolgt sie die unterschiedlichen Konnotationen des belasteten Begriffes „Jüdin“. Beide Stränge berühren sich immer wieder – in den Texten der Frauen und in den Bildern, die sich die Umgebung von ihnen machte, als Geliebte, Autorin, Freundin und Fremde. Den Ausgang nimmt dieses Projekt in der Zeit um 1800, als Jüdinnen ihre traditionelle Lebenswelt zu verlassen begannen. Hahn zeichnet Konversionen und Sprachwechsel nach, nicht ohne die Schwierigkeiten ihrer Überlieferung zu benennen: „Jüdinnen waren gleich doppelt entfernt von den Archiven des kulturellen Gedächtnisses“ (S. 33) – als Frauen ohnehin marginalisiert, schrieben sie bis weit ins 18. Jahrhundert hebräisch und bewegten sich in Schreibkontexten, die ohne Markierung der Autorschaft auskamen.

In der Lektüre von Archivmaterial und veröffentlichten Texten stellt Hahn unterschiedliche Strategien vor, sich gegenüber jüdischen und christlichen humanistischen Denkräumen und Identitätsangeboten zu positionieren: Sie zitiert verliebte deutsch-jiddische Briefe Moses Mendelssohns an seine Verlobte Fromet Gugenheim, die aufklärerische Ideen und jüdische Traditionen zu vereinbaren wussten, oder macht auf den „Karneval der Sprachen und Schriften“ (S. 51) in Briefen Rahel Levins aufmerksam: Die „deutsche Pallas Athene“ (S. 17), wie Zeitgenossen sie nannten, wechselte gern ins Französische, wenn sie von sich als Jüdin schrieb, und nutzte hebräische Versatzstücke, während sie behauptete, diese Sprache nicht zu verstehen. Entlang der Akten und Briefwechsel zum „Fall“ Sara Meyer rekonstruiert Hahn einen zweifachen Übertritt zum Christentum, der selbst den preußischen König Friedrich Wilhelm III beschäftigte. Auch Übertritte zum Judentum werden nachgezeichnet. Zum Beispiel die Konversion der leidenschaftlichen Zionistin Paula Winkler, oder, viel früher, der legendären Gräfin Cosel, der Mätresse von August dem Starken und (was weniger bekannt ist) eine sehr gelehrte Frau.

Neben diesen und anderen Bewegungen in und zwischen zwei Kulturtraditionen werden Versuche beschrieben, jüdische und nichtjüdische Menschen unterscheidbar zu halten. Etwa in der Schrift Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte (1798) des Arztes und Naturhistorikers Johann Friedrich Blumenbach oder Karl Wilhelm Grattenauers Über die physische und moralische Verfassung der heutigen Juden (1791). Von Stereotypen der „Jüdin“ blieben, wie Hahn mit zeitgenössischen Kommentaren belegt, auch die Gastgeberinnen der Berliner Salons um 1800 und 1900 nicht unberührt. Entsprechend kritisch wird das wissenschaftlich überlieferte Bild des Salons als Ort geglückter deutsch-jüdischer Interaktion bewertet. Hahn verwirft es als historische Fiktion, die gesellschaftliche Hierarchien, subtile, aber effektive Strategien des Ein- und Ausschlusses ebenso zum Verschwinden bringe wie die spezifischen Qualitäten der Treffen, die nicht in der narrativen Historisierung, im Gestus des „so war es“ (S. 96), sondern eher entlang der Erinnerung an flüchtige Momente überlieferbar seien. Die Sammlung Varnhagen – „die Stimmen Einzelner im brieflichen Dialog mit der Initiatorin der Sammlung“ (S. 79) – halte dafür noch einiges bisher unerschlossenes Material bereit.

Differenzierung und Bruch

Hahn stellt eine Reihe von Texten jüdischer Frauen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert vor, die die „Jüdin“ als Figur der Tradierung und Bewahrung der jüdischen Kultur stark machten, ohne den Faktor Weiblichkeit als gesonderte Frage zu behandeln. Im Unterschied dazu entstanden, so Hahn, in der Weimarer Zeit „ganze Serien“ (S. 173) von Entwürfen, die den Fragen nach Geschlechterwiderspruch und Judentum gleichermaßen nachgingen, also verschiedene, einander überkreuzende Differenzachsen etablierten. Diese theoretische Entwicklung wird an Arbeiten der Historikerin Selma Stern, Margarete Susmans und Hannah Arendts nachvollzogen, ebenso wie ihr Ende mit dem Jahr 1933.

Keine der drei Autorinnen kam in der Nachkriegszeit auf die „Frauenfrage“ zurück: An ihre Stelle traten Auseinandersetzungen mit Flucht, Exil und Holocaust.

Die Denk- und Schreibarbeit von den Weimarer Jahren bis in die Jahre nach 1945 nimmt die zweite Hälfte des Buches ein: Die kulturtheoretischen Positionen Susmans entfalten sich mit Blick auf deren Briefwechsel mit der Kunsthistorikerin Gertrud Kantorowicz, die 1945 in Theresienstadt starb. Hannah Arendts Arbeit wird in ihrer Kommunikation mit dem Ehepaar Jaspers und mit Martin Heidegger vorgestellt. Ein Kapitel widmet sich Texten, die Susman, Arendt und die Literaturwissenschaftlerin Bertha Badt-Strauss über Rosa Luxemburg und Rahel Levy Varnhagen verfassten – jüdische Autorinnen über zwei schreibende Jüdinnen. Die geschilderten Schreib-, Liebes-, und Freundschaftsbeziehungen weiten sich zuweilen zu Dreiecken und Vierecken, an denen Autor/-innen wie Georg Simmel, Karl Wolfskehl, Elisabeth Blochman oder Mascha Kaléko beteiligt waren. Sie weisen ganz unterschiedliche Bezugnahmen auf die Konzepte Frau, Jüdin, Intellektuelle auf – mehr oder weniger dialogisch, beweglich, offen. Am Ende des Buches steht Susmans Freundschaft mit Paul Celan. Seine Formulierung der „Jüdin Pallas Athene“ lässt sich als Adressierung an die Jahrzehnte ältere Intellektuelle lesen, deren Arbeiten „ihm Denkräume für Reflexionen über sein Verhältnis zum Judentum“ (S. 289) öffneten und die, wie Hahns Lektüren zeigen können, deutliche Spuren in seinen Gedichten hinterließen.

Vielstimmigkeit statt griffiger Thesen

Barbara Hahn gelingt es, keine übersichtliche „Geschichte“ zu konstruieren, sondern materialreich und genau nachzuzeichnen, wie der Platz der Jüdin, Intellektuellen und Frau in sehr unterschiedlichen politischen und kulturellen Situationen ausgemessen wurde. Dabei wird sehr deutlich, dass antisemitische Ressentiments und Normierungsmacht auch in den Jahren zunehmender Assimilierung nicht zu unterschätzen waren und Konzepte moderner Zweigeschlechtlichkeit nur wenig Raum ließen für Identifizierungen als Jüdin und/oder Intellektuelle. Und doch zeichnen sich immer wieder auch Momente ab, die anderen Regeln folgen als jenen der hierarchischen Differenzierung und Kategorisierung. In der Darstellung, manchmal nur Andeutung einer Abweichung von dominanten Mustern – im Brief, im Gespräch, im vieldeutigen Text und flüchtiger Geselligkeit – bewegen sich Hahns Lektüren eng am Material. Dies erlaubt es, der Möglichkeit des Austauschs, der dialogischen Bewegung zwischen Männern und Frauen, „deutschen“ und „jüdischen“ Kulturtraditionen oder zwischen unterschiedlichen Text- und Lebenspraktiken Raum zu geben, ohne sie erneut in starre Begriffe zu zwängen. Einfache Antworten, glatte, womöglich versöhnliche Erzählungen oder ein griffiges Theoriemodell sind damit nicht zu haben. Doch wer eine Wissensproduktion zu schätzen weiß, die ihre Einwände gegen einstimmige Überlieferungen der Moderne auch in der eigenen Textstrategie plausibel macht, kann hier einiges lernen.

URN urn:nbn:de:0114-qn033090

Dr. Sabine Rohlf

Forschungsschwerpunkt: Literatur der Weimarer Republik und des deutschsprachigen Exils nach 1933

E-Mail: sabinerohlf@web.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.