Warum wir lesen?

Rezension von Heide Palmer

Gertrud Lehnert:

Die Leserin.

Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur.

Berlin: Aufbau Verlag 2000.

127 Seiten, ISBN 3351027907, circa € 12,00

Abstract: Gertrud Lehnert untersucht fünf lesende weibliche Romanfiguren: Sie fragt, welchem Bedürfnis diese Leserinnen durch ihre Lektüre nachkommen und welchen Einfluss das Lesen auf ihr Leben nimmt. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Leserinnen dienen Lehnert als Beispiele für verschiedene Funktionen des Lesens. Der Band versucht, in lockerem, fast feuilletonistischen Stil einen unterhaltsamen Beitrag zur Motivgeschichte des Lesens zu leisten.

Die Liebe zu den Büchern

Gertrud Lehnerts Essay Die Leserin erscheint im Format eines Romans, gebunden und in bibliophiler Aufmachung. So ein Buch nimmt man gerne in die Hand. Der Untertitel „Das erotische Verhältnis der Frauen zur Literatur“ allerdings führt den Leser und die Leserin auf eine falsche Fährte, denn das Buch beschäftigt sich nur am Rande mit der Lust des Lesens. Hier geht es weder um das Vergnügen an pointiert geschilderten Beobachtungen noch um das eigentümliche Mitgefühl, das wir für manche Romancharaktere empfinden. Die Leserin will eine zwar locker geschriebene, aber doch eindeutig aus literaturwissenschaftlicher Perspektive verfasste Untersuchung zur Romanfigur der Leserin sein. Bekanntestes Beispiel einer solchen – und spektakuläres Opfer ihrer Lektüre – ist Gustave Flauberts Madame Bovary.

Die lesende Protagonistin: Beispiele von 1752 bis heute

Gertrud Lehnerts zentrale These lautet: „Persönlichkeitsentfaltung und Lektüre bedingen sich gegenseitig“ (S. 18). Um dies darzulegen, schildert die Autorin exemplarisch die Schicksale lesender Protagonistinnen. Sie untersucht Die Abtei von Northanger (ca. 1795) von Jane Austen, Lady Arabella (1752) von Charlotte Lennox, Madame Bovary (1856) von Gustave Flaubert, Besessen von Antonia S. Byatt (1994) und Die Germanistin von Patricia Duncker (1999). Lehnert erläutert den kulturgeschichtlichen Kontext, in dem die älteren dieser Romane entstanden sind: die soziale Stellung der Frau und die poetologische Bedeutung von Belletristik. Man behauptete damals, die maßlose Sinnlichkeit der Romane „verderbe“ (S. 26) ihre vorwiegend weibliche Leserschaft für die Realität .

Die Kluft zwischen Literatur und Leben

Nach einer allgemein gehaltenen Einführung unter der Überschrift „Lesen… „ bespricht Lehnert im Kapitel „Lesen als Abenteuer“ die beiden Romane Die Abtei von Northanger und Lady Arabella. Leben und Lesen stehen oftmals in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Die Heldinnen dieser Bücher sind junge Frauen, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden stehen. Ihre Lektüre – Schauer-, Ritter- und Liebesromane – weckt in ihnen umso mehr die Lust und Neugier auf das Leben. Nach vielfältigen Irrtümern und Konflikten, die von der Verwechslung von Romanwelt und wirklicher Welt herrühren, gelingt es beiden Protagonistinnen schließlich, „das rechte Lesen sowohl von Büchern als auch von der Welt“ (S. 56) zu lernen. Austens Abtei von Northanger gilt Lehnert daher als „einer der ersten – wenn nicht sogar der erste – weibliche Bildungsroman“ (S. 56).

Auch Emma Bovary macht die Bücher zum Kompass ihrer Weltorientierung, doch ihr bleibt die Einsicht verwehrt, dass Fiktion und Realität letztlich verschiedener Natur bleiben. „Der Fluch der Lektüre“, so der Titel des dritten Kapitels, legt dar, wie die „vollkommene Egozentrikerin“ (S. 75) Emma alles ausschließlich auf sich bezieht. Bücher werden von ihr, wie die kostbaren Kleider, die sie kauft, als Waren konsumiert: Sie sollen sie in gesteigerte Gefühlszustände versetzen. Während die Heldinnen der beiden oben genannten Bücher im Zuge ihrer Erlebnisse höhere Lesekompetenz erwerben und einen Sinn für ästhetische Distanz entwickeln, will Emma Bovary ihr eigenes Romanschicksal herbeizwingen. Doch die Inszenierung ihres Selbstmordes misslingt, und sie stirbt einen erbärmlichen, ganz und gar nicht stilvollen Tod.

Bücher als Brücke

Das Schlusskapitel „Ein Text sucht seine Leserin“ beschäftigt sich mit zwei Romanfiguren, die interessanterweise beide professionelle Leserinnen sind. In den zeitgenössischen Romanen Besessen und Die Germanistin werden die Biografien zweier Literaturwissenschaftlerinnen thematisiert. In beiden Fällen wird Lesen als ein Akt dargestellt, der hauptsächlich der intellektuellen Auseinandersetzung zu dienen hat, aber hier in einem ganz speziellen Fall eine neue Qualität erlangt und zu einem höchst emotionalen Akt der Vermittlung wird. Besessen erzählt die Geschichte des Literaturwissenschaftlers Roland. Er forscht über die Biografie eines Autors. Im Zuge dieser Arbeit taucht ein Briefwechsel auf, den Roland gemeinsam mit seiner Kollegin, der feministischen Literaturwissenschaftlerin Maud auswertet. Beide Forscher sind kühle, vereinzelte Menschen, doch diese Briefe lassen eine ganz spezielle persönliche Beziehung zwischen ihnen wachsen. Das Forscherpaar erlebt durch den Briefwechsel, der eine leidenschaftliche Liebesbeziehung dokumentiert, Momente intimster Nähe. Außerhalb des literarischen Bezugs allerdings bleibt ihre Beziehung distanziert.

Der Roman Die Germanistin schließlich macht das Band zwischen Autor und Leser ganz exponiert zu einer Schicksalsbeziehung, die Lebensläufe verändert. Eine zufällige Strandbegegnung zwischen einem Schriftsteller und einem Mädchen initiiert deren lebenslange Verbundenheit. Das Kind verspricht dem Mann, „sein Leser zu werden“ (S.115). Diese Entscheidung beeinflusst das Leben mehrerer Menschen – und nicht zuletzt das des Autors selbst. „Konsequent insinuiert der Roman Die Germanistin, jeder Dichter habe nicht etwa einen oder mehrere, sondern seinen Leser. Für diesen einen Leser schreibt der Autor, nur für diesen Leser lebt er. „(S. 115).

Resumée

Gertrud Lehnerts Untersuchung hat einen interessanten Gegenstand, kommt dem Faszinosum der Lektüre allerdings nicht auf die Spur. Die Autorin legt lediglich dar, dass Literatur ein Verständigungsmedium ist, das von verschiedenen Personen in verschiedenen Lebenssituationen verschieden genutzt wird.

Für einen Essay zerfasert sich der Aufsatz in zu viele gelehrte Nebenerörterungen und bringt sich so um die Darstellung eines originären Standpunktes. Für eine strukturelle Analyse dagegen ist er methodisch zu inkonsequent.

Die zentrale These „Lesen und Leben durchdringen einander“ (S. 23) wird nicht erörtert, sondern nur behauptet und bleibt damit ein Allgemeinplatz.

Besonders viele Fragen lässt die geschlechterspezifische Perspektive offen: In den beiden zeitgenössischen Romanen sind die eigentlichen Protagonisten nämlich männliche Leser. In welchem Verhältnis diese zu den Leserinnen stehen, inwiefern oder ob sich ein „Leser“ überhaupt grundsätzlich von der im Titel paradigmatisch gesetzten „Leserin“ unterscheidet, bleibt leider völlig unbesprochen.

Das Buch ist im Buchhandel schon vergriffen, zählt aber zum Bestand vieler Bibliotheken.

URN urn:nbn:de:0114-qn033107

Heide Palmer

Freie Universität Berlin / Fachbereich Germanistik

E-Mail: heidepalmer@gmx.de

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