Christa Schikorra:
Kontinuitäten der Ausgrenzung.
„Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück.
Berlin: Metropol Verlag 2001.
280 Seiten, ISBN 3–932482–60–3, € 19,00
Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr:
Vom Leben und Überleben.
Wege nach Ravensbrück: Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung. Band I: Dokumentation und Analyse.
Wien: Promedia Verlag 2001.
264 Seiten, ISBN 3–85371–175–8, € 17,90
Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr:
Vom Leben und Überleben.
Wege nach Ravensbrück: Das Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung. Band II: Lebensgeschichten.
Wien: Promedia Verlag 2001.
272 Seiten, ISBN 3–85371–176–6, € 17,90
Abstract: Im Zentrum der Arbeit von Christa Schikorra steht die Frage nach den Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung „asozialer“ Frauen – zur Zeit des Nationalsozialismus, aber auch in der Nachkriegszeit. Wenn auch die Zugehörigkeit zur Gruppe der „Asozialen“ erst im Nationalsozialismus lebensbedrohlich wurde, so lassen sich in der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen, die mit dem Etikett „asozial“ versehen wurden und werden, gesellschaftliche Traditionslinien erkennen, die schon vor dem Nationalsozialismus wirksam waren und es bis heute sind – so die These der Autorin. Ihre Analyse fragt nach der Entstehung des Stigmas „asozial“: Auf welche Vorurteilsstrukturen und Stereotypen gründet eine solche Kategorisierung? Wer trägt zu ihrer Entstehung bei, d.h. wer sind die Akteure gesellschaftlicher Ausgrenzung? Welche Rolle spielen der Staat und seine Institutionen?
Wie funktioniert Normsetzung, und wie manifestiert sich diese? Bezogen auf die konkreten Lebensgeschichten „asozialer“ Frauen fragt Schikorra nach dem Leben vor der Haft, nach der Verfolgungsgeschichte, den Erfahrungen im Konzentrationslager, der Stellung in der Häftlingsgesellschaft sowie dem Leben nach dem Umgang mit Ausgrenzung und Benachteiligung auch nach 1945.
Die Fokussierung auf die Gruppe der „asozialen“ Frauen wird plausibel, wenn man sich den Forschungsstand zu diesem Thema ansieht: Diese Häftlingsgruppe war und ist nicht nur gesellschaftlich marginalisiert, sondern auch von der Wissenschaft bislang sträflich vernachlässigt worden. Schikorra will mit ihrer Arbeit diese Forschungslücke schließen – aus dem wissenschaftliche Interesse einer „historisch Forschenden“, aber auch aus der „moralisch-politischen Verpflichtung einer Deutschen des Jahrgangs 1959“ (S. 12) heraus. Die Autorin rekurriert für ihre Arbeit vornehmlich auf Aktenbestände der verfolgenden nationalsozialistischen Institutionen. Daneben hat sie stichprobenartig Interviews mit überlebenden Ravensbrückerinnen geführt, um die Täter/-innenperspektive durch die der Opfer zu ergänzen. Komplettiert werden diese Quellen durch historiographische Untersuchungen zur Geschichte der Konzentrationslager, zur Fürsorgepolitik, zu den Verfolgungsinstitutionen etc.
Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile: Vor der Einweisung ins Konzentrationslager stand für viele der als „asozial“ verfolgten Frauen ein Weg durch die Institutionen von Fürsorge, Arbeitshaus oder Heilanstalt. Die Darstellung dieser Institutionen ist Thema im ersten Teil der Arbeit. Schikorra fragt hier nach der Rolle der Kriminalpolizei, nach der juristischen Grundlage der Verfolgung „Asozialer“ sowie nach Weiblichkeitskonstruktionen, die bei der Verfolgung dieser Frauen relevant wurden. Sie macht den Wandel deutlich, den die Sozialpolitik im Nationalsozialismus durchlief, indem sie von einer Politik, die dem Gedanken der Disziplinierung, aber auch der Fürsorge verpflichtet war, zu einem reinen Instrument der Repression und der Negativ-Auslese wurde, an der die Autorin der Kriminalpolizei einen entscheidenden Anteil zuweist. Gestützt auf die Aktenbestände örtlicher Kripostellen arbeitet sie drei Kennzeichen der Verfolgungspraxis „asozialer“ Menschen heraus: Erstens die absolute Willkür der Verfolgung, zweitens die Tendenz, „Asozialität“ als anlagebedingt anzusehen, und schließlich die Häufigkeit, mit der diskriminierende Weiblichkeitskonstruktionen in den Beurteilungen der Kripo auftauchen.
Auch die Fürsorgeinstitutionen werden einer kritischen Betrachtung unterzogen. Sie spielten im Verfolgungsprozess ebenfalls eine wichtige Rolle, da die Mehrzahl der verfolgten Frauen vor ihrer Verhaftung bereits eine „Karriere“ in den verschiedenen Instanzen der staatlichen Fürsorge hinter sich hatten. Exemplarisch wird die Analyse an drei ausgewählten Fürsorgeeinrichtungen vorgenommen. Unklar bleibt allerdings, warum die Autorin gerade diese Einrichtungen ausgewählt hat, vor allem da die Aktenlage – wie Schikorra selbst anmerkt – alles andere als zufriedenstellend ist und nur begrenzt Schlüsse über die als „asozial“ verfolgten Insassen zulässt. Diesen Mängeln ist es wohl auch geschuldet, dass dieser Teil der Untersuchung ein wenig zerfranst und wenig informativ auf die Leser/-innen wirkt. Abschließend betrachtet die Autorin den Zusammenhang von Milieu, Geschlecht und Delinquenz hinsichtlich der Verfolgung „asozialer“ Frauen und fasst die wichtigsten Ergebnisse der vorangegangenen Analyse noch einmal zusammen.
Die Lagerwirklichkeit in Ravensbrück mit all ihren Facetten ist Thema im zweiten Teil der Studie. Hier erhält die Leserin einen Überblick über die Geschichte des Konzentrationslagers Ravensbrück wie auch Einblicke in die spezifischen Bedrohungen und Ausgrenzungen, denen „asoziale“ Frauen sowohl von Seiten des Lagerpersonal als auch von Seiten der Mithäftlinge ausgesetzt waren. Während beispielsweise in der Gruppe der „Politischen“ Solidarität und gemeinsames Handeln verbreitet waren, konstatiert Schikorra bei den „Asozialen“ eine Tendenz zur Isolierung und Vereinzelung. Aufschlussreich sind auch ihre Ausführungen über die Stellung der „asozialen“ Frauen in der Lagerhierarchie und über die Selbst- und Fremdbilder in der Häftlingsgemeinschaft. Sachlich und präzise analysiert Schikorra den Status der „Schwarzwinkligen“ in der Lagerhierarchie und zeigt Ausgrenzungsmechanismen auch innerhalb dieser Zwangsgemeinschaft auf.
Den Abschluss der Arbeit bildet die Frage nach den „Kontinuitäten der Ausgrenzung“: Welchen Ausgrenzungsmechanismen waren die als „asozial“ Verfolgten nach dem Ende der Naziherrschaft ausgesetzt? Gibt es Traditionslinien der Stigmatisierung, die bis heute wirksam sind? Am Beispiel der Entschädigungspolitik der beiden deutschen Staaten nach 1945 untermauert Schikorra, ihre These von der Fortsetzung der Ausgrenzung nach dem Ende der faschistischen Herrschaft.
Ähnlich wie Schikorra bemängeln auch Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr den eher mageren Forschungsstand zum Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück; auch sie wollen mit ihrer Arbeit dazu beitragen, derartige Forschungslücken zu schließen. Auch Amesberger und Halbmayr wollen Opfergruppen in das Blickfeld der Wissenschaft und somit auch der Öffentlichkeit rücken, denen bislang kaum Gehör geschenkt wurde. Ihr Interesse gilt den österreichischen Frauen unter den Häftlingen der Konzentrationslager. Die Entstehung der Studie ist zudem im Kontext des politischen Rechtsrucks in Österreich nach der Regierungsbeteiligung der neofaschistischen FPÖ zu sehen, wie die Forscherinnen betonen. Die Autorinnen stützen ihre Arbeit hauptsächlich auf die Ergebnisse der lebensgeschichtlichen Interviews, die sie mit 42 ehemaligen Ravensbrückerinnen führten. Insofern ist die Quellenlage hier relativ homogen. Die Studie gliedert sich in zwei Bände: Band I umfasst die wissenschaftliche Dokumentation und Auswertung der geführten Interviews. Band II ergänzt den ersten Teil um die Kurzbiographien der befragten Frauen. Gemäß dem Postulat der Autorinnen, den Lebensabschnitt der Lager-Erfahrung nicht für sich stehen zu lassen, sondern einzubetten in das „Davor“ und „Danach“, beginnt die Studie mit einer Darstellung der Kindheit der Frauen. Dabei gilt es, die wesentlichen Herkunftsmilieus sowie die verschiedenen Sozialisationsmuster darzustellen und nach deren Auswirkungen auf mögliche Widerstandstätigkeit zu fragen. Dies ist insofern sinnvoll, als dass – wie die Autorinnen zutreffend anmerken – die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht in den 30er Jahren weitaus prägender war als heute. Sie versuchen daher, die für die jeweiligen Milieus typischen Sozialisationserfahrungen herauszuarbeiten: in der Arbeiterschicht, der nahezu die Hälfte der befragten Frauen entstammte, im bäuerlichen Milieu, unter den Roma und Sinti und im (Groß-)Bürgertum. Welche Rolle spielten Religion, politisches Engagement, Schulbildung oder die Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation? Welches Frauenbild bekamen die jungen Mädchen vermittelt? Wie waren die ökonomischen Verhältnisse? Im Anschluss zeigen die Autorinnen auf, dass bestimmte Sozialisationserfahrungen wie z. B. ein politisiertes Umfeld oder die Mitgliedschaft in einer Jugendorganisation widerständiges Verhalten generieren konnten.
Kapitel II widmet sich der Phase des Widerstandes, den individuellen Wegen in den Widerstand, den verschiedenen Formen des Widerstandes und deren geschlechtsspezifischen Implikationen. Die Autorinnen beschreiben große Unterschiede zwischen politischen und humanitären Widerstandskämpferinnen: Erstere waren schon durch ihr familiäres Umfeld und die Mitgliedschaft in diversen Jugendorganisationen gewissermaßen „zur Politik erzogen“ worden. Sie waren zumeist schon während des Ständestaates politisch aktiv. Insofern zeichnet sich hier eine Kontinuität des Widerstandes ab. Demgegenüber waren die Motive, die Frauen zu humanitärem Widerstand veranlasst haben, weitaus heterogener. Einige Frauen wurden aufgrund von Beziehungen zu einem Zwangsarbeiter verhaftet, andere wollten für bedrohte Familienangehörige einstehen, wieder andere unterstützen Partisanen in ihrer Umgebung. Die Aktionsformen des (politischen) Widerstandes reichten von der Verbreitung politischer Informationen durch Flugblätter, illegale Zeitungen etc. über Wehrkraftzersetzung und Sabotage bis hin zur Einschleusung von Widerstandskämpfer/-innen in Nationalsozialistischen Organisationen. Interessant ist die Anmerkung der Autorinnen, dass, obwohl Frauen in den illegalen Organisationen mit allen anfallenden Aufgaben betraut wurden, dennoch eine gewisse geschlechtsspezifische Rollenverteilung nicht zu übersehen war: Während die Frauen in weniger exponierten Positionen tätig waren und die alltägliche Basisarbeit leisteten (die sicherlich ebenso gefährlich wie wichtig für das Funktionieren des Widerstandes war), waren die Köpfe des Widerstandes meist Männer.
Das dritte Kapitel trägt den Titel „Vorstufe zur Hölle“ und beinhaltet die Darstellung der Erfahrungen der Frauen zur Zeit der Verfolgung. Dabei wird nach Verfolgtengruppen differenziert. Der Leidensweg der Verfolgten begann mit der Verhaftung durch die Gestapo, die für die Betroffenen meist völlig unerwartet kam. Die aus rassistischen Gründen verfolgten Roma und Sinti wurden nach der Verhaftung meist in Arbeitslagern festgehalten, bevor sie ins Konzentrationslager deportiert wurden. Diejenigen Frauen, die aufgrund politischen oder humanitären Widerstandes verfolgt wurden, lernten meist diverse Gefängnisse kennen, bevor sie nach Ravensbrück überstellt wurden. Dabei stellen die Autorinnen einige Unterschiede in der Thematisierung der Verfolgung zwischen den einzelnen Gruppen fest: So ist die Fassungslosigkeit, mit der auf die eigene Verfolgung reagiert wurde, bei den Roma und Sinti besonders ausgeprägt – man war ja nicht politisch und hatte sich auch sonst nichts „zuschulden“ kommen lassen. Ähnlich verhält es sich mit den Juden, die ebenso wie die als „Zigeuner“ Verfolgten einer stufenweise Beraubung ihrer elementaren Menschenrechte ausgesetzt waren. Besonders eindringlich thematisieren auch die humanitären Widerstandskämpferinnen den Schock über die plötzliche Verhaftung, über die zuvor nicht gekannte Brutalität der Nazi-Schergen. Gegenüber diesen Frauen hatten die politischen Widerstandskämpferinnen den Vorteil, dass sie im Gefängnis oftmals auf gleichgesinnte Genossinnen trafen, die ihnen Mut und Überlebenswillen gaben.
Das sowohl quantitativ umfangreichste als auch qualitativ herausragende Kapitel IV beschäftigt sich mit der Lagerwirklichkeit in Ravensbrück, mit der Struktur der Häftlingsgesellschaft und den daraus erwachsenden Implikationen für das Leben und Überleben. Neben einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Konzentrationslagers Ravensbrück widmen sich die Autorinnen ausführlich den sozialen Strukturen der Häftlingsgesellschaft und den unterschiedlichen Handlungsspielräumen, über die die Häftlinge verfügten. Anders als bei Schikorra stehen hier jedoch nicht die subtilen Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung unter den Häftlingen im Vordergrund (die zwar benannt, aber nicht weiter untersucht werden), sondern vielmehr die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der einzelnen Häftlingsgruppen und die Wahrnehmung der Handlungsspielräume durch die Frauen.
Dabei wird deutlich, dass die Möglichkeiten zur Selbstbehauptung, zu Akten der Solidarität oder gar des Widerstandes sehr eingeschränkt und meist den „privilegierteren“ Häftlingen vorbehalten waren. Auch wird in diesem Kapitel wiederum der Bogen zu den individuellen Sozialisationserfahrungen der Frauen geschlagen und deren Einfluss auf das (Über-)Leben im Lager untersucht.
Mit der Betrachtung des Lebens nach der Befreiung aus Ravensbrück schließt der erste Band der Studie von Amesberger und Halbmayr. Das letzte Kapitel kreist dementsprechend um die Trias von gesellschaftlichen Reaktionen, Folgen der Lager-Erfahrung und individuellen Verarbeitungsstrategien. Neben der schrecklichen Erfahrung, geliebte Menschen bei der Rückkehr nicht mehr vorzufinden, wurde vielen Heimkehrerinnen aus den Konzentrationslager das Leben auch von staatlicher Seite schwer gemacht: So monieren die Autorinnen Mängel in der österreichischen Entschädigungsgesetzgebung, durch die vielen Opfern die verdiente Entschädigung vorenthalten wurde. Ähnlich wie in der deutschen Gesetzgebung werden einige Opfergruppen nach wie vor nicht als Verfolgte des Nationalsozialistischen Regimes anerkannt. Neben der Diskriminierung von staatlicher Seite, den physischen und psychischen Folgeschäden und der oft schwierigen ökonomischen Situation litten die Heimkehrerinnen auch unter der gesellschaftlichen Feindseligkeit, die ihnen entgegengebracht wurde. Statt sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen, flüchtete man sich in die bequeme These von „Österreich, dem ersten Opfer Hitler-Deutschlands“ – Tabuisierung und gesellschaftliches Schweigen waren die Folge.
Beide Arbeiten – sowohl die Studie von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr zu den österreichischen Ravensbrück-Überlebenden als auch die Arbeit von Christa Schikorra zu „asozialen“ Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück – haben einen wichtigen Beitrag zur Dokumentation und Analyse der Erfahrungen von Ravensbrück-Häftlingen geleistet. Sie machen auf das Schicksal von Frauen aufmerksam, die in der von Verdrängung geprägten Nachkriegszeit von Wissenschaft und Gesellschaft gleichermaßen vernachlässigt wurden.
URN urn:nbn:de:0114-qn033139
Theresa Reinold
FU Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft
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