Eva Waniek, Silvia Stoller (Hg.):
Verhandlungen des Geschlechts.
Zur Konstruktivismusdebatte in der Gender-Theorie.
Wien: Turia + Kant 2001.
287 Seiten, ISBN 3–85132–278–9, € 22,70
Abstract: Die mit dem Erscheinen von Judith Butlers Unbehagen der Geschlechter ausgelöste „Essentialismus versus Konstruktivismus“-Debatte um die Frage, wie Materialität und Körper zu denken sei, hält die Geschlechterforschung bis heute in dilemmatischer Spannung. Kann auf die Kategorie Geschlecht überhaupt verzichtet werden? Der Sammelband Verhandlungen des Geschlechts dokumentiert anhand von 15 Beiträgen aus den Bereichen Kulturwissenschaften, Philosophie, Psychoanalyse und Politik die aktuelle Entwicklung der Debatte rund um den an Butler orientierten feministischen Konstruktionsbegriff. Unter Rückgriff auf unterschiedliche Ansätze wird versucht, zwischen „Körper“ und „Diskurs“ zu vermitteln und Materialität neu zu denken.
Eine von Butlers zentralen Thesen ist die Infragestellung der Sex-Gender-Differenz, wodurch auch das biologische Geschlecht als Konstruktion verstanden werden kann. Dem vorwiegend diskurstheoretischen Konstruktivismus, der argumentiert, dass mit dem Voraussetzen eines natürlichen Geschlechts innerhalb der Sex-Gender Relation ein biologischer Essentialismus impliziert werde, steht das politisch-praktische Argument gegenüber, dass „Frauen“ und „Männer“ als politische Akteur/-innen unverzichtbar seien. Dieses Dilemma ist schon seit Jahren bekannt – und ungelöst. Der vorliegende Sammelband bietet einen informativen Einblick in aktuelle Ansätze, die aus dem Gegensatz zwischen Essentialismus und Konstruktivismus hinausführen könnten. Die Beiträge entstammen der Vortragsreihe Feministische Theorie und Frauenforschung, die seit 1994 von den Herausgeberinnen am Institut für Wissenschaft und Kunst in Wien organisiert wird. Die 15 Artikel aus den Bereichen Politik, Philosophie, Psychoanalyse und Kunsttheorie sind in drei Schwerpunkte gegliedert: Geschlecht im Kontext von Kultur und Phantasma – Geschlecht im Kontext von Zeichen und Sprache – Geschlecht im Kontext von Körper, Identität und Differenz. Dadurch wird die Gender-Debatte in einem weiten Bogen aufgespannt und in ihrer komplexen und vielschichtigen Dimension sichtbar macht.
Christina Lutter zieht in ihrem Beitrag die Geschichte der Verbindung der gegenwärtigen Cultural Studies mit den Gender Studies nach und hebt die große Bedeutung dieser Allianz hervor: Genderbezogene Fragestellungen bilden heute einen integralen Bestandteil von Kulturanalysen. Dabei wird die Kategorie Geschlecht im Zusammenhang mit kulturwissenschaftlichen Kategorien wie Rasse, Ethnizität oder Generation untersucht. Das gemeinsame Ziel ist, binäre Gegensätze aufzubrechen und ihre impliziten normativen Setzungen sichtbar zu machen. So zeigen Analysen der Cultural wie auch der Gender Studies, dass die alltäglichsten Lebensbereiche diejenigen sind, die am stärksten sozial und kulturell konstituiert sind. Lutter bezieht sich in ihrem Beitrag auf die wissenschaftskritischen Arbeiten von Sandra Harding sowie auf die Politologin Joan Scott, deren Beitrag im Anschluss folgt.
Joan Scott bespricht darin die Zusammenhänge von Geschlechtsidentität und Politik. Sie hält der begrifflichen Trennung von Sex und Gender Freuds Auffassung entgegen, dass in einem Individuum psychische, soziale und physische Aspekte in einem komplexen Zusammenspiel verbunden sind. Der Fokus von Scotts Arbeit liegt auf der Frage nach dem Zusammenhang von Erkenntnissen aus feministischen Diskursen und Erfahrungen aus der politischen Praxis. Sie befragt die Funktionsweise von sozialen und politischen Institutionen und untersucht, in welcher Weise diese Institutionen die Begriffe „Frau“ und „Mann“ als politische Kategorie hervorbringen und gesellschaftlich festigen.
Der Beitrag von Jane Flax führt die Leser/-innen durch eine ausführliche und sehr interessante Analyse von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Sie spricht von einem „achtfachen Skandal des Begehrens“, d.h. sie ortet acht Merkmale in Freuds Begehrensanalyse, in denen er darlegt, dass die Formen des Begehrens nicht notwendig an den anatomischen Geschlechtskörper gebunden sind. Diese Freudsche Erkenntnis bringt Flax zur Auffassung, Geschlechtlichkeit und Sexualität als polysexuelle Größen zu sehen, die erst durch kulturelle und soziale Normen zur heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit gerinnen.
Mit Bezug auf Julia Kristevas Sprachtheorie untersucht Bettina Schmitz die phantasmatische Bedeutung der Mutter in unserer Gesellschaft. Kristevas Sprachtheorie formuliert den Zusammenhang von Leib und Denken als semiotischen und symbolischen Prozess der Bedeutungskonstitution. Das Semiotische kann nur konstruierend / rekonstruierend – also immer nur im Nachhinein – sprachlich, d.h. symbolisch erschlossen werden. Damit weist Kristevas Ansatz in Richtung Körper und Unbewusstes. Schmitz sieht die Figur der Mutter an der Grenze zu dieser „Sprachlosigkeit“ angesiedelt. Die prä- und postnatale Zeit („das Körper an Körper mit der Mutter“, S. 89) verweist, so Schmitz, auf früheste Schichten unseres vorsprachlichen Daseins, und sie schlägt vor, die Bedeutung der Mutter als Verschränkung oder Transposition von körperlichen und sprachlichen Aspekten zu begreifen, die für die individuelle Subjektkonstitution entscheidend sind.
Mit Geschlecht im Kontext des Symbolischen und Imaginären beschäftigt sich auch Ingvild Birkhans Beitrag entlang einer Auseinandersetzung mit Butlers These, dass die symbolische Konstruktion von Geschlecht durch die Sprache Effekte der Ausschließung produziere. Dies führte, so Birkhan, insbesondere im abendländischen Kulturraum zur Zurückdrängung des Imaginären. Birkhan, zeigt die Entwicklung dieser Sprachlogik auf dem Weg zur Symbolisierung an Beispielen des Einsatzes von Bildtabus (z.B. in Bibeltexten). Anhand dieser Beispiele versucht Birkhan einerseits die Zurückdrängung des Imaginären gegenüber dem Symbolischen zu zeigen und andererseits die Identifizierung des Weiblichen mit dem Imaginären und des Männlichen mit dem Sprachlich-Symbolischen zu ihren kulturhistorischen Wurzeln zurückzuverfolgen.
Drei Autorinnen widmen sich einer philosophischen Auseinandersetzung mit Leitbegriffen der feministischen Theorienbildung wie Zeichen, Bedeutung oder Konstruktion.
So konstatiert Eva Waniek, dass der Bedeutungsbegriff in der Gender-Theorie nicht geklärt ist, was wesentlich mit dem Konstruktivismus-Essentialismus-Dilemma in der gegenwärtigen Debatte um das Geschlecht zu tun hat. Sie hält zunächst fest, dass die Wörter „Sex“ und „Gender“ rein semantische Gegensätze und somit konventionell erzeugte Bedeutungen sind, und stellt zwei Linien verschiedener Bedeutungstraditionen vor: die repräsentative Bedeutungstheorie von Gottlob Frege und die differentielle Bedeutungsbestimmung bei Ferdinand de Saussure, die sich in ihren Auffassungen, pointiert gesagt, als „Referenz versus Differenz“ diametral gegenüberstehen.
Auf der Grundlage von de Saussures Sprachtheorie legt Waniek dar, wie Wörter und Begriffe natur- und kulturseparierende Bedeutungen konstituieren können. Die Bedeutung von Sex und Gender konstituiert sich nicht über „objektive“ Kriterien, sondern über innersprachliche und systemische Zusammenhänge dieser Wörter zueinander sowie im Verhältnis zu anderen. Um „Geschlecht“ als analytische Kategorie weiter entwickeln zu können, ist es wichtig, so Waniek, diesen Begriff weder als essentialistische noch als konkret gegenständliche Größe aufzufassen.
Silvia Stollers Beitrag widmet sich einer phänomenologischen Reflexion zum Begriff der Anonymität und legt dar, wie der speziell in der Phänomenologie von Merleau-Ponty als „surplus“ positiv gefasste Anonymitätsbegriff zur Klärung der Frage nach der Entstehung von Geschlechterdifferenz beitragen kann. Als Gegenbegriff zu „making women visible“ ist Anonymität in der feministischen Theorie vorwiegend negativ besetzt. Stoller weist darauf hin, dass die phänomenologische Sichtweise des Anonymitätsbegriffs hilfreich sein könnte, den Prozess der Differenzbildung im allgemeinen zu begreifen, denn analog zu „Gegenstand und Hintergrund“ verweisen Anonymität und Differenz bei der Wahrnehmungs- bzw. Gegenstandskonstitution aufeinander. Dieser Ansatz perspektiviert den Prozess der Differenzbildung, der als solcher dynamisch und genealogisch aufzufassen ist.
Renate Dürr versucht in ihrem kurzen, aber sehr interessanten Beitrag, unter Rückgriff auf Hans Lenks Stufenmodell der Interpretation ein Modell der Geschlechterdifferenz darzulegen, das konstruktivistische und realistische Elemente vermittelt. Das Interpretationsmodell geht von einer sechsstufigen Skala von niedrig- bis hochgradigen Interpretationsleistungen aus. Am unteren Ende der Skala sind vor-sprachliche, sozial nicht kodierte Voraussetzungen angesiedelt, während die Begriffe Sex und Gender als höherstufige, d.h. weitgehend sozial normierte und damit auch veränderbare Interpretationskonstrukte aufgefasst werden. Diese Unterscheidungen erlauben, so Dürr, eine feine Differenzierung der Begriffe Natur und Kultur bzw. von Sex und Gender, die als Interpretationsleistungen auf verschiedenen Stufen aufgefasst werden können: „Sex“ wäre im Unterschied zu „Gender“ als biologische Interpretation wahrnehmungsnäher konstituiert als Gender-Konzepte, die immer schon strukturierte Körperkonzepte voraussetzen. Damit, so Dürr, könne gezeigt werden, dass die Unterscheidung männlich / weiblich nicht nur sprachlich konstituiert, sondern auch an eine körperbezogene Wahrnehmungsebene gebunden ist. Da aber Sex und Gender auf Interpretationsebenen angesiedelt sind, die normativer Festlegungen bedürfen, zeigt sich die Notwendigkeit einer sozialen Konventionalisierung für beide Begriffe.
Ein Einwand gegen Butlers Konstruktivismus, den viele Autorinnen dieses Bandes teilen, ist, dass dieser zu einseitig auf die Analyse diskursiver Praktiken angelegt sei und die Grundlegung des Konstruktionsbegriffs offen ließe. Auch der Begriff der Materie bliebe dabei unterbestimmt. Dies hat das theoretische Anliegen zur Folge, den Körper- und Materiebegriff zu rekonzeptualisieren – ohne in neue Essentialismen zurückzufallen.
Gertrude Postl versucht in ihrem Beitrag eine Neuinterpretation der Arbeiten von Luce Irigaray. Sie befindet, dass Irigaray wie auch Kristevas Ansätze für eine Vermittlung von Körper und Sprache fruchtbar gemacht werden könnten. Ihre Absicht ist es, „sowohl Materie als auch Sprache in einer Weise zu denken, die den Postulierungen eines sprachlosen Körpers sowie eines entmaterialisierten Diskurses entgegensteuert.“ (S. 118) Mit der Interpretation von Irigarays Begriff der Metonymie und der Metapher der „Lippen“ als Schlüsselbegriff für ein unhintergehbares Ineinandergreifen von Körper und Sprache erinnert Postl an das Projekt des „weiblichen Sprechens und Schreibens“. Damit möchte Postl den Körper nicht nur in seinem sozialen Zeichengehalt als ein diskursives Produkt sichtbar machen, sondern auch die Materialität sprachlicher Zeichen ins Blickfeld rücken.
Linda Fisher bemüht sich in ihrer Analyse um eine differenzierte Sicht der Essentialismus- und Biologismus-Debatte und betrachtet die Annahme irgendeiner Form der sexuellen Differenzierung als wichtigstes Leitmotiv für feministische Theorien. Fisher entwickelt eine „Phänomenologie der sexuellen Differenz“ (S. 228), d.h. eine Analyse der Differenz als Erfahrungsphänomen, welche sie ausdrücklich gegenüber essentialistischen oder deterministischen Argumentationen abgrenzt, und diskutiert ihren Ansatz am Beispiel der Kontroversen zwischen Differenztheoretiker/-innen und Gleichheitstheoretiker/-innen. Die Beiträge von Veronica Vasterling und Cathren Müller gehen speziell auf Butlers Konstruktionsbegriff und den damit verbundenen Vorwurf eines linguistischen Determinismus und Idealismus ein. Während Vasterling für eine phänomenologische Ergänzung von Butlers epistemologischen Voraussetzungen plädiert, kritisiert Cathren Müller aus soziologischer Sicht Butlers Begriff von Praxis und versucht, diesen mit Pierre Bourdieus Habitusbegriff zu vermitteln.
Interessant und sorgfältig entwickelt ist Käthe Trettins Modell der Tropen und Ähnlichkeitsklassen. Ihre Theorie, die die üblichen binären Identitätskonzepte beerben könnte, entwickelt Trettin in Auseinandersetzung mit dem Philosophen Wolfgang Detel, der vorschlägt, „schwache Geschlechtsbegriffe“ zu formulieren. Individuen werden dabei als hochgradig vernetzte Komplexe verschiedener Tropen gedacht – wobei die „Geschlechtstrope“ nur eine von vielen ist. Einzig essentielles Konstituens ist die Behauptung, dass eine Person irgendwelche geschlechtsspezifischen Tropen aufweist. Die Pointe an diesem Modell ist, dass Weiblichkeitstropen und Männlichkeitstropen jeweils akzidentiell, dynamisch und damit veränderbar gefasst sind. Damit könnte dieses Konzept einen Weg jenseits rein sozialer Konstruktivismen oder binärer Identitätsmodelle weisen.
Der Sammelband wird mit einem kunsttheoretischen Beitrag von Doris Guth abgeschlossen, in dem sie das Thema Identitätspolitik und Ausstellungspolitik am Beispiel des Kunstbetriebs als Ort, an dem geschlechtliche Identitäten (mit-)produziert werden, diskutiert.
Die in den Beiträgen des Bandes angezeigten neuen Ansätze zur Sex-Gender Debatte versuchen, verschiedene theoretische Potenziale zu nutzen, um dem feministischen Konstruktivismus in der Geschlechterforschung neue Impulse zu verschaffen und einen Ausweg aus den gegenwärtigen Aporien der Dichotomie Materie – Diskurs zu finden. Im Vorwort ist zu lesen, dass Gesellschaften (insbesondere Diskursgemeinschaften) immer wieder und oft auch unter harten Konflikten die Bedeutung von Wörtern, Dingen und Phänomenen auszuhandeln haben (S. 16). In diesem Sinne ist es den Herausgeberinnen gelungen, die kontroverse Spannung der gegenwärtigen Gender-Theorie darzustellen und fruchtbare Ansätze zu präsentieren, deren Weiterverfolgung hinsichtlich einer fundierenden Ausarbeitung sich sicherlich lohnen würde. Der Sammelband bietet einen inspirierenden Beitrag zur Neuverhandlung der Geschlechterfrage, indem er zum Weiterdenken und Weiterfragen anregt.
URN urn:nbn:de:0114-qn033152
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