Mitmachen oder wegschauen – Der Holocaust und die deutsche Bevölkerung

Rezension von Albrecht Wiesener

Victoria J. Barnett:

Bystanders.

Conscience and Complicity During the Holocaust.

Westport CT: Greenwood Press 1999.

185 Seiten, ISBN 0–313–29184–5, $ 64,95

Abstract: Victoria J. Barnett befasst sich mit der zentralen Frage jeder historischen Diskussion des Holocaust: Warum blieben die meisten Deutschen angesichts der brutalen und rassistischen Politik gegen die Juden passiv? Ihre Studie konzentriert sich auf das Phänomen der „Bystander“ – Zuschauer, Beobachter, Mitwisser – , das ethische und moralische Fragen zum Verhalten der Mehrzahl der Deutschen während des Holocaust aufwirft. Ausgehend von vielfältigem Quellenmaterial untersucht Barnett das Phänomen auf drei Ebenen: der individuellen, der institutionellen und der internationalen. Ziel des Buches ist es, den Leser/-innen eine komplexere Sicht auf das Verhalten von „Bystandern“ zu bieten, welche auch auf aktuelle Erscheinungsformen von Genozid und Terror angewendet werden kann.

Historische Mythen dergestalt, dass die Mehrzahl der Deutschen unbeteiligt und unwissend den Holocaust in Deutschland und Europa erlebten, bedürfen heutzutage keiner ausdrücklichen Revision durch die Historiker mehr. Die Forschung hat sich in den letzten Jahren verstärkt auch der Frage zugewandt, warum sich eine Mehrzahl der Deutschen angesichts der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Gesellschaft und der antijüdischen Diskriminierungspolitik ab 1933 passiv verhielt, wenn sie diese Politik nicht sogar offen unterstützte. Robert Gellately hat in seiner 2001 erschienenen Studie Backing Hitler. Consent and Coercion in Nazi Germany überzeugend nachgewiesen, dass die Deutschen nach der Machtübernahme Hitlers keinesfalls eine offen antisemitische Politik einforderten, ihre Umsetzung gleichwohl durch die Denunziation jüdischer Kollegen und Nachbarn häufig genug überhaupt erst ermöglichten. Wenn die Mehrzahl der Deutschen der Diskriminierung und Ausgrenzung einer jüdischen Minderheit wissend beiwohnte, dann stellen sich auch Fragen nach den ethischen Ressourcen und der moralischen Verantwortung derjenigen, die „nur“ zuschauten oder in Passivität verharrten.

Diese Kernfrage der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nach 1945 verfolgt auch das Buch von Victoria J. Barnett über die „Bystander“ – über die Zuschauer, Beobachter und Mitwissenden.

Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei diesen Zeugen des Geschehens nicht um eine klar abzugrenzende Gruppe von Menschen, vielmehr wird dadurch die große Masse der passiv Beteiligten bezeichnet, die sich weder zu den Opfern noch zu den Tätern rechnen lassen und vor allem durch ihr Schweigen „auffielen“ (XIV). Barnett verfolgt dabei nicht die Absicht einer historischen Betrachtung dieses Phänomens, vielmehr sollen vor allem im Rückgriff auf die Holocaust-Literatur einige Faktoren herausgestellt und untersucht werden, die das Verhalten von gewöhnlichen Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus bestimmten (vgl. S. XVI). Auf dieser Grundlage sucht sie nach generellen Erklärungsmustern für das Verhalten von „Bystandern“, die auch zum Verständnis von aktuelleren Erscheinungen wie dem Völkermord in Ruanda 1994 beitragen können.

Um zu einer historischen Charakterisierung der Figur des „Bystander“ zu gelangen, verdeutlicht Barnett die schrittweise Gleichschaltung der Gesellschaft durch die lokalen Eliten und Bewohner, wie sie Frances Henry in ihrem Buch Victims and Neighbors. A Small Town in Nazi Germany Remembered beispielhaft untersucht hat (vgl. S. 4). Anhand der Studie von Gordon Horwitz In the Shadow of Death. Living Outside the Gates of Mauthausen lässt sich vor allem der Kenntnisstand und die Einbindung der Anwohner eines Konzentrationslagers dokumentieren. Zugleich geht sie aber auch auf die Veralltäglichung des Terrors ein: die nicht vorhandene physische Distanz zum Geschehen im KZ kompensierten die Anwohner durch Wahrnehmungsblockaden und Ignoranz (vgl. S. 6 f.).

Es erweist sich als wenig hilfreich, dass Barnett in ihren einleitenden Bemerkungen über die Figur des „Bystanders“ nicht deutlich genug zwischen historischen und ethischen Beschreibungen unterscheidet – ein Problem, das sich durch das ganze Buch hindurchzieht. Historisches Verstehen und ethische Reflexion über das Verhalten von „Bystandern“ im Nationalsozialismus wechseln sich häufig ab, ohne dass sie dadurch zu konzisen Aussagen über die unterschiedlichen Bewusstseinslagen und Handlungsoptionen der Augenzeugen, Mitläufer und Mitwissenden des Holocaust gelangt. Die von ihr zitierten Arbeiten von Kershaw und Gellately zeichnen sich dagegen durch dezidiert historische Fragestellungen aus und gelangen somit zu subtileren Einschätzungen. Barnett operiert zudem häufig mit einem moralisch aufgeladenen Normalitätsbegriff, der kaum weiter führt. Deutlich dürfte auch ohne den Verweis darauf sein, dass soziale und kulturelle Gegebenheiten einer nationalsozialistischen Mitläufergesellschaft nur untersucht werden können, wenn man ihre politische Durchherrschung berücksichtigt. Hinsichtlich des Normalitätsbegriff besteht zudem ein eklatanter Unterschied darin, ob die Stabilität eines Herrschaftssystems wie des Nationalsozialismus untersucht oder unter Berücksichtigung ethisch-moralischer Aspekte die Genese des Holocaust rekonstruiert werden soll, die insbesondere davon lebt, dass bestimmte Normalitätskriterien außer Kraft gesetzt werden. Dies wird besonders durch die Holocaust-Literatur und die Memoiren von Überlebenden deutlich, die die Normalität nationalsozialistischer Lebenswelt als eine „terrible illusion“ offenbaren (S. 91).

Immerhin scheint ihre auf Ervin Staub (The Roots of Evil) zurückgehende Unterscheidung zwischen individuellem, institutionellem und internationalem Handlungsbezug hilfreich, um zumindest die ethisch-moralischen Aspekte der Verantwortung und Mitschuld am Holocaust näher zu beleuchten (S. 13).

Im Hinblick auf das individuelle Verhalten von „Bystandern“ verdeutlicht Barnett die Notwendigkeit, dieses in Bezug zu den jeweiligen sozialen und politischen Zusammenhängen zu setzen. Gleichwohl lassen sich die Handlungsprämissen Einzelner im Nationalsozialismus nicht erschöpfend aus den Ambivalenzen der industriegesellschaftlichen Moderne (Zygmunt Baumann) erklären, die Analyse muss ebenso viel kleinteiligere Motivationshintergründe berücksichtigen wie die. Fallstudien von Henry und Horwitz, vor allem aber die Forschung zu Widerstand und Opposition im Nationalsozialismus zeigen (vgl S. 17). Dadurch lässt sich, so Barnett, sehr viel deutlicher darstellen, wie sich Individuen den veränderten politischen Umständen angepasst und ihre Weltsicht und ethisch-moralischen Bewertungen darauf hin ausgerichtet haben: „Denial, moral equilibration, and doubling are all mechanisms by which individuals conformed to Nazi society“ (S. 29). Angesichts der allgegenwärtigen Diskriminierung und Terrorisierung eines Teils der Bevölkerung durch die nationalsozialistischen Machthaber bedurfte es allerdings zusätzlicher Mechanismen, die diese veränderte Weltsicht als akzeptabel und kommunizierbar erscheinen ließen. Neben der Resozialisierung individueller und kollektiver Einstellungen und Formen der Distanznahme gegenüber den Opfern bedarf es Barnett zufolge vor allem einer Vorstellung unter den Individuen, dass die äußere Welt einer sinnhaften Ordnung gehorcht, somit die Ausgrenzung und Tötung von anderen Individuen „Sinn“ macht und „gerecht“ ist (S. 29). Diese Haltung zeigte sich in vielfältiger Ausprägung ebenso auf der institutionellen Ebene. Barnett gibt das Beispiel der Evangelischen Kirche in Deutschland: In ihrem Bestreben, durch den Verzicht auf politische Parteinahme ein größtmögliches Maß an institutioneller Autonomie zu bewahren, hatte die Kirche anderen Formen der Diskriminierungspolitik des Nationalsozialismus wenig entgegenzusetzen. Zugleich verdeutlichten sich darin eine spezifischer Autoritätsgläubigkeit und eine rationale Weltsicht der Evangelischen Kirche, durch die Verantwortung und Bewusstsein an eine höhere Instanz delegiert wurden, um in der privaten bzw. institutionellen Wirklichkeit die Illusion einer Normalität aufrecht zu erhalten (vgl. 39 und 43). Die daraus resultierende „compartmentalization of ethics“, so Barnett, lässt sich weiter bis auf die Ebene internationaler Organisationen und Staaten verfolgen, deren passive Rolle während des Holocaust Gegenstand zahlreicher Diskussionen nach 1945 geworden ist (S. 45 – 59).

Gleichgültigkeit (indifference) und Stille (silence) markieren zwei weitere Aspekte, durch die sich Verbindungslinien zwischen der individuellen, institutionellen und internationalen Konfrontation mit dem Holocaust aufzeigen lassen und die die „moral world of the bystanders“ (S. 58) charakterisieren. Barnett zufolge waren es nicht allein rassistische Vorurteile, die das Verhalten der „Bystander“ bestimmten, seien es nun Individuen oder Institutionen. Sehr viel beherrschender erscheint ihr im Rückblick auf die Erfahrungen der Überlebenden die Gleichgültigkeit des überwiegenden Teils der Deutschen wie auch der internationalen Gemeinschaft – eine Gleichgültigkeit, die sich wie eine grauer Nebel über die Schauplätze der Verbrechen zu legen schien und durch die sich die rassistische Politik der Nationalsozialisten überhaupt erst entfalten konnte (vgl. S. 113).

Gleichgültigkeit war die vorherrschende Form des Umgangs mit dem Holocaust. Selbst die Opfer entwickelten angesichts des Terrors und der Vernichtungsmaschinerie eine fast ausschließlich passive Haltung zum Geschehen. Barnett betont, dass Gleichgültigkeit einerseits zur Beschreibung eines zu beobachtenden Verhaltens dienen kann. Andererseits kann es sich aber auch um eine emotionale Gleichgültigkeit handeln: „In reality it is a complex, often unconscious mechanism, that can hide a number of emotions, ranging from fear of the Nazis to silent approval for what the Nazis were doing.“ (S. 118) Schwierigkeiten ergeben sich aber auch in der Diskussion dieses Begriffes durch Barnett, da sie nicht zwischen der historischen Rekonstruktion indifferenten Verhaltens und der moralischen Bewertung dieses Verhaltens unterscheidet, sondern häufig die Perspektiven wechselt. Ethische Aspekte lassen sich nur dann anführen, wenn unterschiedliche Handlungsoptionen gegeneinander abgewogen werden können und Gleichgültigkeit als eine bewusst angestrebte Form des passiven Verhaltens angesehen werden kann. Gleichgültigkeit entspricht dann eher einer Verhaltenstaktik als einer emotionalen Fremdheit gegenüber dem Opfer.

Im Hinblick auf das Thema der Stille verdeutlicht Barnett die Kontinuität im Verhalten der „Bystander“ vor und nach 1945. Über den Holocaust wurde weiterhin geschwiegen. Das Beispiel des Richters Lothar Kreyssig, der sich in der Nazizeit gegen das Euthanasieprogramm wandte und nach 1945 die Inkonsequenz gegenüber seinen eigenen moralischen Ansprüchen bekannte, war eine Ausnahme (vgl. S. 126 f.).

Die durch den nationalsozialistischen Terrorapparat geschaffene „Realität“ verdankte ihre Stabilität vor allem der Erzeugung einer Doppelwelt, deren beide Sphären gleichwohl nur zwei Seiten einer Medaille waren: „In one part people suffered horribly; in the other, people continued to live normal lives, pursue careers, and raise their children. All Holocaust literature – both fictional and historical – show us how close these worlds were to another.“ (S. 129) Barnett zufolge ist der entscheidende Garant für die Stabilität dieser Doppelwelt das fehlende ethische Bewusstsein einer Verbindung dieser beiden Sphären unter den „Bystandern“.

Zum Schluss der Darstellung diskutiert Barnett am Beispiel der französischen Gemeinde Le Chambon, in der unter dem Pastor André Trocmé 2 500 Juden vor der Deportation bewahrt wurden, die Möglichkeiten, sich dem nationalsozialistischen Vernichtungsapparat entgegenzustellen (vgl. S. 153 – 163). Der von ihr in diesem Zusammenhang diskutierte Begriff der „disruptive empathy“ (S. 150) verdeutlicht die Einsicht unter den Helfenden, dass die aus den Fugen geratene Welt nur durch die unmittelbare Empathie mit dem Nächsten zu überleben sei, und dass die herrschende Normalität infrage gestellt werden müsse. Der Begriff der Empathie ist problematisch, da er historisch nichts erklärt. Ist eine „disruptive empathy“ die Voraussetzung dafür, dass aus Mitläufern Helfer werden, oder bedarf es dazu wie im Fall Chambon einer durch längeres Bemühen Einzelner erzeugten Atmosphäre des Widerstandes (vgl. S. 157 f.)? Was lässt sich daraus generell für die Figur des Helfers im Gegensatz zum „Bystander“ im Nationalsozialismus ableiten?

Der Erkenntnisgehalt dieser Studie lässt sich angesichts der methodisch und begrifflich inkonsistenten Argumentation nur schwer bemessen. So erscheint es folgerichtig, dass Barnetts Schlusssequenz in einer moralisierenden Perspektive verbleibt, die über den historischen Kenntnisstand nicht hinaus weist: „Perhaps the central issue is the nature of goodness that we see in Le Chambon. […] The ‚mystery of the good‘ – the spark that moves people to help another, to resist evil, to risk their lives for principles – remains elusive. Religious and politcal convictions are obvious influences. Yet there were thousands of people – good, decent people of religious faith and moral convictions – who nonetheless failed, in the moment of crisis, to be anything more than bystanders. „ (S. 174.)

URN urn:nbn:de:0114-qn033164

Albrecht Wiesener

Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V.

E-Mail: wiesener@zzf-pdm.de

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