Gudrun Wedel:
Lehren zwischen Arbeit und Beruf.
Einblicke in das Leben von Autobiographinnen aus dem 19. Jahrhundert.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2000.
333 Seiten, ISBN 3–205–99041–2, € 47,80
Abstract: Durch eine differenzierte Auswertung von 32 Autobiographien von lehrenden Frauen aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts eröffnet die Verfasserin neue Perspektiven. In ihrer vergleichenden und differenzierenden Darstellung wird deutlich, dass Frauen in weit stärkerem Maße als bisher angenommen lehrend tätig waren. Dabei nimmt die Verfasserin auch die nichtschulische Arbeit in den Blick.
Gudrun Wedel unternimmt es im vorliegenden Buch, die Frage zu beantworten, weshalb und wie Frauen im 19. Jahrhundert Lehrtätigkeiten ausübten. Diese Frage stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen bürgerlichem Frauenideal (das als Erwerbstätigkeit nur die Lehrtätigkeit zuließ) und individuellen Bedürfnissen. Die Verfasserin kann dabei aus langjährigen Forschungen zu weiblichen Autobiographien schöpfen. Sie geht dabei über die bisher übliche Bearbeitung einzelner Texte hinaus.
Befruchtend wirkten auf die Arbeit u. a. die Bürgertumsforschung und die soziologische Biographieforschung. Wedel verwendet einen weiten Begriff von Arbeit, der die Beschränkung auf den Beruf aufhebt, sie schließt „gesellschaftliche Arbeit“ (S. 6) mit ein. Grundlage der Darstellung sind gedruckte Autobiographien, nur ergänzend werden auch Briefe und Tagebücher herangezogen. Durch „gedruckte“ Autobiographien soll dasjenige Selbstbild der Autorinnen erfasst werden, das der öffentlichen Kritik ausgesetzt werden sollte und somit die Selbstverortung innerhalb der gesellschaftlichen Normen wiedergibt. Sie werden als nichtliterarische Texte aufgefasst, da ja über Wirklichkeit gesprochen werden soll. Die Verfasserin vertraut bis zum Beweis des Gegenteils auf die Wahrheit der jeweiligen Quelle (S. 22), das jedoch in methodisch sehr differenzierter Weise.
Für die Auswertung wird ein Methodenmix verwendet. Konstituierend ist der Vergleich der einzelnen Texte. Die mittlere Gruppengröße des Samples erlaubt eine differenzierte Deskription, aber weder Verallgemeinerbarkeit noch Detailüberprüfung. So werden einerseits Strukturen deutlich, andererseits gewinnt das Bild Farbe. Dabei beschränkt sich die Untersuchung nicht auf berufsmäßige Lehrerinnen – es geht wirklich um das Lehren durch Frauen.
Der Großteil der 32 Autobiographinnen wird drei Kohorten nach Geburtsjahrgang 1815–1817, 1848–1850 und 1877–1879 entnommen. Hinzu kommen diejenigen Frauen, die zur gleichen Generation (1800–1830, 1830–1860, 1860–1890) gehörten und schon im Titel ihrer Autobiographie auf ihre Lehrtätigkeit verwiesen. Neben dem Beruf des Vaters (in der Sozialisationsphase der Töchter!) wird eine entsprechende Charakterisierung der Mütter vorgenommen.
Die eigentliche Untersuchung wird mit einer ausführlichen Beschreibung des schulischen Kontexts der weiblichen Lehrtätigkeit eröffnet. Unter der Überschrift „Zeiten“ werden Biographie, Arbeitszeit und der Zeitaufwand für die Erwerbstätigkeit in den Blick genommen. Es ergibt sich in der Generationenabfolge eine zunehmende Dominanz der kleinstädtischen Herkunft gegenüber der dörflichen. Überdurchschnittliche viele Vertreterinnen stammen aus Norddeutschland. Katholikinnen kommen kaum vor. Der Herkunft nach stammen die Verfasserinnen der Autobiographien ganz überwiegend aus der Oberschicht, erst später auch aus der Mittelschicht, genauer aus dem Dienstleistungssektor (unter Einschluss der Beamten). Erst für die dritte Generation kann eine Erwerbstätigkeit auch der Mütter festgestellt werden. Berufe werden kaum vererbt. Heiraten der Autobiographinnen sind vorwiegend in der zweiten Generation anzutreffen.
Im Bildungsweg blieb der häusliche Unterricht eine Ausnahme. Fast regelmäßig wurden Privatschulen besucht. Hier wie an anderer Stelle ersetzt die Verfasserin Verallgemeinerungen sinnvollerweise durch eine differenzierte Darstellung einzelner Fälle. In der Generationenabfolge nahm die regelrechte Lehrerinnenausbildung zu, sie wurde jedoch fast immer zunächst als Bildung und erst in zweiter Linie als Berufsbildung verstanden. Das Fächerspektrum, für das Kompetenz erworben wurde, wuchs. Klar wird, dass die Lehrtätigkeit nicht als einzige Möglichkeit materieller Absicherung wahrgenommen wurde. Sie war auch wenig lukrativ, da die untersuchten Lehrenden Geld auch mit anderen Tätigkeiten verdienten. Lange andauernde Lehrerinnentätigkeit ist eher als Ausnahme anzusehen. Die Lehrtätigkeit verliert in der dritten Generation an Bedeutung. In der zweiten Generation wurde Lehrtätigkeit am häufigsten unterbrochen, oft mit dem Zweck weiterer Qualifikation. Zunehmend wurde die Lehrerinnenausbildung als ein Mittel zur Verwirklichung weitergehender Aspirationen genutzt. Die Lehrtätigkeit fand aus verschiedensten Gründen und zu verschiedensten Zeiten innerhalb der Biographie ihr Ende.
Im Abschnitt „Orte“ werden die geographische Verteilung der Tätigkeitssorte und dann die „Institutionen“ Privathaushalte, Internatsschulen, Schulen und Kurse thematisiert. Im gesamten Zeitraum überwiegen die Privathaushalte und die Schulen, der Anteil der Schule ist am stabilsten. Die Tätigkeit in Kursen nimmt zu.
Im „Ausblick“ fasst Gudrun Wedel ihre Ergebnisse zusammen. Man hätte sich die Formulierung weitergehender Forschungsfragen und die stärkere Problematisierung des Verhältnisses von (gedrucktem) Selbstbild und gesellschaftlicher Norm gewünscht. Der Anhang enthält die Kurzbiographien der 32 untersuchten Autobiographinnen. Der Band wird durch drei ausführliche Register erschlossen. Es ist bemerkenswert, was Gudrun Wedel an Systematisierung und Differenzierung leistet. Sie belegt schlüssig, dass Frauen in viel größerer Zahl in Lehrtätigkeit vielfältigster Art tätig waren, und erweitert damit den Stand der historischen Erkenntnis zur Problematik der Lehrerinnen im 19. Jahrhundert ganz wesentlich.
URN urn:nbn:de:0114-qn033178
Hans-Martin Moderow M.A.
Universität Leipzig, SFB 417 „Regionenbezogene Identifikationsprozesse“
E-Mail: moderow@rz.uni-leipzig.de
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