Mary Flanagan, Austin Booth (Hg.):
reload.
rethinking women + cyberculture.
Cambridge,Ms., London: The MIT Press 2002.
581 Seiten, ISBN 0–262–56150–6, € 30,55
Abstract: Obgleich sich um die Frage nach einer feministischen Eroberung des Cyberspace in den vergangenen Jahren nicht nur ein breites Feld streitbarer Diskurse gebildet hat, sondern mittlerweile auch eine Reihe markanter Mythen ranken, wird sie sowohl vom Mainstream der akademischen Medientheorie als auch von den Protagonisten der populären Cyberkultur nach wie vor allenfalls als Marginalie verhandelt. Ob Bücher genderspezifische Bildungslücken schließen können, sei einmal dahingestellt. Mit reload. rethinking women + cyberculture haben die Multi-Media-Künstlerin Mary Flanagan und die Gender-Medien-Theoretikerin Austin Booth jedenfalls einen Sammelband vorgelegt, der nicht nur Betriebsblinden und Einäugigen hinreichend Stoff zum Nachlesen und Nachdenken bietet, sondern in seiner Kombination aus feministischer Cyberfiktion und kritischen Essays zu Utopien und Realitäten der zeitgenössischen Cyberkultur spannende Querverbindungen zwischen Theorie und Praxis herzustellen verspricht.
Nach einer kurzen Hochzeit des Hypes ist es um die feministische Auseinandersetzung mit der Cyberkultur wieder etwas stiller geworden. Genauer gesagt: Mindestens in Deutschland scheint Cyberfeminismus zwar zeitweise zum „Buzzword“ aufgestiegen, gleichwohl aber den meisten ein Fremdwort geblieben zu sein. Ebenso als ab Mitte der Neunziger Jahre sowohl dessen künstlerische Praxis wie auch dessen Theoriebildung weitgehend außerhalb des akademischen Rahmens stattfanden[1], sind beide – von wenigen Ausnahmen im Umkreis der feministisch orientierten Kunst- und Sozialwissenschaften einmal abgesehen – in ebendiesem Feld letztlich bis heute nicht wirklich angekommen.
Etwas anders gestalten sich die Dinge im angloamerikanischen Sprachraum, aus dem jene beiden Autorinnen stammen, die gerade hierzulande gern als Galionsfiguren der cyberfeministischen Theorie gehandelt werden: Zum einen die US-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway, die bereits Mitte der Achtziger ihr mittlerweile legendäres Manifesto for Cyborgs verfasst hat, an das sie später mit weiteren einschlägigen Publikationen zum Spannungsfeld von Informationstechnologie und Biopolitiken anschließen sollte[2]. Zum anderen die britische Kulturwissenschaftlerin Sadie Plant, die den Begriff „Cyberfeminismus“ in ihrem 1996 veröffentlichten Buch[3]. Auf dieser Basis bildete sich, in engem Austausch mit anderen kritisch orientierten Disziplinen wie den Queer Studies und den Postcolonial Studies sowie auch mit Künstlerinnen und Schriftstellerinnen, hier ein gerade auch auf dem akademischen Feld ebenso kontinuierlich wie breit geführter, vielstimmiger Diskurs heraus – der allerdings selbst in den aus europäischer Perspektive hinsichtlich ihrer Vorreiterrolle für die universitäre Institutionalisierung von Disziplinen wie den Gender Studies beneideten Staaten immer wieder gegen seine Marginalisierung anzukämpfen hat.
Um so begrüßenswerter muss es erscheinen, wenn nun an prominentem Ort – nämlich dem Verlag des renommierten Massachusetts Institute of Technology und damit der ersten Adresse für einschlägige Publikationen – ein Sammelband publiziert wird, der bereits in seinem Titel reload. rethinking women + cyberculture eine reflexive Standortbestimmung ankündigt – und zudem schon bei einem flüchtigen Blick in das Inhaltsverzeichnis dieses Vorhaben mit einem spannenden Ansatz zu verbinden verspricht: nämlich einerseits Texte aus dem Genre der feministischen Science Fiction zugänglich zu machen, das bereits von Donna Haraway zu einem wichtigen Produktionsfeld alternativer Techno-Diskurse erklärt worden war – und diese andererseits mit einer Auswahl von theoretisch orientierten Forschungsessays zu verschränken.
Eine solche wechselseitige Erhellung von praktizierter Theoriebildung, die sich mit dem Fiktionalen beschäftigt, und einer theoretisch informierten Praxis der fiktionalen Literatur könne nicht allein, so die beiden Herausgeberinnen Austin Booth und Mary Flanagan, der Cyberkultur am besten gerecht werden, die ihrerseits ein Konglomerat von Hybridbildungen aus verschiedensten Strömungen von Alltags- und Popkultur, akademischen und intellektuellen Diskursen und Phantasmen bilde.
Vielmehr sei es den Protagonistinnen beider Gebiete in den vergangenen Jahren in beispielhafter Weise gelungen, sowohl die „revolutionären Versprechen“ als auch die „reaktionären Effekte“ historischer, gegenwärtiger und zukünftiger technologischer Entwicklungen zu erkunden und kritisch zu durchleuchten. Und wenn dabei bereits in den Texten vieler Theoretikerinnen die Auseinandersetzung mit den Fiktionen und umgekehrt in den Texten der Science-Fiction-Autorinnen die Hinterfragung der Theoriebildung Wesentliches auch zu deren wechselseitiger Reflexion habe beitragen können, so sei dies um so mehr von einem Buch zu erwarten, das beide Textgattungen ineinander vereint.
Die in ihrem Band versammelten Geschichten und Essays sollen „vielfältige Alternativen zu den Narrationen über Hacker, Konsolencowboys, feministische Cyborgs und die Mythen einer ‚geschlechtsfreien‘ Cyberkultur“ bieten, insofern sie deren charakteristische Topoi und Figurationen weder als reine Projektionsflächen männlicher Autoritäts- und Repräsentationsansprüche verhandeln noch auch vorbehaltlos zu Metaphern und Vehikeln weiblicher Utopien erklären wollen. Vielmehr solle sich ein vielstimmiges Bild des „Cyberspace“ ergeben, das diesen in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit fassen könne, nämlich als einen Raum, in dem es „Unterdrückung ebenso gibt wie Platz für taktische Manöver“.
Ungeachtet dieses hohen und in einigen Formulierungen durchaus auch seinerseits deutlich an den Tropen des Cyberdiskurses genährten Anspruchs ihrer Vorbemerkungen, bieten die Herausgeberinnen mit dem anschließenden Einleitungsessay gerade auch für diejenigen Leser/-innen einen guten Einstieg in die Materie, die sich mit dem Buch auf Neuland wagen – und geben mithin beispielsweise auch deutschen Hochschuldozent/-innen einen guten Überblickstext an die Hand, den diese Studierenden weiterreichen können, die sich mit einer feministischen Perspektive auf Theorie und Praxis der Cyberkultur vertraut machen wollen. So wird die Entwicklung des angloamerikanischen feministischen Science Fiction anhand seiner verschiedenen Strömungen, seiner wichtigsten Themen und Topoi erläutert, eine kritische Einführung in das Genre des „klassischen“ Cyberpunk gegeben, zentrale Thesen der feministische Wissenschafts- und Technologiekritik von Evelyn Fox Keller über Sandra Harding bis hin zu der – im deutschen Sprachraum bislang noch wenig rezipierten – AI-Theoretikerin Alison Adam vorgestellt ([4], um schließlich zu einer zwar ebenfalls an bekannten „Fixsternen“ wie Donna Haraway, Sadie Plant, Anne Balsamo, Rosie Braidotti und N. Katheryne Hayles orientierten[5], dabei aber ebenso klaren wie erfreulich differenzierten Darstellung des mittlerweile seinerseits recht komplexen Diskursfeldes zu gelangen, das mit dem Begriff „Cyberfeminismus“ assoziiert wird.
„In Praxis und Theorie gleichermaßen begründet, vereinigt Cyberfeminismus in sich neue feministische Ansätze, denen gemeinsam ist, dass sie die ‚Kodierungen‘ der Technologien hinterfragen und die komplexen Beziehungen zwischen Geschlecht und digitaler Kultur erforschen wollen.“ [“Grounded in both practice and theory, cyberfeminism can be thought of as a new wave of feminist theory and practice that is united in challenging the ‚coding‘ of technology and in investigating the complex relationships between gender and digital culture.“]. (S. 11)
Wer diesen Satz schon mitsingen kann – beziehungsweise mit dem Feld des feministischen Science Fiction und den wichtigsten Diskussionen im Bereich Gender- und Medientheorie vertraut ist, darf die Einführung natürlich auch querlesen und sich etwas rascher dem Hauptteil des Buches widmen, der in drei thematische Schwerpunkte gegliedert ist: Im ersten, „Women using Technology“ überschrieben, finden sich unter anderem Klassiker wie Anne McCaffreys The Ship Who Sang oder – dem Rahmen entsprechend leider nur in einem Auszug – Melissa Scotts großartige Erzählung Trouble and Her Friends mit einem kritischen Essay zu dem als Inkunabel der feministischen Cyborg-Fiction geltenden Roman von Marge Piercy, He, She, and I.[6]
Der zweite Teil steckt mit Beiträgen, deren Spektrum von Lisa Nakamuras Reflexionen zu „Geschlecht, Technologie und Identitätspolitiken“ bis zu Julie Doyles und Kate O’Riordans Untersuchung der Vergeschlechtlichung von Cyber-Körpern im Sektor der Medizin und ihrer Diskurse reicht, den Raum des „Visual/Visible/Virtual Subject“ ab, zugleich werfen hier die aus den vierziger, achtziger und neunziger Jahren stammenden literarischen Texte von C.L. Moore, Octavia Butler und Amy Thomson auch Schlaglichter auf die Veränderungen in den jeweiligen zeithistorischen Koordinaten, die Identitätspolitiken, Geschlechter- und Wissenschaftsdiskurse gleichermaßen bestimmen.[7]
Der dritte Teil schließlich ist lapidar mit dem Stichwort „Bodies“ überschrieben – was zunächst ein wenig befremden mag. Insofern „Körper“-Reflexionen in der feministischen Theorie und Praxis zwar seit je zu den zentralen Angelpunkten zählen, ihnen aber mindestens ebenso gern von denjenigen „auf den Leib geschrieben werden“, die letzteren nach wie vor „dem“ Weiblichen zuordnen und es schon von daher nur „natürlich“ finden, wenn sich selbst „Geistes“-Wissenschaftlerinnen vorzugsweise mit dem (scil. „ihrem“) Körper beschäftigen. „Den“ weiblichen Körper wird man in den hier versammelten Texten jedoch ebenso wenig finden wie „den“ (cyber)feministischen „Körperdiskurs“. Vielmehr spüren die Beiträge zu „Sehnsucht, Identifikation und Virtueller Verkörperung in feministischen Narrationen des Cyberspace“ (Thomas Foster) oder den „Performance-Politiken von Cyborgs“ (Theresa M. Senft) aus kritischer Perspektive höchst unterschiedlichen Ent- als auch Verkörperungsphantasien nach, während es eine weitere Grande Dame des feministischen Science Fiction, James Tiptree Jr. (a.k.a. Alice Sheldon) ist, die mit ihrer Erzählung The Girl Who Was Plugged In aus dem Jahr 1973 – der Beschreibung eines echten Konsolen-Cowgirl – einen passenden Schlussakkord anschlägt.[8]
Man mag es als einen – denkbar dicken – Wermutstropfen empfinden, dass das Buch im Spektrum seiner Beiträge und auch in der Auswahl seiner Autor/-innen nahezu ausnahmslos auf die anglo- bzw. nordamerikanische Perspektive fixiert ist. Und auch, dass es für diejenigen, die sich schon länger vor feministischem Hintergrund mit der Cyberkultur beschäftigen, zu einem Wiedersehen mit all zu vielen „alten Bekannten“ (Theorien, Topoi, Tropen und Texten) führt. Kurz gesagt: Viel mehr und anderes als das, was sich einschlägig Interessierte in den vergangenen Jahren Stück um Stück auf Symposien und aus Lesungen mitgenommen, aus Monographien und Symposiumssammelbänden, Short-Story-Collections und Romanen, aus Bibliotheken, Buchhandlungen und nicht zuletzt aus dem Netz zusammengeklaubt haben, hat – wenn man von den einzelnen Beiträgen ausgeht – auch Rethinking Women + Cyberculture nicht zu bieten. Doch das will das Buch auch nicht: Nicht umsonst steht es unter dem Motto reload – und dürfte, wie eingangs bereits bemerkt, gerade denen, die eher mit der nicht weniger monokulturell orientierten deutschsprachigen Medientheorie „aufgewachsen“ sind, durchaus noch eine reichhaltige Auswahl an „Uploads“ bzw. „Upgrades“ bieten.
Seinem „Versprechen“ wird es im Übrigen trotzdem gerecht: dadurch nämlich, dass sich die vielstimmigen Beiträge des Buches tatsächlich auch sequentiell lesen lassen und dabei sowohl sinnvolle als auch spannende Querverknüpfungen herzustellen gestatten. Was man wohl von den wenigsten Theorie-Sammelbänden und ganz sicher auch nicht von allen literarischen Anthologien – geschweige denn den in der Regel starke qualitative Varianzen aufweisenden „klassischen“ Sellern mit SF- und Cyberpunk-Short Stories – behaupten kann.
[1]: Vgl. z.B. die vom Old Boys Network herausgegebenen Reader zur First Cyberfeminist International 1997 (Hamburg 1998), zur Next Cyberfeminist International 1999 (Hamburg/Berlin 2000) und zur Very Cyberfeminist International 2001 (2002) sowie die OBN Homepage http://www.obn.de.
[2]: Vgl. Donna Haraway: A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980‘s. In: Socialist Review, Nr. 80, 1985, S. 65–108; sowie: dies.: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Hrsg. Carmen Hammer/Immanuel Stieß, Frankfurt/New York 1995; dies. Monströse Versprechen. Hrsg. Frigga Haug/Kornelia Hauser, Hamburg 1995; Modest_Witness@Second_Millenium. FemaleMan©_Meets_OncoMouseTM. Feminism and Technoscience, New York/London 1997.
[3]: Vgl. Sadie Plant: Zeros + Ones. Digital Women and the New Technoculture, New York/London, 1996; dtsch.: nullen + einsen. Digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien, Berlin, 1998 u. München, 2000.
[4]: Vgl. Evelyn Fox Keller: Reflections on Gender and Science, New Haven 1996, dies.: Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft?, München 1986, sowie dies.: Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert, Tübingen 1998; Sandra Harding: Sex and Scientific Inquiry, Chicago 1987, dies.: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu, Frankfurt a.M./New York 1994; Adam, Alison: Artificial Knowing: Gender and the Thinking Machine. London, New York 1998.
[5]: Vgl. zu Haraway u. Plant oben Anm. 1 u. 2; Anne Balsamo: Technologies of the Gendered Body. Reading Cyborg Women, Durham/London 1996; Rosie Braidotti: Nomadic Subjects. Embodiement and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994; Between Monsters, Godesses and Cyborgs. Feminist Confrontations with Science, Medicine and Cyberspace, Hrsg. Rosi Braidotti/Nina Lykke, London/New Jersey 1996; Katherine N. Hayles: How we became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics, Chicago 1999.
[6]: Vgl. Anne McCaffrey: The Ship Who Sang (1961), Reprint New York 1993, dies.: Die Wiedergeborene, Hamburg 2000; Melissa Scott: Dreaming Metal, New York 1997, dies.: Die Freundlichen, München 1992; Marge Piercy: Er, Sie und Es, Hamburg 1993.
[7]: Vgl. Octavia E. Butler: Die Parabel vom Sämann, München 1999.
[8]: Vgl. James Tiptree Jr./Andrew Smith: Her Smoke Rose Up Forever, 1990; dies.: Die Sternenkrone. Erzählungen, München 1999.
URN urn:nbn:de:0114-qn041044
Verena Kuni M.A.
Frankfurt a.M./gendersenses – Zentrum für Genderforschung in den Künsten (HfMDK Frankfurt a.M.); Universität Trier/Kunstgeschichte
E-Mail: kuni@gendersenses.net
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