Eine neue Deutung der Erzählung von der blutflüssigen Frau

Rezension von Angela Berlis

Ulrike Metternich:

„Sie sagte ihm die ganze Wahrheit“.

Die Erzählung von der „Blutflüssigen“ – feministisch gedeutet.

Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag 2000.

256 Seiten, ISBN 3–7867–2234–X, € 24,50

Abstract: Ulrike Metternich legte eine neue Deutung der Erzählung von der blutflüssigen Frau (Mk 5, 25–34), in der die Geschichte vom Makel des Mirakulösen sowie von der antijudaistischen Auslegungstendenz befreit wird. Die Autorin behandelt die Auslegungsgeschichte und vergleicht jüdische mit frühchristlichen Menstruationsvorschriften. Ihrer Auslegung nach handelt es sich um eine „Dynamis“-Geschichte: einer Geschichte über die spürsame Wirksamkeit göttlicher Kraft, in der einer Frau die Herstellung einer gelungenen Gottesbeziehung gelingt.

Die Erzählung von der blutflüssigen Frau ist ein biblischer „Schlüsseltext für feministische Theologie“. (S. 11) Zu diesem Urteil kommt die Neutestamentlerin Luise Schottroff in ihrem Vorwort. Denn Frauen lesen die Geschichte und identifizieren sich mit der Frau, die zwölf Jahre lang unter Blutungen litt. Jahrelang suchte diese vergeblich bei Ärzten Hilfe, gab dabei ihr ganzes Vermögen aus, wurde aber nicht kuriert. Statt dessen ging es ihr immer schlechter. Eines Tages hörte sie von Jesus, ging zu ihm, berührte sein Gewand und wurde durch die Kraft, die von ihm ausgegangen war, geheilt.

Diese Erzählung, die im Markusevangelium (5, 25–34), aber auch im Matthäus- und im Lukasevangelium überliefert ist, nimmt Ulrike Metternich in ihrem Buch unter die Lupe. In neun Kapiteln stellt sie die Ergebnisse ihrer Untersuchung vor. Dabei schlägt sie einen Bogen vom Text der Perikope (2. Kap.) zur Auslegungstradition von Wundergeschichten (3. Kap.) sowie der vorliegenden Geschichte (4. Kap.). Jeweils ein Kapitel sind den Menstruationsvorschriften im Judentum und der Beurteilung der Menstruation in der frühen Kirche gewidmet. In den zwei folgenden Kapiteln legt Metternichs ihre eigene Deutung der Erzählung vor, die sie im letzten Kapitel in einem „Midrasch“ ausarbeitet.

Im einleitenden ersten Kapitel erläutert die Autorin ihre feministisch-befreiungstheologische Herangehensweise. Die Erfahrungen von Frauen bilden danach den Ausgangspunkt der theologischen Reflexion. Metternich interpretiert die Geschichte als Heilungsgeschichte einer Frau. Doch wovon ist die Frau befreit worden? Abhängig von dem hermeneutischen Vorverständnis des/r betreffenden Kommentator/-in kommt diese/r zu unterschiedlichen Schlüssen: Einmal wird die Frau von einer Krankheit, ein anderes Mal von einem falschen Glaubensverständnis, einem frauenverachtenden Menstruationsgesetz oder aus sozialer Isolation befreit.

Wie Metternich zeigt, bestimmen zwei Interpretationsmuster bis heute die Auslegungsgeschichte von Mk 5, 25–34. Erstens wird die Heilung der Frau als Wundergeschichte gelesen.

Die Art und Weise, wie solche Wundergeschichten ausgelegt werden, ist stark von der form- und gattungsgeschichtlichen Forschung bestimmt, wie sie die Theologen Martin Dibelius und Rudolf Bultmann zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Für Bultmann sind Wundergeschichten ein sekundärer Zuwachs im Stoff der Evangelien. Sie haben keinen besonderen historischen Wert, denn es handelt sich um Erzählungen, die dazu dienen sollten, dem Publikum des ersten Jahrhunderts Jesu göttliche Macht aufzuzeigen. Für heutige Leser/-innen haben sie Bultmann zufolge kaum theologische Bedeutung. Seine Deutung hatte zur Folge, dass die vorliegende Heilungswundergeschichte bis in die jüngste Zeit abgewertet wurde. Manche Exegeten sprechen vom „irrationalen“ Wunderglauben oder gar der „Wundersucht“ der Frau; sie gehen davon aus, dass Wundergeschichten aus der hellenistischen Umwelt stammen und Eingang fanden in die christliche Tradition. Jesus wird folgerichtig parallel zu hellenistischen Gottesmännern als „göttlicher Mensch“ dargestellt.
Die Interpretation als Wundergeschichte hat weitreichende Konsequenzen für die Art und Weise, wie Exeget/-innen das Handeln der Frau beurteilen. Die Frau tritt von hinten an Jesus heran und berührt sein Gewand. Dies wird als magische Handlung oder als Berührungszauber ausgelegt. Die Frau versucht sozusagen, Jesu magische Kraft „anzuzapfen“. Exeget/-innen legen das Handeln der Frau aus als Aberglauben; Jesus ist es, der sie davon befreit. Eine positive Bewertung des Handelns der Frau ist damit unmöglich gemacht. Metternich zeigt auf, dass diese Exegese nicht vorurteilsfrei ist: In Geschichten, in denen Jesus andere Menschen berührt, wird dies als „Heilung“ oder „Segnung“ ausgelegt, in der Geschichte der blutflüssigen Frau, in der die Frau als Handelnde auftritt, geht es um einen magischen Berührungszauber. (vgl. S. 55f.)

Das zweite Interpretationsmuster, das bis heute die Auslegungsgeschichte bestimmt, betrifft die Bewertung der Berührung durch die Frau als Grenzüberschreitung und damit als Bruch mit jüdischen Menstruationsvorschriften. So wird behauptet, die Frau und Jesus stellten sich gegen das jüdische Gesetz, indem sie bewusst jüdische Reinheitsgebote verletzen. Ulrike Metternich wendet sich gegen diese antijudaistische Auslegungstradition, die sich auch unter feministisch orientierten Exegetinnen findet.

Metternich untersucht in einem eigenen Kapitel jüdische Menstruationsvorschriften und deren Handhabung, angefangen beim biblischen Buch Levitikus über das Mischnahtraktat „Nidda“ (das Wort bezeichnet das Menstruationsblut, kann aber in einem weiteren Sinne auch „Unreinheit“ bedeuten) bis hin zur Gegenwart. Aufgrund ihrer Analyse des Alltagslebens jüdischer Frauen im ersten nachchristlichen Jahrhundert kommt die Autorin zu dem Schluss, dass jüdische Frauen „keiner gesellschaftlichen Diskriminierung ausgesetzt“ waren, wenn sie genitale Blutungen hatten. (S. 112) Eine jüdische Frau durfte (und darf) den levitischen Gesetzen und der Mischna zufolge während der Menstruation keinen Geschlechtsverkehr haben; seit der talmudischen Zeit wird dieser Zeitraum um sieben blutungsfreie Tage erweitert und das Verbot des Geschlechtsverkehrs auf jeglichen Körperkontakt zwischen den Ehepartnern ausgeweitet. Den levitischen Gesetzen zufolge gilt die Frau während ihrer Regel als unrein und darf den Tempel nicht betreten. Metternich wehrt sich gegen die sich vor allem auf die Einsichten der amerikanischen Anthropologin Mary Douglas stützende Behauptung, weibliches Blut führe aus dem Kult heraus. Denn das Einhalten der Niddavorschriften ist, wie Metternich aufzeigt, Teil jüdischer Religiosität, mit der die Menstruierende das Gesetz erfüllt. Die Frau, die Jesus berührte, tat jedenfalls nichts, „was der jüdischen Lebenspraxis ihrer Zeit widersprochen hätte“. (S. 113)

Nachdem die Autorin so die Auslegung widerlegt hat, nach der „Mk 5, 25–34 eine Paradegeschichte gegen jüdische Menstruationsvorschriften ist, die als Ausdruck patriarchaler Unterdrückung zu verwerfen seien“ (S. 133), beschreibt sie, wie die Kirchenväter die Geschichte in den ersten drei Jahrhunderten ausgelegt haben. Die Alltagswirklichkeit von Frauen spielt bei ihnen keine Rolle, sie benutzen die Geschichte, um in theologischen Fragen und zur christlichen Lebenspraxis Stellung zu beziehen. Die Kirchenväter sehen die blutflüssige Frau als Vorbild im Glauben. Gleichzeitig wird die Geschichte als Plädoyer für die Abschaffung jüdischer Ritualwaschungen herangezogen; die jüdische Reinigungspraxis wird dabei zugunsten der einmaligen Taufe in Frage gestellt. Ein dritter Auslegungsstrang benutzt die Geschichte im Zusammenhang mit der Frage nach der Reinheit und Heiligkeit des Altarraumes. Einige frühchristliche Autoren fordern, Frauen mit Genitalblutungen gemeint sind Menstruierende und Wöchnerinnen die Sakramente (Eucharistie und Taufe) vorzuenthalten. Hebammen, die sich noch nicht gereinigt haben, und Wöchnerinnen dürfen der Kirchenordnung Hippolyts zufolge (4. Jh.) den Sakralraum nicht betreten. Die Folgen solcher Bestimmungen reichen in unsere Zeit hinein: Bis in die sechziger Jahre durften in der römisch-katholischen Kirche Wöchnerinnen erst nach einer besonderen Segnung durch den Priester wieder am sonntäglichen Gottesdienst teilnehmen. Der Ausschluss von Frauen aus dem Altarraum, ob als Ministrantinnen oder als Priesterinnen, hat letztlich seine Wurzel in der vermeintlichen möglichen Unreinheit von Frauen.

Das Herzstück des jüdischen Menstruationsgesetzes, das Verbot des Geschlechtsverkehrs (Lev 18,19 und 20,18), stellen die Kirchenväter nicht zur Diskussion. Origines und Tertullian, aber auch andere Theologen gehen von der Beibehaltung der levitischen Gebote aus. Frauen haben so auch weiterhin „die Lasten des Gesetzes“ (Origines) zu tragen. Unter dem Einfluss der stoischen Sexualethik ihrer Zeit wird das Verbot eingepasst in die Forderung einer asketischen Lebenspraxis für Christinnen und Christen, die einhergeht mit einer Abwertung der menschlichen Sexualität.

Nachdem die Autorin ausführlich die Auslegungsgeschichte der Geschichte der blutflüssigen Frau beschrieben und diese in ihren zeitgenössischen Kontext eingeordnet hat, legt sie in den letzten drei Kapiteln ihre eigene Deutung vor. Dabei stellt sie den Begriff „dynamis“ (Kraft) in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Sie versteht „dynamis“ als Kraft, die die Frau bei der Berührung von Jesu Gewand erlebt. Der Vergleich mit der Benutzung des Begriffes in den synoptischen Evangelien zeigt, dass mit „dynamis“ die spürbare Wirksamkeit göttlicher Kraft beschrieben wird. Ulrike Metternich zufolge ist „dynamis“ der hermeneutische Schlüssel, mit dem die neutestamentliche Wundertradition verstanden und dabei sowohl von der magischen Deutung als auch von einer christologischen Engführung befreit werden kann. Deshalb plädiert sie dafür, in Zukunft nicht mehr von „Wundergeschichten“, sondern von „Dynamis-Geschichten“ zu sprechen (vgl. S. 231), in denen von der Verheißung des Gottesreiches und seinem Anbrechen erzählt wird.

Mit den Worten „und sie sagte ihm die ganze Wahrheit“ (Mk 5,33), von Exegeten bisher oft als „Geständnis“ der Frau angesehen, bringt die Frau ihre Gotteserfahrung zum Ausdruck. Nach den bisherigen Ausführungen ist es deutlich, dass Metternich den Gedanken ablehnt, so genannte Wundergeschichten hätten weniger theologisches Gewicht als andere biblische Texte. Im Gegenteil, in der vorliegenden Geschichte fällt die Häufigkeit theologischer Zentralbegriffe auf. Darin wird der Intensität der Gotteserfahrung der Frau Ausdruck gegeben. Die „Rettung“ der Frau (Mk 5, 34) deutet Metternich denn auch nicht nur als körperliche Genesung, sondern als „Herstellung einer gelungenen Gottesbeziehung“. (S. 230)

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um eine interessante Arbeit, die nicht nur eine neue Deutung der Erzählung gibt, sondern auch die Folgen der Auslegungsgeschichte bis in die jüngste Vergangenheit darlegt, etwa wenn Metternich ihre Schwiegermutter über ihre Aussegnung als Wöchnerin berichten lässt. (vgl. S. 186)

Der Autorin ist daran gelegen, die Aktualität dieser biblischen Erzählung deutlich zu machen. Diesem Anliegen wird sie gerecht, wenn sie in ihrem Schlusskapitel eine zusammenfassende Auswertung ihrer Ergebnisse in Form narrativer Theologie vorlegt. Anhand eines „Midrasch“, einer aktualisierenden „Nacherzählung“, erzählt sie die Geschichte der blutflüssigen Frau neu.

URN urn:nbn:de:0114-qn041130

Dr. Angela Berlis

Dozentin und Rektorin des Alt-Katholischen Seminars in Utrecht (Niederlande); Forschungsschwerpunkt: Vorstellungen und Konzepte von Heil in der Postmoderne, Heilige Frauen

E-Mail: aberlis@prettel.nl

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