Steffani Engler:
„In Einsamkeit und Freiheit“?.
Zur Konstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur.
Konstanz: UVK 2001.
488 Seiten, ISBN 3–89669–809–5, € 39,00
Abstract: Steffani Engler geht in ihrer Studie der Frage nach, wie und durch was eine wissenschaftliche Persönlichkeit im sozialen Feld der Wissenschaft konstruiert wird. Hierzu beschreibt und analysiert sie den Karriereweg von vier Professoren und zwei Professorinnen. Obgleich sich die Autorin damit in der Biographieforschung verortet, beschreitet sie für ihre Fragestellung, auch in Abgrenzung zu gängigen Methoden und Ansätzen dieser Forschungsrichtung, neue Wege: Ihre Interpretation und Analyse nimmt sie in Anlehnung an das von Pierre Bourdieu entwickelte „Konzept des Verstehens“ vor und vollzieht dabei einen Blickwechsel weg vom Individuum hin zur Funktionsweise des wissenschaftlichen Feldes.
Im ersten Teil des Buches steckt die Autorin den für ihre Studie gewählten theoretisch-methodischen (und methodologischen) Bezugsrahmen ab. Dabei setzt sie sich die Autorin zunächst mit Ansätzen und Fragestellungen der wissenschaftlichen Biographieforschung auseinander, in denen, so Engler, Persönlichkeit immer schon „in Form eines Subjektes, eines Ich oder gegebener Subjektivität und Individualität“ vorausgesetzt wird, d. h. „die Gründe für die Einzigartigkeit der Person im Subjekt gesucht werden“. (S. 16) Die mit diesem Substanzdenken zwangsläufig verknüpfte dualistische Denkweise (Subjekt auf der einen, Objekt auf der anderen Seite) verschließt den Weg zu einer relationalen Betrachtungsweise, in der die soziale Welt als eine angesehen wird (und werden kann), „die von Akteur/-innen in bestimmter Weise gesehen, eingeteilt und gemacht“ (S. 17) wird. Darüber hinaus verhindert eine dualistische Lesart die Chance, „danach zu fragen, wie die wissenschaftliche Persönlichkeit sozial konstruiert wird und welche Bedeutung dieser Persönlichkeit für das Funktionieren des Systems Wissenschaft zukommt.“ (S. 17)
Kapitel 2 setzt sich im wesentlichen mit der Rezensionsgeschichte des Aufsatzes von Pierre Bourdieu über die „biographische Illusion“ in der deutschen Biographieforschung auseinander. Die von Bourdieu entwickelte theoretische Sichtweise, die sich von der bisherigen dualistischen Betrachtungsweise löst, um die „soziale Praxis der Akteur/-innen und ihre Sicht der Welt zu verstehen und erklären zu können“ (S. 55), wählt Engler als theoretischen Bezugspunkt ihrer Studie.
Die in Kapitel 3 und 4 im Zentrum stehenden Reflexionen der Autorin über das „Verstehen“ als wissenschaftliche Praxis und Methode einerseits und die soziale Welt der Wissenschaft oder die Konstruktion des wissenschaftlichen Feldes andererseits stellen weitere Eckpfeiler ihrer theoretischen Verortung dar.
Der fast 300 Seiten umfassende Teil 2 ist das eigentliche Herzstück dieses Buches. In ihm beschreibt und reflektiert Engler den akademischen Werdegang von insgesamt sechs Professor/-innen: zwei Professorinnen und zwei Professoren der Soziologie sowie zwei Professoren der Elektrotechnik bzw. Informatik. Trotz des Umfangs kann das Lesen dieser Berufsbiographien nur als reines Vergnügen beschrieben werden. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen ist es Steffani Engler offensichtlich gelungen, bei der Durchführung der narrativen Interviews eine Erzählsituation zu schaffen, die von einer großen Offenheit geprägt war. In dem so gewonnenen Datenmaterial wird mit so manchem Tabu gebrochen, werden Mythen über die Wissenschaft und den Wissenschaftsbetrieb entlarvt und „große“ Persönlichkeiten der Wissenschaft entzaubert. Die Interviews „menscheln“ so stark, dass sie nicht selten gründlich mit gängigen Bildern über die Wissenschaft, den Wissenschaftsbetrieb und die wissenschaftliche Persönlichkeit aufräumen. Zum anderen verbindet die Autorin in hervorragender Weise das erzählte Gesprächsmaterial mit ihrer eigenen „Analyse- und Interpretationsfolie“. Dabei nimmt sie den/die Leser/-in quasi an die Hand, lässt ihn/sie in die jeweilige Lebensgeschichte eintauchen und macht diese, ganz nebenbei und wie selbstverständlich nachvollziehbar, einer wissenschaftlichen Reflexion und Abstraktion zugänglich. Auch der Schreibstil der Autorin trägt dazu bei, den/die Leser/in ohne Mühen über diese nahezu 300 Seiten zu fesseln. Das Buch hebt sich damit wohltuend von manch anderer Habilitationsschrift ab, bei der der/die Leser/in den Eindruck haben muss, die wissenschaftliche Qualifikation nur durch den Nachweis einer ausreichenden Kenntnis der Fachterminologie erworben werde.
Im Rahmen dieser Rezension ist es leider nicht möglich, auf die in diesem Buch dargestellten (Berufs-)Biographien und deren Interpretationen im Einzelnen einzugehen. Die beschriebenen Karrierewege sind sehr unterschiedlich. Dennoch machen sie – jeder für sich und alle gemeinsam – deutlich, dass die wissenschaftliche Persönlichkeit weder vom Himmel fällt noch auf Erden entworfen wird. (Vgl. S. 443)
Der/die Leser/in wird stattdessen mit den unterschiedlichen Facetten einer Konstruktionsarbeit konfrontiert, durch die die wissenschaftliche Persönlichkeit in einem dynamischen Gefüge, dem wissenschaftlichen Feld, in langwierigen Prozessen der sozialen Praxis hervorgebracht wird. Dabei ist u.a. zu erfahren, dass für die Selbstkonstruktion als Wissenschaftler/-in nicht selten andere Kriterien oder Bezugspunkte relevant sind als die, die die Befragten letztlich zum Erfolg, d.h. zur Professur gebracht haben. Wissenschaftliche Qualität, Originalität und Kreativität, eine leidenschaftliche Hingabe an ein entsprechendes Wissenschaftsgebiet, harte Arbeit und Erfolgsstreben, Macht-, Abhängigkeitsverhältnisse und Protektion, Konkurrenz und Solidarität, Integration und Ausschluss, Glück, Willkür und Zufall – alles Motive, die auf die eine oder andere Weise die Karrierewege der hier dargestellten Professor/-innen durchziehen und Bestandteile ihrer Realitätskonstruktionen sind. Doch darüber wird noch nicht oder zumindest nicht zwangsläufig eine wissenschaftliche Persönlichkeit kreiert. Diese wird erst in „sozialen Spielen in Prozessen gegenseitiger Anerkennung und Zuschreibung“ (S. 448) hervorgebracht und in ihrer Größe verhandelt. Mit dieser Erkenntnis erschließt Engler die gleichermaßen komplexe wie einfache Funktionsweise des wissenschaftlichen Feldes, die über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.
Im Vergleich zu den beiden ersten Teilen des Buches hat die Rezensentin den Eindruck, als wäre der Autorin beim Schreiben der Schlussbetrachtung etwas „die Luft ausgegangen“. Dieses Kapitel ist deutlich zu knapp geraten und schöpft bei weitem nicht die Bandbreite der bereits in Teil 2 zu erkennenden Interpretationsergebnisse aus. Engler fokussiert zunächst nahezu ausschließlich auf die Marginalisierung der sozialen Herkunft der Proband/-innen und deren Interpretation des eigenen Erfolgs als Ergebnis ihrer wissenschaftlich-intellektuellen und sozialen Leistungen (im Sinne einer erfolgreichen Netzwerkbildung). Dies interpretiert sie als Besonderheit des wissenschaftlichen Feldes und der Selbst- wie Fremdkonstruktion der wissenschaftlichen Persönlichkeit. Damit beschneidet sie unverständlicherweise ihre vorher sehr eindrücklich dokumentierte Analysekraft. Ihr zweites „großes Ergebnis“, dass Männlichkeit eine selbstverständliche und damit weiter nicht zu thematisierende Komponente der wissenschaftlichen Karriere darstellt (vgl. S. 454 ff.) bleibt etwas aufgesetzt. Zwar ist richtig, dass die von Engler interviewten Professoren die Rolle des eigenen Geschlechts im Konstruktionsprozess ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit nicht thematisieren. Aber auch von den beiden Frauen wird das Geschlecht beim genauen Lesen nur von der Professorin aus der Frauenforschung expliziert. Daraus zu verallgemeinern, dass Geschlecht ein wesentliches Prinzip in der sozialen Praxis der Konstruktion einer wissenschaftlichen Persönlichkeit ist, gibt das vorliegende Datenmaterial streng genommen nicht her. Ein Manko liegt hier möglicherweise in der kleinen Stichprobe (von ursprünglich 15 durchgeführten Interviews wurden nur 6 ausgewertet) und darin, dass gerade aus den Technikwissenschaften keine Professorinnen in die Befragung integriert wurden. Dies hätte u. U. den Blick auf die Dimension Geschlecht verändert. Im Ergebnis ist die Studie vielleicht nicht unbedingt für die Geschlechter wohl aber für die Wissenschaftsforschung ein innovativer Beitrag.
Darüber hinaus ist zu sagen: Das Buch ist auf jeden Fall jenen wärmstens zu empfehlen, die sich noch auf einer der wissenschaftlichen Qualifikationsebenen und damit quasi mitten im Konstruktionsprozess ihrer wissenschaftlichen Persönlichkeit auf dem Weg zur Professur befinden.
URN urn:nbn:de:0114-qn041173
Dr. Anina Mischau
Universität Bielefeld/Interdisziplinäres Frauenforschungs-Zentrum (IFF)
E-Mail: anina.mischau@uni-bielefeld.de
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