Susanne Barth:
Mädchenlektüren.
Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert.
Frankfurt am Main, New York: Campus 2002.
312 Seiten, ISBN 3–593–37037–9, € 34,90
Abstract: In ihrer Studie untersucht Susanne Barth Mädchenjugend- und Lesediskurse im 18. und 19. Jahrhundert, insbesondere die Funktion des Lesens für Mädchen in einer Zeit des soziokulturellen und geschlechterhistorischen Wandels. In einem texthermeneutischen Verfahren führt sie sozial- und rezeptionsgeschichtliche Leseforschung, Literaturgeschichte und historische Genderforschung zusammen. Ihre Arbeit rückt „die junge Leserin“ in den Fokus und holt sie damit aus der Nische der Mädchenliteraturforschung heraus.
Als Motto hat Susanne Barth ihrer Arbeit Marie von Ebner-Eschenbachs Aphorismus „Als eine Frau lesen lernte, trat die Frauenfrage in die Welt“ vorangestellt. Dem darin unterstellten Zusammenhang zwischen weiblicher Lektüre, Persönlichkeitsentwicklung und soziokulturellen Prozessen geht Barth systematisch nach. Als Quellen dienen pädagogische, mädchen- und frauenmedizinische Schriften und fiktionale Texte (Frauenromane, Mädchenliteratur, populäre und kanonisierte Erzählliteratur), in denen sie Reden über das Lesen und über die junge Leserin ausmacht und die sie auf der Folie der zeitgenössischen Geschlechterphilosophie untersucht. Unter den Begriff „die junge Leserin“ subsumiert die Autorin Bürgerstöchter von ca. 1770 bis 1880, und sie fragt nach einer durch das Lektüreerlebnis möglichen Transgression des begrenzten weiblichen Erfahrungsraums, d.h. nach dem Einfluss des Kulturaktes „Lesen“ auf die Persönlichkeitsentwicklung heranwachsender Mädchen und den Emanzipationsprozess im 19. Jahrhundert.
Mädchen lesen und dies zuweilen ausufernd. Die heute selbstverständliche Pubertätserfahrung extensiven, genussvollen und durch individuelle Wünsche geleiteten Lesens gründet sich auf eine spannende historische Entwicklung: Ob überhaupt und von wem was gelesen werden durfte, wurde mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Buchmarktes in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert heftig diskutiert. Besonders die von Frauen begeistert aufgenommenen Romane erhitzten die Gemüter. Unter den Schlagworten „Lesewut“ und „Lesesucht“ erhoben sich Kassandrarufe, die als Auswirkungen der die Phantasie anregenden Lektüre Emotionalisierung und drohenden Realitätsverlust ins Feld führten und die Gefahr einer physischen und moralischen Schädigung der weiblichen Konstitution heraufbeschworen.
Sozialgeschichtlicher Bezugspunkt der Studie ist das Paradigma von der weiblichen Sonderanthropologie, das im 18. Jahrhundert in Anlehnung an das auf Natur und „sensibilité“ orientierte Weiblichkeitskonstrukt Rousseaus entwickelt wurde und auch, wie Barth schlüssig herausarbeitet, die medizinischen und pädagogischen Reden über das Mädchenlesen vorstrukturierte. Die Festlegung des weiblichen Körpers auf eine sensible, feinnervige und so leichter erregbare Konstitution weckte Interesse an der Mädchenjugend. Die den psychischen und physischen Prozessen der Pubertät immanenten möglichen Gefahren schildern Mediziner in Krankheitskatalogen, in denen auch die „Romanensucht“ einen Platz findet.
Barth macht in den medizinischen Diskursen voyeuristische Blicke aus, die von einer „Schaulust am pubertierenden Mädchenkörper“ (S. 50) zeugen und ebenso in der pädagogischen Ratgeberliteratur zu finden sind. Allerdings entfalten die untersuchten Quellen ebenso eine zuweilen hellsichtige Erkenntnis des fast notwendig in Unruhe und Krankheit mündenden Pubertätsdilemmas: Während die Erziehung des 18. und 19. Jahrhunderts Mädchen einerseits auf ihre weibliche Bestimmung und damit auf die Ehe und den Mann fixierte, verbot sie ihnen zugleich jeden Gedanken an den eigenen Körper und seine Sexualität. Es bleibt jedoch bei der Ursachenforschung, an der herrschenden Geschlechterordnung und der bürgerlichen Sexualmoral wird in den zeitgenössischen Texten nicht gerüttelt.
Grundlage der pädagogischen Reden über Mädchenjugend sind laut Susanne Barth die vor allem im Emile aufgeworfenen entwicklungspsychologischen Theorien Rousseaus. Seine Vorstellung von Pubertät als zweiter Geburt („seconde naissance“) liegt auch modernen Jugendkonzepten zugrunde, die die Zeit des Heranwachsens als Phase adoleszenter Dynamik begreifen. Dem darin liegenden Gefahrenpotential begegnen Pädagogen im 18. und 19.Jahrhundert mit Regulierungsversuchen, die z. B. im Entstehen einer neuen Gattung, dem „Väterlichen Rat“ (Campe u. a.) münden. Im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen, die meist modellhafte Vater-Tochter-Dyaden entwickeln, wählen Pädagoginnen eher ideelle Mütter als erzieherische Leitfiguren.
Im Verlauf des 19.Jahrhunderts gewinnt der neuhumanistisch-idealistische Gedanke individueller Bildung Einfluss auf den Lesediskurs. Vor allem an Frauenrechtsfragen interessierte Pädagoginnen begreifen Lektüre als „Mittel und Medium weiblicher Persönlichkeitsentwicklung“ (S. 105) und Chance ökonomischer Unabhängigkeit. Völlige Lesefreiheit indes fordern nur wenige.
In den Reden über Mädchenlesen insgesamt identifiziert Barth männliche und weibliche Stimmen und fragt auch in der Analyse der fiktionalen Texte konsequent nach der jeweiligen Perspektive und Erzählstruktur, über die die Leserinnenfiguren in den Blick geraten.
Der letzte Teil der Studie ist der Figur der Leserin in Romanen und Erzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet. Grob lassen sich Romanleserin und Bildungsleserin unterscheiden. Bei Romanleserin scheint oftmals, z.B. in Warngeschichten, die pädagogische Fiktionskritik durch. Darüber hinaus findet jedoch in anspruchsvolleren Werken eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Lektüreerlebnisses für die weibliche Persönlichkeitsbildung statt. Die imaginierten Leserinnen erleben Auf- und Ausbruchsphantasien und literarisches Ersatzhandeln, die „Lust am Text“ ermöglicht „Lust am Körper“ (vgl. Kap. 5.1.3.).
Während in der erzählenden Mädchenliteratur die Blaustrumpfkarikatur vorherrscht, folgen die gebildeten Vater-Töchter des Frauenromans dem Ideal der „Intellektualisierung des Geschlechterverhältnisses“ (S. 323). In der Figur der Bildungsleserin vor allem in Texten der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts sieht Barth ein Beispiel für „die Selbstbestimmtheit intellektueller Weiblichkeit in dem Verhältnis zwischen Frau und Mann“ (S. 237).
Der Nachweis der großen Aufmerksamkeit und Bedeutungszuweisung, die sowohl in den medizinischen und pädagogischen Diskursen als auch in der fiktionalen Gestaltung dem weiblichen Lektüreerleben zukommt, ist der entscheidende Verdienst von Barths kenntnisreicher, mitunter jedoch auch sehr voraussetzungsreicher Arbeit. Die Hypothese, dass Lesen als „zentrales Moment im Enkulturationsprozess“ (S. 232) den soziokulturellen Wandel im 19. Jahrhundert einschneidend beeinflusst hat, bestätigt sich und erhellt die Notwendigkeit weiterer Leserinnenforschung über den hier untersuchten Zeitraum und das gewählte Textkonvolut hinaus. Dafür ist mit Barths Studie eine wichtige Grundlage geschaffen.
URN urn:nbn:de:0114-qn042041
Claudia Höhn, M.A.
Forschungsschwerpunkt: Literatur und Öffentlichkeit im 18.Jahrhundert, Literatur der Weimarer Republik, Mediengeschichte, Berlin
E-Mail: Hoehn.Claudia@web.de
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