Kornelia Steinhardt, Wilfried Datler, Johannes Gstach (Hg.):
Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit.
Gießen: Psychosozial 2002.
205 Seiten, ISBN 3–89806–189–2, € 19,90
Abstract: In dem Sammelband wird in zehn Beiträgen aus psychoanalytischer und -therapeutischer sowie bindungs- und systemtheoretischer Perspektive nach der Bedeutung des Vaters für Säugling und Kleinkind gefragt. Hierbei geht es u.a. um die Analyse von Vaterlosigkeit, Bindungsentwicklungen, Spielsituationen und Schlafstörungen unter besonderer Berücksichtung der Entwicklung dyadischer und triadischer Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Kind. Die Berichte sind von Wissenschaftler/-innen und Therapeut/-innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz verfasst und gehen zurück auf die Jahrestagung (2001) der „Deutschen Gesellschaft für die seelische Gesundheit in der frühen Kindheit“ (Germanspeeking Association für Infant Mental Health / GAIMH). Die Veröffentlichung ermöglicht einen Überblick über die aktuelle psychologisch orientierte Forschung und Debatte der frühen Beziehung zwischen Vater und Kind.
Die Herausgeber/-innen verorten ihren Band als Beitrag zur Vaterforschung. In der ersten Phase einer beginnenden Väterforschung stand der „abwesende Vater“ im Mittelpunkt. Hierauf folgte in einer zweiten Phase – insbesondere unter dem Einfluss von Frauenbewegung und Feminismus – die Herausarbeitung gleicher Rollen und Bedeutungen von Mutter und Vater für die Entwicklung des Kindes. In der dritten und jüngsten Phase der Vaterforschung wird nun davon ausgegangen, dass „Kinder von ihren ersten Lebenstagen an mit ihren Vätern andere Beziehungserfahrungen sammeln als mit ihren Müttern“ (S. 8). Die zentrale These der Veröffentlichung Die Bedeutung des Vaters in der frühen Kindheit basiert hiernach auf der Annahme einer spezifisch differenten Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes.
In dem ersten Aufsatz „Sehnsucht nach dem Vater … Die Bedeutung des Vaters und der Vaterlosigkeit in den ersten drei Lebensjahren“ arbeitet Lothar Schon diese Differenzthese weiter heraus: „Der Ursprung jeder Differenz ist das Geschlecht, das unter anderem bedeutet, dass die Frau das Kind empfängt, es austrägt und es gebiert, während der Mann diese Vorgänge aus größerer körperlicher Distanz psychisch mit- und nachvollziehen muss, um Vater zu werden“ (S. 22). Im Gegensatz zur sozialwissenschaftlichen Genderforschung, in der die Dekonstruktion von Geschlecht zentrales Gewicht gewonnen hat, verweist Schon darauf, dass der Ursprung jeder Differenz das Geschlecht sei: „Primäre Mütterlichkeit ist stärker leiblich begründet, primäre Väterlichkeit stärker geistig-seelisch. Diese Differenz beinhaltet sozusagen von Natur aus die Gefahr einer zu großen und ausschließlichen Nähe mit der Mutter ebenso wie die Gefahr einer zu großen Distanz und Fremdheit gegenüber dem Vater“ (S. 22).
Nicht nur in diesem Beitrag wird die Differenz der Geschlechter auf die „Natur“ zurückgeführt. Es ist zwar wichtig, die hohe empirische Relevanz von Geschlecht für differentes Verhalten gegenüber Säuglingen/Kleinkindern herauszuarbeiten. Hier sind insbesondere die Beiträge von Renate Barth und Christine Rankl zu frühkindlichen Schlafstörungen und symbiotischen Mutter-Kind-Beziehungen aufschlussreich. Aber zu kritisieren ist, dass gesellschaftliche Strukturen, die eine Arbeitsteilung der Geschlechter und dabei insbesondere eine unterschiedliche Arbeitsteilung von Mutter und Vater begünstigen, in den Untersuchungen weitestgehend ausgeblendet werden. Dies ist höchst ärgerlich und verweist zugleich auf Einschränkungen und Begrenzungen der Bindungsforschung.
In dem Beitrag „Vater geht zur Arbeit … „ von Wilfried Datler, Kornelia Steinhardt und Katharina Ereky, der eine überaus spannende und sehr detailreiche Analyse der Abschiedssituation zwischen einem acht Monate altem Kind, seinem das Haus verlassenden Vater und der daheimbleibenden Mutter enthält, hätte die Chance bestanden, auch die Arbeitsteilung der Geschlechter mit in den Blick zu nehmen. Hier hätte parallel herausgearbeitet werden können, wie ein kleines Kind in geschlechtliche Arbeitsteilungen eingebunden und hineinsozialisiert wird. Stattdessen wird ein 1962 entwickeltes Konzept angewandt, in dem der Mutter die Funktion eines „Containers“ zukommt. Die stereotype und frauenfeindliche Betrachtung der Mutter als eines Behälters oder Gefäßes wird hier unreflektiert auf die Zeit nach der Geburt übertragen. Hier spiegelt sich der Differenzansatz wider: Die Mutter ist passiv, der Vater aktiv.
Dieses Bild finden wir auch in dem Beitrag der Forschergruppe um Grossmann&Grossmann zur „anderen“ Bindung von Vater und Kind, in dem das Postulat der Bindungstheorie gestützt wird, dass „sich optimalerweise Eltern in ihren Rollen und Aufgaben hinsichtlich der Entwicklung des Kindes ergänzen“ (S. 47). Wen wundert da das folgende Ergebnis der Forscher/-innen: „Die Rollen als Spielpartner, Herausforderer und Lehrer scheinen den meisten Vätern näher zu liegen als die mütterlichen Rollen“ (S.47). Sichtbar wird an diesen Beiträgen der Erkenntnisverlust, wenn Vaterforschung ohne Berücksichtigung von Ergebnissen aus der Frauen- und Geschlechterforschung betrieben wird.
Ich hatte gedacht, wir wären da schon einen Schritt weiter. Die geschlechtsstereotypischen Annahmen, die sich in vielen Beiträgen widerspiegeln, sind nicht nur Ergebnisse empirischer Forschung. Sie könnten auch als Beleg herangezogen werden, um die Konstruktionsprozesse von Geschlecht sowohl in Alltags- als auch in Forschungssituationen zu verdeutlichen.
Wären da nicht die beiden Beiträge von Kai von Klitzing – „Jenseits des Bindungsprinzips“ – und von Peter J. Scheer/Markus Wilken – „Zwei sind eineR zu wenig: Die Rolle des Vaters für den Säugling“ –, könnte zurecht an der Reflexionsfähigkeit und an der Fähigkeit zur kritischen Hinterfragung der Bindungsforschung gezweifelt werden. Klitzing verweist darauf, dass anstelle geschlechterstereotyper Konzepte von mütterlich gewährender versus väterlich herausfordernder Feinfühligkeit, die das kindliche Spiel gewaltsam in Bindungskontexte gießen, daran gelegen sein sollte, „ein dynamisches Konzept für die Dreierbeziehung Vater-Mutter-Kind zu entwerfen“ (S. 93). Scheer und Wilken machen darauf aufmerksam, dass Erklärungsansätze für die Entwicklung des Kindes, die Metabeziehungen „vernachlässigen, indem sie sie nur als zu kontrollierende Faktoren betrachten, artifiziell und fraglich“ sind (S. 190). Diese beiden Beiträge sind echte Lichtblicke, da die Autoren in der Lage sind, die Möglichkeiten und Grenzen der Bindungsforschung auszuloten. Es bleibt zu hoffen, dass diese methodische Kritik und die reflexiven Anmerkungen bezogen auf Forschung und Analyse der Vater-Kind-Beziehung in zukünftige Forschungen einfließen werden.
Nichtsdestotrotz liefert das Buch einen aktuellen Ein- und Überblick über die Bindungsforschung und psychoanalytische Betrachtung der Vater-Kind-Beziehung sowie über die Erweiterung dyadischer Beziehungsanalysen hin zu triadischen Beziehungskonzepten. Vielleicht unterschätze ich ja die Bedeutung, dass nicht mehr nur nach der Mutter-Kind-Beziehung gefragt wird. Könnte es sein, dass schon allein die Entdeckung des Vaters und der Vater-Kind-Beziehung ein Fortschritt ist?
URN urn:nbn:de:0114-qn042073
Dr. Beate Kortendiek
Universität Dortmund, Netzwerk Frauenforschung NRW, Raumplanung FWR
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