Gewalt und Geschlecht in unvermuteten Zusammenhängen

Rezension von Karsten Uhl

Hanno Ehrlicher, Hania Siebenpfeiffer (Hg.):

Gewalt und Geschlecht.

Bilder, Literatur und Diskurse im 20. Jahrhundert.

Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002.

224 Seiten, ISBN 3–412–06802–0, € 24,90

Abstract: Anhand unterschiedlicher Medien untersucht der kulturwissenschaftliche Sammelband auf interdisziplinärer Basis das Verhältnis von Gewalt und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Zugrunde liegt ein Konzept, das Gewalt und Geschlecht als zentrale Kategorien der Moderne betrachtet.

Gewalt und Geschlecht als Kategorien der Forschung

Lange vernachlässigt, rückt die Beziehung von Gewalt und Geschlecht in letzter Zeit verstärkt ins Interesse der kulturwissenschaftlichen Forschung.[1] In der von Inge Stephan und Sigrid Weigel herausgegebenen Reihe Literatur – Kultur – Geschlecht ist nun ein Sammelband erschienen, der Gewalt als zentrale Kategorie zum Verständnis des 20. Jahrhunderts und seiner Kultur begreift. Das „Jahrhundert der Gewalt“ wird als Ergebnis der Krisen der „männlichen Moderne“ begriffen. Gewalttätige Versuche zur Restabilisierung der Ordnung seien weitgehend davon angetrieben gewesen, die Geschlechterordnung stabil zu halten (S. 8f.). Die Herausgeber/-innen Hanno Ehrlicher und Hania Siebenpfeiffer sehen Gender folglich als die zentrale Kategorie zur Analyse des Verhältnisses von Gewalt und Ästhetik in der Moderne an. Die gesammelten Beiträge decken aufgrund dieser konzeptionellen Rahmung erfreulicher Weise auch Themen ab, die nicht auf den ersten Blick mit „Gewalt“ in Zusammenhang gebracht werden. Nicht nur die Erscheinungsform gerät so in den Blick der Forschung, sondern zugleich auch die zugrundeliegende Struktur.

Folgerichtig ist der Band interdisziplinär angelegt; den Untersuchungen liegen so unterschiedliche Quellen wie Film, Videokunst, Malerei, Literatur, Wissenschaft und Gerichtsprotokolle zugrunde. Die von den Herausgeber/-innen aufgeworfene Frage nach dem „Verhältnis zwischen den sprachlichen und den visuellen Verbildlichungen von Gewalt und Geschlecht“ (S. 9) wird in den einzelnen Beiträgen allerdings kaum gestellt. Grundsätzlich lassen sich die meisten Texte entweder dem Bereich der „Bilder“ (Film/Video/Malerei) oder dem der „Literatur“ zuordnen. Die Einteilung des Bandes in „I. Bilder der Geschlechter(un)ordnung“ und „II. „(De)Normierungen von Geschlecht“ folgt weitgehend dieser Unterscheidung.

Visualisierungen

Hanno Ehrlicher nimmt sich der Filme Luis Buñuels, insbesondere Un chien andalou und Cet obscure objet du desir, an. In Bezug auf Gewalt und Geschlechtlichkeit arbeitet Ehrlicher den Unterschied zwischen Buñuels Früh- und Spätwerk heraus: Der Angriff auf die Tradition sei der „verfälschenden Adaption“ (S. 31) gewichen, die Strategie der Avantgarde sei also von einem postmodernen bzw. dekonstruktivistischen Vorgehen verdrängt worden. Für das Thema des Bandes ist das vor allem deshalb von Bedeutung, weil die „totale ästhetische Revolte“ des Surrealismus einen blinden Fleck gehabt habe: Gender (S. 21).

Claudia Breger bettet ihren Beitrag über Hans-Jürgen Syberbergs 1972 produzierten Film Ludwig – Requiem für einen jungfräulichen König kulturtheoretisch und -historisch ein. Im Nachkriegsfilm der Bundesrepublik sei – nach den Erfahrungen der modernen Gewaltherrschaft – das Bedürfnis nach dem Phantasma einer vermeintlich „gewaltlosen“ traditionellen Herrschaft darin zum Ausdruck gekommen, dass das Königtum geschlechtlich recodiert worden sei. An die Stelle der in der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus vorherrschenden preußischen Könige sei die bayerische Prinzessin Sissi und der effiminierte Ludwig II. getreten. Syberbergs Film verdeutliche zwar, im Gegensatz zu frühen Nachkriegsfilmen, die Untrennbarkeit von Königtum und Gewalt, denunziere aber gleichzeitig die abweichende Geschlechtlichkeit seiner Ludwig-Figur. Auch die Postmoderne, hier die Camp-Ästhetik Syberbergs, kann also, wie Breger zu Recht feststellt, sehr wohl reaktionär sein.

Der Kunsthistoriker Florian Britsch weist in seinem Beitrag über Paul Klee überzeugend nach, wie medizinische Anatomiedarstellungen des 19. Jahrhunderts den diskursiven Raum für abstrakte Bilder öffneten. „Das malerische Experiment ersetzt das medizinische, Klee inszeniert die Entstehung des abstrakten Bildes am geöffneten Körper der Frau“ (S. 66). Dass verschiedene kulturelle Bereiche ihr Wissen untereinander zirkulieren ließen, macht Britsch am Einfluss des omnipräsenten Otto Weininger (Geschlecht und Charakter) auf Klee deutlich.

Änne Söll bleibt in ihrem Vergleich zwischen der Videokunst Pipilotti Rists und einem Musikvideo Madonnas (bzw. des Regisseurs Guy Ritchie) größtenteils bei der Beschreibung stehen. Die Schlussfolgerung, beide Videos brächen das Stereotyp des passiven weiblichen Opfers, vermag nicht wirklich zu überraschen.

Normierende Texte

Hania Siebenpfeiffer untersucht auf der breiten kulturhistorischen Basis von Kriminologie, bildender Kunst, Literatur und Film den „Lustmörder als Paradigma männlicher Gewalt in der Moderne“. Die Figur des Lustmörders, entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts, habe die moderne Geschlechterordnung gestärkt. Keineswegs aber sei dieser Diskurs als deterministisch zu verstehen. Siebenpfeiffer zeigt, dass Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder von 1931 die kulturelle Konstruiertheit des kriminellen Menschen sichtbar machen konnte (S. 123f.). Auf ähnlich breiter Quellengrundlage, mit der Erweiterung um Gerichtsprotokolle, geht Christine Künzel in ihrem überzeugenden Beitrag zur „Unmöglichkeit einer Vergewaltigung in Ohnmacht oder Schlaf“ im 20. Jahrhundert vor.

Dino Heicker gibt einen motivgeschichtlichen Abriss zur Figur des Kastratensängers in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und belegt auch an diesem Beispiel die oft formulierte These von der gewaltsamen Konstituierung der Geschlechtsidentitäten durch den Ausschluss des „Anderen“. Andrea Geiers Text zu Anne Dudens Prosatexten zeigt auf, wie Duden der Gefahr einer reinen Affirmation des Diskurses ausweicht und eben nicht die Täter-Opfer-Rollen nur austauscht. Gerade die Dethematisierung der Kategorie Geschlecht erscheint als subversive Strategie (S. 169). Im abschließenden Beitrag behandelt Franck Hofmann das Spannungsverhältnis zwischen Konservatismus und moderner Literatur im Wirken Rudolf Borchardts.

Die Mehrzahl der Beiträge und das interdisziplinäre Konzept können überzeugen. Der große Vorzug des Bandes besteht darin, dass Gewalt und Geschlecht als zentrale Kategorien der Moderne betrachtet werden. Die meisten Beiträge belegen diese These plausibel an Einzelbeispielen. Nur in zwei, drei Texten klafft eine Lücke zwischen der theoretischen Einrahmung und der eigentlichen Untersuchung auf.

Anmerkungen:

[1]: Vgl. u. a. Antje Hilbig, Claudia Kajatin, Ingrid Miethe (Hg.): Frauen und Gewalt. Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis, Würzburg 2003; Regina-Maria Dackweiler, Reinhilde Schäfer (Hg.): Gewalt-Verhältnisse. Feministische Perspektiven auf Geschlecht und Gewalt, Frankfurt a. M. u. a. 2002; sowie einige Aufsätze in Querelles Bd. 5: Elfi Bettinger, Angelika Ebrecht (Hg.): Transgressionen. Grenzgängerinnen des moralischen Geschlechts, Stuttgart u. a. 2000.

URN urn:nbn:de:0114-qn042111

Dr. Karsten Uhl

KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

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