Geschlechtermodelle im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts

Rezension von Claudia Gronemann

Elena Kilian:

Bildung, Tugend, Nützlichkeit.

Geschlechterentwürfe im spanischen Aufklärungsroman des späten 18. Jahrhunderts.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.

219 Seiten, ISBN 3–8260–2186–X, € 35,00

Heike Hertel-Mesenhöller:

Das Bild der Frau im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts.

Im Spannungsfeld von Lebenswirklichkeit und Fiktion.

Frankfurt am Main: Vervuert 2001.

239 Seiten, ISBN 3–89354–138–1, € 34,80

Abstract: Während Spanien lange Zeit als „Land ohne Aufklärung“ galt und das 18. Jahrhundert auch in der deutschen Hispanistik ein Randgebiet gegenüber der Masse an Studien etwa zum Siglo de Oro darstellte, wandelt sich diese Tendenz zunehmend. Beinahe zeitgleich erschienen jetzt zwei Dissertationen zum spanischen 18. Jahrhundert, die sich auf der Basis von Korpus und Fragestellung sehr gut vergleichen lassen. Wenn dieses Jahrhundert im Anschluss an die Brüder Goncourt (La femme au XVIIIe siècle, 1852) wiederholt als das der Frau apostrophiert wurde, scheint es kein Zufall, dass sich beide mit „Geschlechterentwürfen“ (Kilian) bzw. dem „Bild der Frau“ (Hertel-Mesenhöller) im spanischen Roman befassen. Spanien hat nicht nur Anteil an der europäischen Aufklärung, auch wenn sich diese als patriotische und christliche Ilustración „von oben“ erweist, sondern ebenso an einem übergreifenden Wandel der Geschlechterkonstellation, welcher unter dem Begriff der Naturalisierung des Geschlechtsunterschieds in die Gender Studies eingegangen ist.

Beide Verfasserinnen untersuchen die diskursiven Manifestationen dieses Wandels im Roman und problematisieren, ob und inwiefern die jeweiligen Weiblichkeitsentwürfe einem spezifischen Aufklärungsprogramm entsprechen. Dabei greifen sie gegenwärtige Theorieentwicklungen ganz unterschiedlich auf.

Aufbau und Konzeption der Arbeiten

Beide Monographien sind der Logik des Themas folgend aufgebaut: Beginnend mit der gattungstheoretischen Diskussion des Romans leiten sie mit einer Rekonstruktion der gesellschaftlichen Debatte über die Frau in Spanien zum Hauptteil, jeweils umfangreichen Analysen literarischer Texte, über. Der theoretische Ausgangspunkt der Betrachtung unterscheidet sich dabei durchaus signifikant. Hertel-Mesenhöller zielt auf eine Vermittlung zwischen den Ebenen der Lebenswirklichkeit, der gesellschaftlichen Debatte und den fiktionalen Entwürfen (S. 186) und unterscheidet ausgehend vom Nexus literarischer Modelle und realer Erfahrungen (S. 17f.) sowie auf der Basis eines entwicklungsgeschichtlichen binären Modells progressive und regressive Weiblichkeitskonzepte. Während sie ihre Analysen demnach stets auf die Lebenswirklichkeit rückzubeziehen sucht, arbeitet Kilian vielmehr die Realität der vorhandenen Diskurse heraus, die sie unter den Stichworten „Bildung – Tugend – Nützlichkeit“ systematisiert. Beide Arbeiten unterscheiden sich daher auch in Textauswahl und Herangehensweise. Während Kilian Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe anhand von vier Romanen sowie der Novelle einer Autorin analysiert, zentriert Hertel-Mesenhöller ihre Lektüren mit Blick auf emanzipatorische Fragen um Frauenfiguren aus 20 Romanen und die Weiblichkeitsentwürfe zahlreicher (70) Traktate. Umfassend referiert sie u. a. natur- und geschichtswissenschaftliche Forschungen im Zusammenhang der Geschlechterdebatte, „um eine möglichst präzise Vorstellung von den wirklichen Lebensbedingungen der Frau in Spanien im 18. Jahrhundert und dem Zustand der Gesellschaft zu gewinnen“ (Hertel-Mesenhöller S. 35) – eine nicht unproblematische Aussage vor dem Hintergrund, dass insbesondere Geschlechterwissen interessengeleitet ist und je spezifischen Ordnungen unterliegt. In der Arbeit von Hertel-Mesenhöller tritt somit der Aspekt der Konstruktion des biologischen und sozialen Geschlechts zurück, um deren Nachweis sich besonders die auf Butler rekurrierende Genderforschung bemüht. Auch wenn man diesem Ansatz nicht notwendig folgen muss, wie die Genderdebatte belegt, wäre eine deutlichere Positionierung mit Blick auf die aktuelle Theoriediskussion hier wünschenswert gewesen.

„Geschlechterentwürfe“ und „Frauenbilder“

In den untersuchten Romanen geht es um die immer gleichen Themen, die auch die zeithistorischen „Querelles“ nicht nur in Spanien leiteten: um den gesellschaftlichen, moralischen und anthropologischen (Sonder-)Status der Frau und die damit verbundenen Fragen ihrer Erziehung, Bildung und Entscheidungsfreiheit sowie ihrer geschlechtsspezifischen Rolle im gesellschaftlichen Kontext. Mit den Romanalysen rekonstruieren und interpretieren die beiden Verfasserinnen das jeweils zugrunde liegende Geschlechterdenken.

In dem didaktisierenden Roman Eudoxia, hija de Belisario [Eudoxia, Tochter des Belisar] (1793) etwa rückt der bekannte spanische Autor Pedro Montengón im Unterschied zum tradierten Stoff (der ruhmreiche byzantinische Feldherr Belisar wird in Folge einer Intrige zum Bettler) die Erziehung seiner Tochter Eudoxia ins Zentrum. Sprachrohr des propagierten Erziehungskonzeptes ist die Lehrerin Domitila, die für eine ciencia moral [Wissenschaft der Moral] und damit für die Auffassung plädiert, dass eine vermeintlich stärkere Triebhaftigkeit der Frau zwecks Wahrung des gesellschaftlichen Friedens der Disziplinierung bedarf. Zwar unterstreicht Montegón damit die prinzipielle weibliche Bildungsfähigkeit, schreibt aber auch die geschlechtliche Asymmetrie und die Inferiorität der Frau fest. Während Hertel-Mesenhöller bereits in der Protagonistenrolle Eudoxias und Domitilas sowie dem Entwurf eines femininen Bildungs- und Erziehungskonzeptes Ansätze einer progressiven Gestaltung sieht (Hertel-Mesenhöller S. 153f.), kritisiert Kilian gerade die „mangelnde Individualisierung der Protagonistin und die Tatsache, dass Domitilas Forderung nach der Gleichheit der Geschlechter […] auf der Strecke bleibt“ (Kilian S. 119). Letztlich sind sich die Verfasserinnen jedoch über die „imaginäre Weiblichkeit“ der weitgehend stummen Eudoxia einig, womit dieser Roman exemplarisch ein moralisches Geschlecht entwerfe (Kilian S. 184).

Ebenfalls stellvertretend für das Modell weiblicher Inferiorität ist die Figur der Serafina in José Mor de Fuentes gleichnamigem und erfolgreichem empfindsamen Roman (1789) gestaltet. Kilian betont auch hier die Konstrukthaftigkeit der Figur, sie sei kein Individuum, sondern „das soziale Gewissen des Mannes und ‚Verkörperung‘ männlicher Idealvorstellungen“ (Kilian S. 149), und sieht darin eine Affirmation ihrer körperlichen, intellektuellen und moralischen Mangelhaftigkeit. Hertel-Mesenhöller interpretiert die Darstellung Serafinas ebenfalls als Plädoyer „für die traditionelle Rolle der Frau“ (Hertel-Mesenhöller S. 120) und deutet ihrer mimetischen Lesart entsprechend das „engelhafte Ideal“ (ebd.) als Gegenbild zur Realität.

Diesen Geschlechterdiskursen diametral entgegengesetzt und weithin einzigartig ist das dem Roman Cornelia Bororquia o víctima de la Inquisición [Cornelia Bororquia oder Opfer der Inquisition] zugrunde liegende Geschlechterkonzept. Nicht zufällig handelt es sich auch um einen anonym veröffentlichen Text. Die von Kirchenvertretern verfolgte Protagonistin verübt einen Tyrannenmord, wird aber dennoch als moralisch integer, als Opfer der Kirche dargestellt. Mit der Kritik an Klerus und Inquisition vertritt dieser tabubrechende Roman genuine Ideale der Aufklärung und steht darüber hinaus für die Egalität der Geschlechter. Auch wenn Cornelia tendenziell idealisiert wird, ist sie die einzige selbstbestimmte, dem Mann ebenbürtige Protagonistin und als „Repräsentantin der aufgeklärten Spanierin“ lesbar (Kilian S. 167).

Zwischen den Extremen dieser Weiblichkeitsentwürfe steht der Text einer Autorin, Clara Jara de Sotos Erzählung El instruido en la Corte y aventuras del Estremeño (1789). Kilian, die diese einzige überlieferte Novelle aus weiblicher Feder berücksichtigt, sieht darin einerseits eine Kritik an der zeitspezifischen Misogynie, allerdings keine, die in den Entwurf eines alternativen Weiblichkeitsmodells münde. Nicht ganz nachvollziehbar erscheint jedoch, warum ausgerechnet dieser Text am Rande in einem Exkurs und nicht gleichgeordnet neben den anderen betrachtet wird. Die Verfasserin begründet dies gattungstheoretisch (es handele sich nicht um einen Roman), gerade dieser Befund aber wirft genderspezifische Fragen auf. Damit hätte die Frage der Autorität im Hinblick auf jene propagierten Geschlechtermodelle problematisiert werden können. Sind die Autorinnen höchstselbst dem gängigen Rollenverständnis unterworfen, so dass sie wie Jara de Soto keine alternativen Weiblichkeitsmodelle zu konstruieren wagen? Inwiefern manifestiert sich ein spezifisch weiblicher Aussageort in Texten wie El instruido en la Corte?

Eines haben die meisten literarischen Frauenfiguren gemeinsam: sie werden im Sinne des aufklärerischen Empfindsamkeitsideals (Richardson, Rousseau) entworfen und erhalten die moralische Funktion der civilizadora del hombre [Zivilisatorin des Mannes]. Damit sind sie nichts anderes als Projektionsfläche für eine gesellschaftliche Problematik. Selbst Vertreter eines egalitären Modells bestätigen das traditionelle Rollenverständnis, das somit im 18. Jahrhundert keineswegs zur Disposition steht, sondern geradezu zementiert wird – auch wenn dies im spanischen Kontext ohne die bekannten aufklärerischen Argumente erfolgt.

Fazit

Während Kilian die „moralisch-gesellschaftliche Bestimmung der beiden Geschlechter“ (S.178) im Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Empfindsamkeit anhand der diskursiven Praxis erläutert, versucht Hertel-Mesenhöller den Realitätsbezug der Modelle herzustellen und Aufschluss über die Entwicklung der weiblichen Lebenswirklichkeit im Zeitalter der Aufklärung zu gewinnen. Allerdings erscheint ihr Fazit ein wenig zu holzschnittartig. Wenn von „reaktionär-regressiven“, „klassisch-konservativen“ sowie „progressiv-modernen“ und „revolutionären“ Weiblichkeitsmodellen die Rede ist, schreibt sich eine Gegenwartsperspektive ein, die der Genese jener Modelle sicher nicht immer gerecht wird. Eine deutliche Umkehrung, so ihre abschließende Einschätzung, des „emanzipatorischen Fortschritts“ in der Zeit Carlos‘ III ist nach der Französischen Revolution zu verzeichnen, womit eine im 19. Jh. dominierende anatomisch-biologische Fixierung des Geschlechtscharakters einsetzte.

Auch Kilian verdeutlicht, dass die Festschreibung der „weiblichen Natur“ in Spanien weniger anhand von positivistischen und biologischen Argumenten entwickelt wurde, als vielmehr auf der Basis eines patriotisch-utilitaristischen Verständnisses. „Die Frau“ hatte als Mutter und Ehefrau zugleich eine Staatsbürgerfunktion zu erfüllen, aus der sich auch ihre Pflichten, theologisch-christlichen Lehren entnommen, ergaben (Kilian S. 185). Statt der auf Natur und Vernunft basierenden französischen Argumentation, beziehen sich spanische Diskurse somit hinsichtlich der festzuschreibenden Geschlechterrollen primär auf eine patriotisch-christlich verstandene Funktionalität und utilidad [Nützlichkeit].

Die Heterogenität der im spanischen Roman des 18. Jahrhunderts vorgefundenen Geschlechtermodelle spricht somit für eine erst spät und allmählich einsetzende Verfestigung der biologischen Geschlechtscharaktere – der egalitäre Diskurs ist trotz traditionellem Rollenverständnis häufig präsent. Während Hertel-Mesenhöller dabei auch die „zaghafte Entstehung eines neuen, progressiven Frauenbildes“ (S. 103) diagnostiziert, versteht Kilian die Verortung der Frau als „moralisches Geschlecht“ (nach Steinbrügge) und ihre Idealisierung als „Form männlicher Kontrolle über eine wachsende Emanzipation der Frau“ (Kilian S. 184).

Gemeinsam ist beiden Publikationen schließlich das Plädoyer für eine Aufwertung des bis dato in seiner Modernität unterschätzten spanischen Romans, der sich – wenngleich er sich verspätet als eigenständige Gattung etabliert – durchaus im europäischen Maßstab messen lassen kann. Er erhält nicht nur eine didaktische Funktion zur Propagierung weiblicher Ideale, sondern wurde zu einem wichtigen Medium der Auseinandersetzung um Geschlechterfragen. Beide Arbeiten sind ungeachtet ihrer verschiedenen Theorieperspektive bedeutsame hispanistische Studien, die jeweils entscheidende Beiträge zur Aufarbeitung eines Desiderats im Bereich hispanistischer Gender-Arbeiten darstellen und zugleich zu einer differenzierteren Sicht europäischer Aufklärungsphänomene führen.

URN urn:nbn:de:0114-qn042151

Dr. Claudia Gronemann

Leipzig/Universität Leipzig/Ibero-Amerikanisches Forschungsseminar, Institut für Romanistik

E-Mail: gronemann@rz.uni-leipzig.de

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