Der Nürnberger Prozeß und Täterinnenforschung

Rezension von Vera Ziegeldorf

o.A.:

Der Nürnberger Prozeß.

Das Protokoll des Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946.

Berlin: Directmedia Publishing GmbH 1999.

CD-ROM, ISBN 3–932544–25–0, DM 99,00 / SFr 96,00 / ÖS 749,00

Abstract: Auf der Grundlage der Quellenpublikation des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher wird die Frage nach der Relevanz dieses Materials für die Täterinnenforschung aufgeworfen. Entgegen dem allgemeinen Ansatz wird nicht für einen direkten Vergleich zwischen männlichen und weiblichen Tätern plädiert, sondern nach neuen Zugängen und Ansätzen gefragt. Damit wird Gewalt nicht als ausschließlich männlich begriffen.

Die Nürnberger Prozesse stellen die Abrechnung mit den Kriegsverbrechern, aber auch mit den Verbrechern gegen die Menschlichkeit und den Frieden dar. Der vorliegende Band greift die wohl populärste Verhandlung heraus: den Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Dieser vom 14. November 1945 bis 1. Oktober 1946 geführte Prozeß wurde in seinen Protokollen und vorgelegten Beweismaterialien unmittelbar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Die 1947[1] veröffentlichten Dokumente waren jedoch trotz der hervorragenden Indizes aufgrund ihres Umfanges nur schwer in ihrer Gesamtheit zu erschließen: Das Sitzungsprotokoll umfaßt allein 16 000 Seiten, von der Anklage wurden 2360 und von der Verteidigung 2700 Beweisdokumente vorgelegt, das Gericht hörte 236 Zeugen und prüfte 300 000 eidesstattliche Erklärungen. Diese Vielzahl von Dokumenten wurde zwar bereits in Anfängen digital erschlossen[2], eine umfassende deutsche digitale Publikation lag jedoch bis dato nicht vor.[3]

Diesem Defizit wurde mit der vorliegenden Publikation Rechnung getragen. Die Edition gliedert sich dabei in drei Teile: Im ersten Abschnitt „Dokumente und Materialien“ befinden sich die Vorprozeßdokumente, die Anklageschrift, das Urteil und die verhängten Strafen. Diesem Teil folgen die Materialien der eigentlichen Verhandlung: die detaillierten Prozeßprotokolle. Den Abschluß bilden trotz der Möglichkeit der Volltextrecherche die Sach-, Personen- und Dokumentenindizes.Diesen Quellenteilen ist eine überarbeitete, illustrierte Einführung von Christian Zentner vorangestellt, die bereits im Zusammenhang mit dem Nachdruck veröffentlicht wurde.

Mit dieser Publikation ergeben sich völlig neue Zugänge zum Text und neue Wege für die wissenschaftliche Auswertung des Materials. Die elektronische Edition folgt dabei der amtlichen Textausgabe des Internationalen Militärgerichtshofes, auf die sich auch die zugefügte Seitenkonkordanz bezieht. Mit diesem Mediumwechsel ist eine komfortable Erschließung des Materials durch eine Fülle von Suchoptionen verbunden. Gleichzeitig ist es dem Nutzer möglich, den Text nach eigenen Anforderungen durch Markierungen, Kopier- und interne Speicherfunktionen aufzuarbeiten. Dabei schlägt die Oberfläche einen Bogen zwischen einfacher Anwendbarkeit für den ungeübten Nutzer und aufwendigen, selbstprogrammierbaren Suchroutinen und damit Anpassung an individuelle, komplexe Ansprüche.

Vermißt wird allerdings ein komfortablerer Zugriff auf die Treffer einer Suchanfrage, und auch die Bildschirmaufteilung und der Seitenumbruch, der nicht mit der Druckversion korrespondiert, sind unter den Defiziten dieses Produktes zu verbuchen. Zudem ist das Fehlen wichtiger Dokumente zu bemängeln, die zwar nicht Teil der amtlichen Ausgabe sind, aber wichtige Zusatzinformationen liefern, wie z.B. die Erklärung von St. James oder die in den Verhandlungen angesprochenen, aber nicht ausführlich zitierten Berichte und Protokolle.

Nürnberger Prozeß und Täterinnenforschung

Die Protokolle des ersten Prozesses eröffnen ein ausschließlich männliches Bild von Verbrechern. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß sich unter den 24 Angeklagten keine Frau befand – die brutalen und grausamen Verbrechen des Krieges und der Vernichtung waren, so scheint es, ausschließlich von Männern begangen worden.

Das Geschlecht, könnte man auf den ersten Blick vermuten, war bestimmend für die vorwiegend militärische Täterschaft, wie sie unter dem Nürnberger Prozeß zur Anklage kam: Verschwörung gegen den Weltfrieden, Durchführung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dadurch eröffnet diese digitale Publikation keine neuen Zugänge hinsichtlich der Täterinnenforschung. Insofern bleiben die Vorzüge dieses Mediums ganz der Untersuchung der Schicksale der Opfer vorbehalten. Zivile Verbrechen, wie bürokratisch verwalteter und industriell betriebener Massenmord, bleiben zumindest in diesem Prozeß außen vor.

Daher scheint es von besonderem Interesse zu sein, die folgenden 12 Prozesse, die sich u.a. gegen die Verbrechen von Ärzten und Juristen richteten, in diese Reihe aufzunehmen, um nicht nur eine verengte Perspektive zu erhalten, sondern die Gesamtheit der Verbrechen ins Zentrum des Interesses zu ziehen. Dabei kann es nicht genügen, zwischen der Art der Taten, die Männern und Frauen zur Last gelegt werden, zu unterscheiden, nach Verzerrungen der öffentlichen Wahrnehmung durch die Bedienung von Geschlechtsstereotypen zu fragen oder gar auf die Reflexion des Äußeren der Täterinnen einzugehen. Diese vorwiegend von der Kriminalitätsforschung aufgeworfenen und von der neueren Geschlechterforschung wieder aufgenommenen Fragen können sich nicht auf diese Perspektive beschränken.

Es muß allerdings eingeräumt werden, daß die Frage nach der geschlechterspezifischen Behandlung von Tätern einen interessanten Zugang liefern kann, ob also das Geschlecht Einfluß auf daß Strafmaß oder die Definition des Deliktes gehabt hat, d.h. ob eine Verzerrung des Gleichheitsanspruches auszumachen ist. Trotzdem gilt es zunächst, die Frage nach der Dimension, nach dem Ausmaß der Täterschaft zu stellen, was nicht automatisch Rückschlüsse auf die Relevanz bedeuten muß. Vielmehr ist es notwendig, die Taten in den historischen Kontext einzubetten.

Es muß die Frage gestellt werden, ob diese Verbrechen nicht in anderen Kategorien als den militärischen gedacht werden müssen. Damit genügt es nicht, nur nach den führenden Repräsentanten dieser Verbrechen, wie Martin Bormann und Hans Frank zu fragen, sondern vielmehr nach dem sie umgebenen und untergebenen personellen Apparat. Es müssen die Möglichkeiten zum Zugang zu bestimmten Positionen und das Maß von gefällten Entscheidungen bestimmt werden, d.h., es ist nach dem Handlungsspielraum und dessen Nutzung zu fragen oder zu untersuchen, ob die Täterinnen das spezifisch nationalsozialistische Frauenbild bedienen, oder ob sie diesen an sie gerichteten Ansprüchen bezüglich Normen, Werten oder Erwartungen an das Äußere nicht entsprechen? Dabei dürfte auch ein vergleichender Zugang von hohem Erkenntnisgewinn sein.

Diese Publikation liefert zwar keinen direkten Beitrag für diesen Bereich der Geschlechterforschung, es bleibt aber zu hoffen, daß der Band den Anfang darstellt und eine Gesamtpublikation der Nürnberger Prozesse folgt. Die aufgeworfenen Fragen im Zusammenhang mit den folgenden Prozessen haben ein starkes Interesse der Forschung an einem solchen Projekt aufgezeigt.

Anmerkungen

[1]: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947. (Nachdruck, Stuttgart 1994).

[2]: http://www.bz.nuernberg.de/nproz.htm.

[3]: Im Rahmen des Avalon Projektes der Yale Law School wurden die Protokolle und darüber hinaus in diesem Zusammenhang relevante Dokumente in englischer Sprache zugänglich gemacht: http://www.yale.edu/lawweb/avalon/imt/imt.htm.

URN urn:nbn:de:0114-qn012064

Vera Ziegeldorf

E-Mail: ZiegeldorfV@geschichte.hu-berlin.de

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