Antje Hilbig, Claudia Kajatan, Ingrid Miethe (Hg.):
Frauen und Gewalt.
Interdisziplinäre Untersuchungen zu geschlechtsgebundener Gewalt in Theorie und Praxis.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.
293 Seiten, ISBN 3–8260–2362–5, € 39,00
Abstract: Der Sammelband befasst sich kulturwissenschaftlich mit den Verschränkungen der diskursiven Repräsentationen von Geschlecht und Gewalt, mit deren alltäglichen Erscheinungsformen und juristischen Auslegungen. Im Vordergrund steht die personale Gewalttätigkeit als physisches Mittel des Zwangs, der Dominanz und der Macht. Der Band geht auf die Tagung „Frauen und Gewalt“ zurück, die im Oktober 2001 in Greifswald stattgefunden hat, und versammelt 18 Beiträge, die unterschiedliche Facetten des Themenkomplexes behandeln: Gewalt gegen Frauen wie Inzest, Vergewaltigung, Folter, Anprangerung im Internet, und weibliche Gewalttätigkeit wie Verbrechen, Mord, Kindsmord, physische Gewalt.
Der von Hilbig, Kajatan und Miethe herausgegebene Band Frauen und Gewalt versammelt die Beiträge einer gleichnamigen Tagung, die vom 5.-7.10.2001 in Greifswald stattgefunden hat. Allein der Titel verspricht, ein breites thematisches Spektrum der auf die Geschlechter bezogenen Gewaltförmigkeiten abzudecken. Dabei ist eine sinnvolle Eingrenzung auf Frauen vorgenommen worden, die es ermöglicht hat, die Beiträge auf Gewalt gegen Frauen wie auf Gewalt von Frauen zu konzentrieren.
Der vorliegende Sammelband befasst sich – überwiegend aus kulturwissenschaftlicher Perspektive – mit personaler Gewalt als physischem Mittel des Zwangs, der Durchsetzung, der Macht, in deren Folge die körperliche und emotionale Integrität einer Person verletzt wird. Im Vordergrund stehen dabei lebensweltliche und diskursive Formen sexueller Gewalt gegen Frauen, ausgehend von sprachlichem Sexismus, Missbrauch bzw. Inzest, erzwungener Prostitution oder Vergewaltigung. Auffallend ist, dass zunehmend auch weibliche Gewalttäterinnen ins Blickfeld der Analysen geraten – sexuelle Gewalttäterinnen dagegen bleiben offenbar noch tabuisiert (vgl. auch den Beitrag von Gahleitner).
Eine deutliche Stärke der Textauswahl liegt in der Zusammenstellung sowohl diskurstheoretisch angelegter als auch an der praktischen pädagogischen Arbeit orientierter Studien. Dies offenbart, obwohl nicht explizit erwähnt, Relationen, die zwischen der Gewalt als diskursivem Mittel und der Gewalt als lebensweltlicher und alltäglicher Erscheinung bestehen. Literarische, visuelle, juristische Repräsentationen von sexueller Gewalt schneiden und überlagern sich dabei mit tradierten Einstellungen und geschlechtlichen Mustern von Gewalttätigkeit. Dem Verhältnis von textueller und alltagspraktischer Repräsentation wird dementsprechend große Beachtung geschenkt:
Christine Künzel beschreibt in ihrer Analyse des literarischen Topos der „Vergewaltigung im Schlaf“ und des juristischen Umgangs mit diesem Delikt, wie sich die beiden Diskursstränge überkreuzen. Das literarische Motiv der Vergewaltigung einer schlafenden Frau gilt als Metapher für eine schuldlose weibliche Lust, es wird davon ausgegangen, dass die Frau zu schlafen vorgibt. Ebenso geht auch die Rechtsprechung in vielen Fällen von der Unglaubwürdigkeit eines solchen Tatbestands aus. In dem konkreten juristischen Fall, den Künzel beschreibt, wiederholt sich diese Konstruktion. Zwar wird der Frau nicht unterstellt, dass sie den Geschlechtsverkehr eigentlich gewollt hatte, aber die sexuelle Gewalt wird dadurch völlig negiert.
Auch Claudia Jarzebowski zufolge spiegelt sich das gesellschaftliche Verständnis vom „Inzest“ im 18. Jahrhundert in der Rechtsprechung: So wird der sexuelle Missbrauch der Stieftöchter geduldet, auch wenn er nicht durch eine Eheschließung auf eine legale Basis gestellt werden kann.
Ähnliche Überschneidungen von Diskursen und alltäglicher Wahrnehmung von Gewalt stellen Silke-Brigitta Gahleitner und Wilfried Schubarth in ihren Untersuchungen zur weiblichen Codierung der Opferrolle fest. Die Folge dieser sehr dominanten Codierung ist, dass Männer/Jungen als Opfer und Frauen/Mädchen als Täterinnen aus dem Blick verloren werden.
Weibliches Reden bzw. Schweigen und visuelle Evidenz sind ein Komplex, der immer wieder in den Diskursen zu Gewalt gegen Frauen auftaucht. Die weibliche Rede und damit Subjektivität bedeuten Verrat und Trug, der Anblick zeugt von Evidenz und Objektivität, z. T. gesteigert durch die Visualisierung der (sexuellen) Gewalt; ihr Schweigen aber erhöht die Frau zur Heiligen (Almut-Barbara Renger). Auch in der Ballade „Von der Kindsmörderin Maria Farrar“ von Brecht bleibt Maria Farrar selbst sprachlos, wird zum Objekt der Diskurse und erhält als Gewalttäterin keinen Subjektstatus (Hania Siebenpfeiffer).
Die literarische Darstellung der Vergewaltigung fand bis ins ausgehende 20. Jahrhundert zumeist zwischen den Zeilen statt. Ihr Pendant auf der Bühne ereignete sich hinter den Kulissen und zwischen den Akten (Gesa Dane). Erst die Autorschaft von Frauen kombiniert mit der Allgegenwart von Sexualität im Kino, auf der Bühne, in der Literatur bilden die Grundlage dafür, dass die sexuelle Gewalt als brutaler frauenfeindlicher Akt beschrieben werden kann, wie dies beispielsweise Sarah Kane oder Libuše Moníková tun.
Die literarischen Topoi der Gewalt meinen jedoch nur selten die ganz konkrete existenzielle Gewalt gegen Frauen, sondern verweisen zumeist auf etwas anderes, sei es die Gemeinschaft oder Veränderungen in der Geschlechterhierarchie.
Der kollektive Charakter von Gewalt ist ein Moment, das in vielen der Aufsätze mitschwingt. Gewalt und Macht sind wortgeschichtlich fest mit Gemeinschaft und Öffentlichkeit verknüpft. So wird der literarische Topos der „Vergewaltigung“ vielfach als Metapher für die rechtswidrige Verletzung einer Gemeinschaft verwandt. Gerade die sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie stellt eine weithin übliche und seit den Jugoslawienkriegen vielfach diskutierte Form von kollektiver Gewalt dar (vgl. Kappeler et al. 1994).
Eines der besonders erschreckenden Beispiele von sexueller Gewalt im Krieg ist die Zwangsrekrutierung von 100.000 bis 200.000 koreanischen Frauen in Militärbordellen der japanischen Armee im Zweiten Weltkrieg. Die japanische Medienberichterstattung der 90er-Jahre spricht den zynisch comfort women genannten Frauen den Opferstatus ab, indem ihnen Prostitution unterstellt wird (Daniela Rechenberger). Die sexuelle Gewalt des japanischen Militärs wird auf diese Weise legitimiert und der Staat Japan von der Verantwortung für die Taten seiner Armee freigesprochen.
Auch im Internet findet ein Vergemeinschaftungsprozess (der Männer) durch Repräsentationen sexualisierter Gewalt statt (Sonja Kleinke). In einem für heterosexuelle Männer gedachten chatroom wird die Exfreundin regelrecht visuell an den „Pranger“ gestellt. Dadurch werden die „Dominanzverhältnisse [zwischen den Geschlechtern, AK] reorganisiert“ (S. 207), was funktional ist für die Etablierung einer mächtigen Gemeinschaft von Männern.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches befasst sich mit der historischen Funktionalität von Frauenbildern, insbesondere von Bildern gewalttätiger Frauen und ihrer Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse. Die Repräsentation von weiblicher Gewalttätigkeit, so auch bei der „Kindsmörderin“ (Siebenpfeiffer), verweist immer auf eine besondere Position der Frau in den Geschlechterbeziehungen. Eine eigene Bösartigkeit, selbst motiviertes gewalttätiges Handeln werden „der Frau“ erst in jüngster Zeit zugestanden:
Elfriede Wiltschnigg verfolgt die Veränderungen der Bilder und Diskurse, die sich um die Konzeption der biblischen Judith als Mörderin ranken. Sie wird als heilige Mörderin, als erotische Figur oder als stolze und triumphierende Heldin dargestellt. Artemisia Gentileschi projiziert auf die Figur der Judith ihre eigene Vergewaltigung. Die Judith gerät des Weiteren zur verräterischen und Männer bedrohenden Frauenfigur, an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zur femme fatale, zur schönen Jüdin und im späten 20. Jahrhundert zur Projektionsfläche feministischer Künstlerinnen. Anhand der Entwicklung des Judith-Bildes lässt sich verfolgen, wie schwer es ist, die berechnende Gewalttat einer Frau an einem Mann nicht nur zu akzeptieren, sondern auch als solche darzustellen. Der kaltblütige Mord einer Frau ist ein Motiv, mit dem sich die Künstler schwer tun, den sie entsprechend der jeweiligen Frauenbilder umdeuten und sexualisieren (vgl. auch Karsten Uhls Untersuchung zum Bild der Verbrecherin zu Beginn des 20. Jahrhunderts). Gewalttätige Frauen verlieren auf diese Weise ihr irritierendes Moment, sie werden zum sexuellen Wesen reduziert und dadurch befriedet.
Erst in zeitgenössischen Texten findet eine Verschiebung des patriarchal definierten Verhältnisses von Frauen und Gewalt statt. Bei Maron beispielsweise lassen die Frauen die unterdrückte Gewalt zu, akzeptieren und reflektieren sie, und werden dadurch den Männern sogar überlegen. Alice Bolterauer betont, dass Maron mit ihrer tiermetaphorischen Beschreibung der Frauenfiguren zwar im Dualismus von Natur und Kultur verhaftet bleibt, jedoch einen mutigen Schritt unternimmt, diesen Dualismus zu unterlaufen. Marons Stärke liegt in der Anerkennung des Gewaltpotenzials von Frauen.
Gesellschaftliche, ideologische, religiöse Konzepte thematisieren Gewalt und insbesondere auch Gewalt gegen/von Frauen auf ganz unterschiedliche Weise. Das Spektrum der Beiträge reicht von einer Kritik an der Friedfertigkeit so genannter matriarchaler Gesellschaften (Eva-Maria Mertens) über den Versuch, die Bibel neu zu lesen (Ursula Hardmeier) bis hin zur stärkenden Funktion rechter Ideologien bei Frauen, die große Unsicherheiten bezüglich ihrer Geschlechtsrollen haben (Gertrud Siller).
In ihrem einleitenden Artikel erläutert Christina Thürmer-Rohr die Entwicklung des Gewaltbegriffs an den Debatten insbesondere der deutschen feministischen Bewegungen. Mit Beginn der Reflexionsphase in den feministischen Theoriediskussionen der 80er-Jahre wurde die soziale, kulturelle und historische Verortung der Geschlechter hervorgehoben und ihre Konstruiertheit betont. Frauen waren nicht mehr „Opfer“, sondern wurden zu „Mittäterinnen“, die nicht aus der Gesellschaft, ihren Hierarchien, Machtverhältnissen etc. aussteigen können, sondern mit ihnen ebenso verwoben sind wie Männer. Der Gewaltbegriff erhält im Kontext dieser Ansätze, so erscheint mir über die Darstellung von Thürmer-Rohr hinaus erwähnenswert, zusätzlich zu seinem Bedeutungsgehalt des Zwangs, Missbrauchs, der Macht und Herrschaft die Aspekte der Verfügung und Verwaltung, d. h. die Gewalt der sozialen Beziehungen und sozialen Institutionen. Als weiteren Wendepunkt innerhalb der feministischen Diskussionen nennt Thürmer-Rohr die Kritik an der eurozentrischen und westlichen Perspektive. Die bislang als gewaltförmig wahrgenommenen Geschlechterdifferenzen werden nun von anderen Alteritäten gekreuzt und überlagert, die sich insbesondere im Zuge der Globalisierung weiter verschärfen. Thürmer-Rohr spricht diesbezüglich von der „Gewalt der Moderne“ (S. 24), differenziert aber zwischen Machthabenden und Machtlosen, während m. E. hier keine deutlichen Unterscheidungslinien mehr gezogen werden können. Vielmehr stellen Macht und damit auch Gewalt ein Gefüge dar, das nicht nur alle auf sehr komplexe Weise einbindet, sondern vielfach eine Gleichzeitigkeit von Herrschaft und Unterdrückung, Privilegien und Diskriminierung, Zwang und Freiwilligkeit, Unterordnung und Dominanz bedeutet, die jedoch immer asymmetrisch bleibt.
Die Soziologin Anita Heiliger zeigt anhand der Münchner Kampagne „Aktiv gegen Männergewalt“ von 1997/98 Perspektiven auf, wie frauenfeindliche, sexistische Einstellungen und Gewalt gegen Frauen innerhalb der Gesellschaft von Grund auf verändert werden können. Die Münchner Kampagne ist ein hervorragendes Beispiel, wie verschiedene städtische Institutionen zusammenarbeiten können, um Sexismus und Gewalt gemeinsam zu bekämpfen. Nicht ganz verständlich ist, warum Heiliger ihrer Vorstellung der Münchner Kampagne eine Aufzählung von weltweiten Angriffen auf die körperliche und psychische Integrität von Frauen voranstellt. Damit suggeriert sie einmal mehr den universellen Opferstatus der „Frau“. Mit Hagemann-White (2002) ist vielmehr dafür zu plädieren, dass Gewalt „als eine lokal verortete Praxis von Dominanz und Unterordnung zu verstehen“ ist. Genau an diesem Punkt hat auch die Münchner Kampagne angesetzt.
Last but not least ist der beispielhafte Aufsatz von Ingrid Miethe zu erwähnen. Anhand des unerwarteten Auftauchens von weiblichen Gewalterfahrungen in Interviews mit politisch aktiven Frauen aus der DDR reflektiert Miethe das Problem des gewaltsamen Eingriffs in den Handlungsraum der interviewten Personen, das durch die Veröffentlichung von Analyseergebnissen entstehen kann. Das Problem der diskursiven Gewalt wird hier aus der Perspektive von politisch korrekter feministischer Wissenschaft behandelt. Miethe schlägt vor, die wissenschaftliche Analyse von der Publikation der Ergebnisse zu trennen. Auf diese Weise wird ein Freiraum fürs Denken geschaffen. Die Abkoppelung der Analyse von der Veröffentlichung ist ein innovativer Ansatz, der sicherlich auch auf andere Bereiche der qualitativen Forschung (z. B. Migration, prekäre Berufsgruppen) übertragen werden kann. Die Gefahr der Selbstzensur wird damit allerdings nicht aufgehoben, sie wird vielmehr auf eine reflektiertere Ebene verschoben.
Der Sammelband Frauen und Gewalt stellt eine anregende und vielseitige Lektüre dar. Patchworkartig werden die unterschiedlichen Facetten des Gewaltbegriffs, zwischen Kollektivität und Individualität, als Moment der Vergesellschaftung und der Etablierung einer sozialen Ordnung, als struktureller Zwang und als physische wie psychische Aktion, zwischen den geschlechtlich markierten Kategorien der Verletzungsmächtigkeit und der Verletzungsoffenheit (Wobbe 1994) und als diskursive Praxis zu einem Ganzen zusammengesetzt. An manchen Stellen wünscht man sich allerdings eine theoretische Einbettung des Gewaltbegriffs, sodass der Zusammenhang zwischen den vielen unterschiedlichen Aspekten der Gewalt, die hier beleuchtet werden, deutlicher zutage tritt.
Da die geschlechtliche Zugehörigkeit als Form gewalttätiger Vergesellschaftung und Gewalt als konstituierendes Moment der Geschlechterverhältnisse kaum problematisiert werden, stellt die von Regina-Maria Dackweiler und Reinhild Schäfer herausgegebene Anthologie Gewalt-Verhältnisse (Frankfurt am Main 2002) eine gute Ergänzung zum vorliegenden Band dar.
Insgesamt bietet Frauen und Gewalt einen inspirierenden Blick auf diejenigen Aspekte von Gewalt, die bislang eher tabuisiert wurden, wie die Frau als Mörderin, Verbrecherin, gewaltvoll Handelnde oder der Mann als Opfer – nicht nur – sexueller Gewalt. Den Herausgeberinnen gelingt es zu zeigen, dass die Relationen von Gewalt und Geschlecht historisch verortet sind und einem steten Wandlungsprozess unterliegen.
URN urn:nbn:de:0114-qn043026
Dr. Angela Koch
Interdisziplinärer Forschungsschwerpunkt der Universität Dortmund: „Dynamik der Geschlechterkonstellationen“
E-Mail: angela.koch@uni-dortmund.de
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