Susanne Kade:
Sexuelle Gewalt gegen Frauen: Was Männer davor schützt, zu Tätern zu werden.
Die Ermittlung protektiver Faktoren und ihre Implikationen für die Prävention.
Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung 2002.
341 Seiten, ISBN 3–89700–335–X, € 39,90
Abstract: Das 2002 erschienene Buch Sexuelle Gewalt gegen Frauen von Susanne Kade ist ein umfangreicher und detaillierter Bericht über eine – theoretisch fundierte – empirische Untersuchung möglicher (Sozialisations-) Bedingungen, unter denen sich Männer „sexuell gewaltlos“ verhalten, ergänzt um Überlegungen, wie solche Bedingungen bei Jungen und Männern präventiv gefördert werden können. Zentrales Anliegen der Autorin ist die durch einen Perspektivenwechsel (von der potentiellen Täterschaft aller Männer hin zur sexuellen Gewaltlosigkeit einiger) mögliche Ressourcenorientierung bei der Präventionsarbeit.
Das Buch von Susanne Kade behandelt zwei zentrale Themen: Einmal sucht sie in der einschlägigen relevanten Literatur wie auch – nach relativ erfolgloser Recherche – mit ihren empirischen Untersuchungen nach Faktoren, die begünstigen, dass Männer sich „sexuell gewaltlos“ verhalten. Zum anderen hat sie sich das Ziel gesetzt, einen Beitrag zur Prävention sexueller Gewalt gegen Frauen zu leisten, indem sie nach Wegen sucht, die vorgefundenen Bedingungen für („relative“) sexuelle Gewaltlosigkeit von Männern in Präventionsprogramme zu implementieren.
Um diese beiden Ziele zu verfolgen, sieht sich Susanne Kade genötigt, eine Reihe von Zwischenzielen zu definieren. So erachtet sie es für notwendig, zunächst einmal „sexuelle Gewaltlosigkeit“ zu definieren und zu operationalisieren (empirisch erfassbar zu machen) sowie ihr methodisches Vorgehen (qualitative Erhebung) zu verdeutlichen und zu begründen (Teil I). Da sie in der einschlägigen Literatur nicht fündig wird, referiert sie ersatzweise den wissenschaftlichen Kenntnisstand bezüglich sexueller Gewalttäter, um aus den Bedingungsfaktoren, die sexuell gewalttätiges Verhalten begünstigen, im Umkehrschluss Hinweise auf sexuell gewaltloses Verhalten zu erhalten (Teil II). Sodann vollzieht sie den Perspektivenwechsel hin zur sexuellen Gewaltlosigkeit und ermittelt nach und nach auf Grund ihrer empirischen Befunde Möglichkeiten zur Identifikation sexuell gewaltloser Männer und zur Ermittlung protektiver Faktoren; schließlich konkretisiert sie das Konstrukt der sexuellen Gewaltlosigkeit mit empirischen Ergebnissen (Teil III). Möglichkeiten, sexuelle Gewaltlosigkeit präventiv zu fördern, beschreibt Susanne Kade in Teil IV der Arbeit; Teil V bietet eine selbstkritische Zusammenfassung der Ergebnisse sowie einen Ausblick auf notwendige weiterführende wissenschaftliche wie praktische Fragestellungen.
In dem Teil, den Susanne Kade dem Thema „Sexuelle Gewalttäter“ widmet, trägt sie die wichtigsten Befunde und Diskussionen zur Definition, zur Häufigkeit (Epidemiologie) und theoretischen Begründung (Ätiologie) sexueller Gewalt zusammen.
Sie umschreibt „sexuelle Gewalt“ als „psychischen und/oder physischen Zwang, durch den Männer sexuelle Handlungen mit Frauen initiieren und ausführen“ (S. 42). Was die Häufigkeit sexueller Gewalt angeht, bezieht sich Susanne Kade hauptsächlich auf Ergebnisse von empirischen Untersuchungen, die mit Hilfe zweier (englischsprachiger) Fragebögen gewonnen wurden. Bei Frauen werden damit Erfahrungen mit sexueller Gewalt erhoben, bei Männern die bereits in der Vergangenheit ausgeübten Gewalttaten bzw. die Bereitschaft dazu. Die in der Literatur vorgefundenen Ergebnisse mit ihrer – in Abhängigkeit von Definition und Erhebungstechnik – großen Spannbreite von bis zu 50% vergleicht sie mit einer soliden eigenen empirischen Erhebung bei 245 Studenten, von denen 18% sexuelle Gewaltbereitschaft zeigen. (Dieses zusätzlichen Nachweises hätte es wohl nicht bedurft, um die Notwendigkeit zu Präventionsanstrengungen einmal mehr zu unterstreichen, aber die Fragebögen werden damit auf ihre Brauchbarkeit im deutschsprachigen Bereich erprobt.)
Bezogen auf die theoretische Begründung der sexuellen Gewalttaten von Männern gibt Susanne Kade den Stand der Forschung von 1999 wieder; es fehlen einige Autor-/innen, die die Kenntnisse über Täterverhalten und -strategien in den letzten Jahren erweitert haben (z.B. Rehder, Deegener, Bullens, Enders), insbesondere auch die Diskussion um „statische“ (in der Vergangenheit liegende, unveränderbare) und „dynamische“ (potentiell veränderbare) Faktoren. Im übrigen stehen individuumbezogene Überlegungen im Vordergrund; gesellschaftliche (und damit auch feministische) Ansätze spielen eine vergleichsweise geringe Rolle.
Als Risikofaktoren für Täterschaft werden herausgearbeitet: hohe allgemeine Aggressionsbereitschaft bei gleichzeitiger Promiskuität, sexuell-aggressive Phantasien, hoher Pornographiekonsum, defizitäre soziale Fertigkeiten (Verantwortungsgefühl, emotionale Nähe, Empathiefähigkeit), traditionelle, rigide, zumeist mädchen- und frauenverachtende Einstellungen, Hypermaskulinität und hohe Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen vor dem Hintergrund einer konfliktreichen Beziehung zu einem Elternteil, beobachteter oder selbst erfahrener (sexueller) Gewalt, erlernter Verknüpfung von Sexualität und Gewalt sowie einer ausgeprägten geschlechterspezifischen Sozialisation.
Männer werden von Susanne Kade dann als „sexuell gewaltlos“ bezeichnet, wenn sie angeben, keine sexuellen Gewalttaten (im Sinne von: Ausübung von psychischem oder physischem Druck zur Erzwingung von sexuellen Handlungen) begangen zu haben und für die Zukunft ein solches Verhalten als sehr unwahrscheinlich anzusehen ist. Da keine empirischen Untersuchungen zur Erforschung protektiver Faktoren sexueller Gewalt existieren und Susanne Kade sich der Gefahr der Verfälschung entsprechender Angaben gemäß sozial erwünschten Verhaltens sehr bewusst ist, zieht sie zur Auswahl ihrer Untersuchungsgruppe sexuell gewaltloser Männer das Fehlen der oben ausgeführten Risikofaktoren heran. In einer ersten aufwändigen qualitativen Untersuchung von 12 Männern erweist sich besonders die Zustimmung zu opfer-, täter- oder männerzentrierten Vergewaltigungsmythen („Sie hat es selbst gewollt/verdient“; „Vergewaltiger sind krank/Opfer ihrer Triebe“; „Männer können sich nicht kontrollieren“) als recht trennscharf. Auf der Basis dieser Kriterien werden bei den 245 Männern der Prävalenzstudie 16 Männer relativ sicher als „sexuell gewaltlos“ identifiziert und aufwändigen qualitativen Interviews unterzogen.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen die aus der Literatur bekannten oben aufgeführten Faktoren, besonders auch was die Ablehnung von Vergewaltigungsmythen anbelangt. Dazu ergeben sich Hinweise auf weitere protektive Faktoren. Sexuell gewaltlose Männer zeigen hohes (opferspezifisches) Mitgefühl, grenzen sich von sexuell aggressiven Gleichaltrigen ab, reflektieren die negativen Konsequenzen von sexueller Gewalt, die sie sexuell nicht erregend finden. Sexuelle Gewaltlosigkeit scheint darüber hinaus biografisch begünstigt zu werden durch ein offenes Gesprächsklima bezüglich der Themen Sexualität und sexuelle Gewalt in der Herkunftsfamilie, durch frühzeitige Sanktionierung von aggressivem Verhalten, durch enge, nicht-sexuelle Beziehungen zu Mädchen und Frauen, auch zu solchen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sich, durch die Übernahme „weiblicher Sichtweisen“ und schließlich durch gewaltfreie Modelle und solche, die nicht den traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen entsprechen.
Aus den Ergebnissen der empirischen Untersuchung leitet Susanne Kade konsequenterweise ab, dass diese Haltungen und Fertigkeiten bei der Präventionsarbeit mit Jungen und Männern eingeübt werden sollten. Sie diskutiert entsprechende Möglichkeiten und verweist darauf, dass hier noch viel Entwicklungsarbeit vonnöten ist.
Das vorliegende Buch ist eine Dissertation. In einer Doktorarbeit weist die Autorin nach, dass sie in der Lage ist, wissenschaftlich zu arbeiten. Das bedeutet, dass sie die Grundlagen ihrer Überlegungen und ihr Vorgehen Schritt für Schritt nachvollziehbar dokumentieren und wissenschaftlich begründen muss. Zudem wird ein hohes Maß an Selbstkritik und über die gefundenen Ergebnisse hinausführende Reflexionsfähigkeit gefordert. Alles dieses ist Susanne Kade aus meiner Sicht hervorragend geglückt.
Was den Anwendungsbezug anbelangt, haben Dissertationen einen schweren Stand: ob der Fülle des Materials und der Genauigkeit der Argumentationsketten lesen sie sich zumeist nicht einfach, selbst wenn die Autorin wie Susanne Kade gut schreiben kann. Susanne Kade hat sich bemüht, dieses Manko dadurch auszugleichen, dass sie zu Beginn jedes Kapitels dessen Stellenwert im Argumentationskontext expliziert und zudem durch eine Zusammenfassung abschließt. Dies hat aber wiederum den Effekt, dass der Text bisweilen recht redundant ist und die wirklich wichtigen und zukunftweisenden Ergebnisse mühsam aus der Fülle des Materials und des Textes herausgeschält werden müssen.
Kurz: unter akademischen Gesichtspunkten halte ich die Dissertation für sehr solide; unter der Anwendungsperspektive ist das Buch zwar ebenfalls recht ergiebig, verlangt von den Leser-/innen jedoch sehr viel Disziplin, zumal das Lay-out mit seiner winzigen Druckbuchstabengröße die Lektüre auch nicht gerade erleichtert. Zwei oder drei kürzere (Zeitschriften-) Beiträge wären hier vorzuziehen und dann unbedingt empfehlenswert.
Den besonderen Verdienst des Werkes sehe ich in dem konsequenten Perspektivenwechsel hin zur sexuellen Gewaltfreiheit, einem Blickwinkel, der das Herausarbeiten von protektiven Faktoren erleichtert, von Faktoren, die dabei helfen, Jungen und Männer davon abzuhalten, sich Mädchen und Frauen gegenüber sexuell gewalttätig zu verhalten. Dies ist für Überlegungen für eine ressourcenorientierte Präventionsarbeit von großem Nutzen.
URN urn:nbn:de:0114-qn043039
Prof. Dr. Arnfried Bintig
Fachhochschule Köln, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Geschlechterstudien
E-Mail: a.bintig@netcologne.de
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