Angelika Henschel:
Umgang mit häuslicher Gewalt.
Learning from Downunder. Konzepte und Maßnahmen am Beispiel der Region New South Wales, Australien. Ein Forschungsreisebericht.
Bielefeld: Kleine 2003.
148 Seiten, ISBN 3–89370–8, € 17,80
Abstract: Angelika Henschel präsentiert uns ein Fachbuch, das sich mit der Frage nach effektiven und sinnvollen Programmen zur Verhinderung von Männergewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen in der Familie befasst. Die Autorin hat 1977 den Verein Frauen helfen Frauen e.V. mit gegründet und war bis 1991 Mitarbeiterin im Autonomen Frauenhaus Lübeck, bevor sie ihre Tätigkeit als Jugendbildungsreferentin aufnahm. Auf der Grundlage wissenschaftlicher und beruflicher Erfahrungen mit diesem Thema beschreibt sie die verschiedenen Ebenen, auf denen in New South Wales „domestic violence“ (DV) bearbeitet und bekämpft wird. Nicht nur die Arbeit in den Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), den Frauenprojekten, Frauenhäusern und Beratungsstellen, wird hier vorgestellt, sondern das gesamte Netz der beteiligten Institutionen, Ministerien, Polizei und Gerichte. Engagierte Feministinnen kommen in ihrem Reisebericht ebenso zu Wort wie Wissenschaftler-/innen und Praktiker/-innen, die Anregungen in die gesellschaftspolitische Debatte bringen. Mit diesem interdisziplinären Querschnitt lässt sich das Buch auch als Lehrbuch an Hochschulen einsetzen. Der Autorin und dem Kleine Verlag ist es gelungen, bereits 10 Monate nach Beendigung der Reise diesen Band erscheinen zu lassen. Damit zeichnet sich das Buch durch große Aktualität aus.
Angelika Henschel gelingt es, mit erstaunlichem Elan und unermüdlicher Neugier, Kontakte zu den verschiedenen Einrichtungen in New South Wales zu knüpfen und für einige Stunden einen Praxisaustausch zwischen den Kontinenten herzustellen. Diese Informationen gibt sie in ihrem Buch weiter und was mir bemerkenswert erscheint, das Buch birgt ein Fülle von Post- und Mailadressen. Jede/r könnte also gleich auch ihre/seine Fachfragen über das Internet mit den entsprechenden Einrichtungen diskutieren. Ihre praktischen Erfahrungen auf dieser Reise reichen von einem Besuch einer Hausversammlung im Frauenhaus in Tamworth bis zur Teilnahme an Fachkongressen an der Universität in Sydney und in Coffs Harbour.
Ein weiterer Teil des Buches befasst sich mit der Kooperation unterschiedlicher Fachrichtungen zur wirksamen Bekämpfung von häuslicher Gewalt, die ja auch aktuell in Deutschland durch die Einführung des Gewaltschutzgesetzes diskutiert und angestrebt wird. In Australien resp. New South Wales (NSW) geht besonders die Justiz mit großen Schritten voran und stellt mit den sogenannten „apprehended violence orders“ (AVO oder Schutzanordnungen) einen wesentlichen Schutz für Frauen und Kinder vor erneuten Gewaltübergriffen dar. Es ist bei den Gerichten im ländlichen Bereich üblich, einmal wöchentlich über Anträge der Staatsanwaltschaft bzw. der Polizei oder aber auch der betroffenen Frauen zu entscheiden. Auch der Bereich des Wohnungswesens ist in Australien auf die Situation schutzsuchender Frauen und ihrer Kinder vorbereitet und berücksichtigt die Interessen von Gewalt betroffener Frauen, Mädchen und Jungen, indem Übergangswohnungen für sie bereitgestellt werden.
Wie schön ist es, wenn Forscherinnen Subjektivität als Herausforderung betrachten und den Versuch vermeintlicher Objektivität zu relativieren wissen. Ein Fachbuch, in welchem die Leser/-innen auch gleichzeitig ein wenig die Persönlichkeit der Autorin erforschen können, gibt es nur selten. In diesem Buch werden alle Beteiligten quasi ganzheitlich beschrieben, fachlich und persönlich. Das macht dieses Fachbuch so lesenswert und liebenswürdig. Angelika Henschel nimmt uns dabei auch mit auf eine Reise des inneren Monologs, die sich an die vielen Diskussionen, z. B. auf dem Weg ins Hotel anschließt. Sie macht deutlich, dass es ihr nicht nur um den Aspekt der „Gewalt gegen Frauen“ bei dieser Reise geht. Sie durchschaut den australischen Alltag mit wissenschaftlichem und feministischem Blick und Ironie. Wer die Reiseberichte von Bill Bryson kennt oder die Filme von Woody Allen schätzt, weiß wie unterhaltend und erfrischend, aber auch bewegend Subjektivität, mit Humor und Selbstkritik zum Ausdruck gebracht, sein kann. So lässt die Autorin es geschehen, dass wir ganz nebenbei erfahren, dass sie gerne kocht, putzt, schwimmt und Reiseandenken kauft. Das Tagebuch beinhaltet auch viele Gespräche über Land und Leute, Pubs und Politik, Gefahren und Gelegenheiten. Gerade diese Schilderungen machten es schwer, das Buch wieder aus der Hand zu legen, und viele meiner Kolleginnen und Freundinnen berichteten, dass sie das Buch in einem Zug ausgelesen haben. Es wäre daher wünschenswert, das Buch hätte einen lebendigeren, klangvolleren Titel. „Umgang mit häuslicher Gewalt“, ein doch sehr nüchterner Titel, veranschaulicht nicht, wie unterhaltend Fachliteratur sein kann, die nicht nur Antigewaltprogramme beschreibt, sondern auch Einblicke in die ländliche und städtische (Sub-)Kultur Australiens gibt.
Aus der Perspektive einer langjährigen Frauenhausmitarbeiterin zeichnet sich dieses Buch für mich besonders dadurch aus, dass es anschaulich zentrale Aspekte der sozialen Arbeit im Themenschwerpunkt DV aufzeigt. Aus meiner Sicht ist dieses Buch ebenso gut für die Ausbildung von Berufspraktikant/-inn/en geeignet, da die Arbeitsansätze unterschiedlicher Einrichtungen und Fachrichtungen dokumentiert werden. Grenzen und Möglichkeiten einzelner Institutionen werden erkennbar und ermöglichen eine Spiegelung der eigenen Arbeitsfelder. Das könnte wiederum eine fachliche Standortbestimmung bzw. gesellschaftliche Verortung begünstigen. Für die Arbeit im Frauenhaus ist dieses eine wertvolle Anregung, da sich die praktische Arbeit kontinuierlich einem Wandel unterzieht, in dem sich u. a. die politischen Konditionen verändern. Die Autorin dokumentiert u. a. folgende Bereiche:
Die Frage zur Situation der Aboriginal Frauen durchzieht das ganze Buch und wird bei den Themenbereichen mit berücksichtigt. So geht beispielsweise Angela Stanley vom Aboriginal Medical Service in Armidale der Frage nach, warum das Aufkommen von Gewalt in den Aboriginal Communities überproportional hoch ist. Aus meiner eigenen Reiseerfahrung in Australien weiß ich, dass die Lebenssituation der Aborigines noch häufig aus dem Alltag der weißen Australier/-innen ausgeblendet wird.
Die Autorin legt eine umfassende Statistik in ihrem Buch vor, die sehr differenziert Auskunft über Kindesmisshandlung, familiäre Hintergründe und Konsequenzen gibt. Berater/-innen und Lehrer/-innen u. a. sind in Australien verpflichtet, Kindesmisshandlung dem zuständigen Department of Community Service anzuzeigen (vergleichbar mit Sozial- und Jugenddiensten in Deutschland). Chris Burke vom Jannawi Family Center in Lakemba hat zwei Programme mit Puppen für die Arbeit mit Kindern und Erwachsenen entwickelt, die die vielfältigen Gewaltsituationen, von denen Mädchen und Jungen betroffen sind, lebendig zur Sprache bringen (als Video erhältlich).
Seit 1989 existiert in Australien ein nationales Männernetzwerk (Men against sexual assault). Es wurden Plakatkampagnen in Kooperation mit berühmten Sportlern gestartet, die Männergewalt eindeutig verurteilen. Im Beratungsalltag werden wahrscheinlicher Erfolge erzielt, wenn die Männer mit den Reaktion von Jungen und Mädchen konfrontiert werden, die Gewalt (mit)erlebt haben. Darüber hinaus dokumentiert das Buch eine Untersuchung zur sog. Rückfallquote in erneutes Gewaltverhalten während eines Beratungsprozesses und danach.
Hier erscheint mir besonders der Aspekt der regelmäßigen Gruppenarbeit in Frauenhäusern interessant. Es handelt sich um Gruppenangebote, die nicht nur auf die Gewalterfahrungen abzielen, sondern auch der Unterhaltung dienen und wichtige Informationen vermitteln. Häufig besteht die Gruppe aus Frauen im Frauenhaus, ehemaligen Bewohnerinnen und Frauen, die noch in Beziehungen leben, aber bereits Gewalt vom Partner erlitten haben. Kontinuierliche Gruppenangebote bewusster und zielorientiert in den deutschen Frauenhausalltag einzuplanen, erscheint mir sehr sinnvoll.
Hier werden Beispiele gegeben, wie insbesondere Justiz, Polizei und Gesundheitswesen, bedingt durch Fort- und Ausbildung, besser auf die Gewaltdynamik in Familien eingehen und mit den NGOs kooperieren können. Die Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass es besonders schwierig ist, Familienrichter/-innen, Therapeut/-innen und Ärzte/Ärztinnen in die Kooperationsrunden mit einzubeziehen. Die australische Situation gibt ein gutes Beispiel für die Verbesserung der Zusammenarbeit ab.
Darüber hinaus präsentiert Angelika Henschel Methoden zur Sensibilisierung von Multiplikator/-innen. Sie stellt an einem Beispiel einen Ansatz zur Evaluation von Beratungsarbeit vor. Sie vermittelt unterschiedliche feministische Theorien, die aktuell in Australien im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen und Kinder diskutiert werden, und im Anhang gibt sie einen großen Überblick über Texte, Videofilme und Materialien zum Themenbereich. Dieses Fachbuch hatte schon Folgen. Es hat die Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen des Autonomen Frauenhauses in Lübeck darin bestätigt, einen internationalen Erfahrungsaustausch zu starten. „Ein Frauenhaus zieht in die Welt“, heißt das Motto und es sind bereits viele Kontakte zu Frauenhäusern weltweit geknüpft (s. a. www.autonomes-frauenhaus.de). Mein persönliches Fazit: Ich halte diese Veröffentlichung von Angelika Henschel für ein richtungsweisendes Fachbuch für Lehrkräfte, Sozialarbeiter/-innen, Pädagog/-innen, Studierende, neugierige Laien und Frauen mit Gewalterfahrungen, weil es gut lesbar und lebendig geschrieben wurde. Ich schließe mich der Autorin an; sie sagt: „How exciting and what a chance to get a real impression of Australian daylife.“ So habe ich das Buch erlebt.
URN urn:nbn:de:0114-qn043063
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