Auf den Spuren von Foucault

Rezension von Corinna Heipcke

Stefan Neuhaus:

Sexualität im Diskurs der Literatur.

Tübingen und Basel: Francke 2002.

207 Seiten, ISBN 3–7720–3331–8, € 29,90

Abstract: Stefan Neuhaus untersucht narrative Texte von Daniel Defoes Moll Flanders bis Thomas Brussigs Helden wie wir auf ihre Inszenierung und Unterwanderung asymmetrischer Geschlechterbeziehungen sowie auf ihre Konstruktion symmetrischer Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Während seine Untersuchung auf der Textebene Machtverhältnisse entlarvt, bestätigt sie ein asymmetrisches Geschlechterverhältnis durch die Auswahl der Texte. Sie stammen größtenteils aus dem westlich-europäischen Kanon, der für seine Bevorzugung männlicher Autoren bekannt ist.

In seiner Untersuchung beschäftigt sich Stefan Neuhaus mit literarischer Erzählprosa aus der westeuropäischen und US-amerikanischen Literaturgeschichte seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dabei bemüht er sich um die „Nachzeichnung eines Teildiskurses an Beispielen“ (S. 60). Der gemeinte Teildiskurs ist der von „Literatur und Sexualität“, und in der Analyse desselben bestrebt sich der Autor, Michel Foucaults Verfahrensweise der Diskursanalyse zu folgen. Letztere wird deshalb im ersten Teil der Arbeit ( „Sexualität im Diskurs“) ausführlich behandelt, bevor es im zweiten Kapitel an die Analyse der ausgewählten Beispieltexte geht.

Ein Kessel Buntes

Der vergnüglichere Teil der Arbeit ist zweifelsohne der zweite. Dort wird ein recht buntes Sortiment Romane von Daniel Defoes Moll Flanders (1722) bis zu Thomas Brussigs Helden wie wir und Tanja Kinkels Löwin von Aquitanien (1991) auf ihre Darstellung oder Inszenierung sowie ihre Subversion von Sexualmoral, männlichem Blick und asymmetrischen Beziehungen zwischen den Geschlechtern (nach Neuhaus ausschließlich Beziehungen, in denen die Männer dominant sind! Vgl. S. 141) untersucht. Die so entstehenden Textanalysen, bei denen der Autor auf tiefgehende literaturhistorische Kontextualisierungen verzichtet, gewinnen fast journalistischen Charakter: Sie sind schnelle, luzide Beobachtungen und als solche interessant. Für die Forschung sind Neuhaus‘ Beobachtungen nicht immer neu, und das mag auch an seiner Orientierung an den kanonisierten Werken verschiedener westeuropäischer Literaturen liegen: So ist der Anglistik seit ihrem Bestehen bekannt, dass Defoes Moll Flanders eine scharfe Kritik der zeitgenössischen Sexualmoral beinhaltet, zumal dies Publikum und Literaturkritik schon beim Erscheinen des Romans bemängelt hatten. An anderer Stelle wiederum ist die Arbeit mit kanonisierten Texten innovativ, etwa in der Analyse einer Episode aus Fontanes Stechlin.

Ärgerlicher Verzicht

Problematischer ist der erste Teil der Untersuchung, in dem der Autor darlegt, dass es ihm – ganz in der Tradition Foucaults stehend – um die Analyse von Machtverhältnissen gehe, genauer gesagt um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, wie es in der Darstellung von Sexualität in der Literatur zu Tage tritt. Auch möchte er zeigen, in welchen literarischen Texten und mit welchen Strategien symmetrische Geschlechterverhältnisse hergestellt werden. Als Diskursanalytiker auf den Spuren Foucaults wähnt sich Neuhaus bei seinem Unternehmen jenseits der Grenzen des untersuchten Geschlechterdiskurses. Dies wird deutlich, wenn er anmerkt, Foucault selbst sei der Auffassung gewesen, sich durch Diskursanalyse außerhalb eines Diskurses stellen zu können (vgl. S. 22). Die beabsichtigte Transzendierung des Gender-Diskurses und der mit ihm einhergehenden asymmetrischen Verhältnisse wird jedoch konterkariert durch die Verfahrensweise des Verfassers. Während seine Textanalysen Genderisierungen durchschauen und deren Strategien offen legen, reifizieren die Textauswahl und einige en passant fallengelassene Äußerungen asymmetrische Geschlechterverhältnisse innerhalb der Literaturwissenschaft: Von den knapp vierzig für die Analyse ausgewählten Texten sind nur vier Texte von Autorinnen. Man/frau sollte doch meinen, dass die Autorinnen der westlichen Literatur mehr zum Thema „Sexualität im Diskurs der Literatur“ beizutragen hätten und es auch eine Frage der Abkehr vom asymmetrischen Geschlechterverhältnis wäre, sie zu Wort kommen zu lassen!

Ein Motiv für diesen Verzicht könnte Neuhaus‘ folgenreiche Fehleinschätzung sein, „Frauen waren bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend von der Produktion literarischer Texte ausgeschlossen“ (S. 66). Diese Aussage zeugt davon, dass Neuhaus die Forschungsergebnisse, die die feministische Literaturwissenschaft in den letzten 30 Jahren erbracht hat, nicht zur Kenntnis genommen hat. Über die Motive dieser Entscheidung könnte hier nur spekuliert werden, festzuhalten bleibt aber, dass Neuhaus‘ Verfahrensweise einen Ausschluss der kulturellen Produktion von Frauen – der literarischen sowie der wissenschaftlichen – in Kauf nimmt und damit asymmetrische Geschlechterverhältnisse bestätigt. Und das ist ärgerlich.

URN urn:nbn:de:0114-qn043128

Dr. Corinna Heipcke

Guildford, University of Surrey

E-Mail: c.heipcke@surrey.ac.uk

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