Kerstin Barndt:
Sentiment und Sachlichkeit.
Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik.
Köln: Böhlau 2003.
229 Seiten, ISBN 3–412–09701–2, € 34,50
Abstract: Kerstin Barndt untersucht in ihrer Studie Romane Vicki Baums und Irmgard Keuns. In drei Fallbeispielen analysiert sie nicht nur die Texte selbst, sondern auch deren Rezeption. Vor diesem Hintergrund deutet sie das Diskursmuster ‚Neue Frau‘ als weibliche Verhaltenslehre im Kontext der Literatur der Neuen Sachlichkeit.
Kaum ein Weiblichkeitsbild hat in der feministischen Literaturwissenschaft ein solch immenses Interesse erfahren wie die Figur der Neuen Frau. Die Bubikopf tragende, hinter Schreibmaschinen in großstädtischen Büros sitzende rauchende junge Angestellte avancierte zur Ikone einer populären Mythologie der 20er Jahre. Allerdings lässt sich an der Forschungsgeschichte zur Neuen Frau auch die Theorieentwicklung von feministischer bzw. Gender-Theorie verfolgen: Einst als Projektionsfigur weiblichen Aufbruchs gehandelt, dann ideologiekritisch entlarvt, wird die Neue Frau nun als Diskursmuster entdeckt: Auf diesem weniger enthusiastischen Weg nähert sich Kerstin Barndt dem „Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik“. Das so durch ein Frauenbild bestimmte Genre untersucht sie am Beispiel von zwei Autorinnen: Vicki Baum und Irmgard Keun. Dabei handelt es sich um Schriftstellerinnen, deren Romane zu den meistgelesenen der Weimarer Republik zählen und die damals wie heute unter dem Verdacht der Trivialität stehen. Gerade aufgrund ihrer Popularität eignen sich diese Romane für Barndt besonders, um die Diskursivität des Musters ‚Neue Frau‘ zu untersuchen. Dieses ist, wie sie betont, durch das Wechselverhältnis von Produktion und Rezeption gekennzeichnet, und so liegt eine wichtige Neuerung von Barndts Untersuchung in der Einbeziehung von Rezeptionszeugnissen und literaturkritischen Debatten.
Zunächst erläutert Barndt jedoch die Entstehung des Genres „Roman der Neuen Frau“ im Zusammenhang mit der Situation des Literaturbetriebs und den zeitgenössischen literarästhetischen Debatten: Entscheidend hierfür sei das Zusammentreffen der ‘Krise des Buches‘, des literarischen Programms der Neuen Sachlichkeit und der Herausbildung einer ‚Frauenliteratur‘. Das Aufkommen einer populären Unterhaltungsliteratur führe zur Erosion des bürgerlichen, auf „Hochliteratur“ fixierten Literaturbegriffs. In den Literaturdebatten der 20er Jahre werde hierfür der über eine längere Tradition verfügende Begriff der „mittleren Sphäre“ bemüht – ein Etikett, das von jeher der Literatur von Frauen verliehen wird. Das neusachliche, am Postulat des „Gebrauchswerts“ orientierte Literaturprogramm nobilitiere damit gewissermaßen eine spezifisch „weibliche“ Literatur. Der „Roman der Neuen Frau“ stehe für den Beginn einer (neuen) ‚Frauenliteratur‘, die mit überlieferten Geschlechterzuweisungen ebenso bricht wie mit der tradierten Ästhetik. Die literarische Figur der Neuen Frau sei in diesem Zusammenhang nicht mehr emanzipatorisches Ideal, sondern Ausdruck dieser Umbrüche und deshalb eine ‚Übergangsfigur‘, die nicht am Maßstab vollendeter Subjektwerdung beurteilt werden dürfe.
Mit der Hervorhebung ihres transitorischen Charakters wendet sich Barndt gegen ideologiekritische Einordnungen der Neuen Frau nach dem Raster „kritisch“ vs. „affirmativ“. Der Begriff der „mittleren Sphäre“ ist hier zugleich ästhetisch wie gesellschaftlich und politisch zu verstehen. Die Kritik an politischer ‚Ideologisierung‘ der Neuen Frau, die schon die Protagonistinnen der untersuchten Romane (insbesondere Keuns) üben, wird von Barndt gegenüber der Forschung wiederholt. Allerdings wendet sie sich damit nicht nur gegen die Forschung der 80er Jahre, sondern blendet auch einen nicht unerheblichen Strang der Diskursgeschichte der Neuen Frau aus. Schließlich hat der Begriff selbst seinen Ursprung in der Frauenbewegung genommen und wurde von Theoretikerinnen wie Alexandra Kollontai und anderen als politischer Strategiebegriff konzipiert. Zwar zählt Barndt zu den diskursiven Strängen, die das kulturelle Konstrukt der Neuen Frau konstituieren, neben der Sexualwissenschaft auch den politischen Diskurs und die Frauenbewegung, ihr Hauptaugenmerk richtet sie aber auf die Konstruktion der Neuen Frau durch das Wechselverhältnis zwischen Autorinnen und Leserinnen.
Hier liegt zugleich ein Problem der Studie: Die These, es habe sich ein „Diskurs zwischen Autorin und Leserin etabliert“ (S. 123), suggeriert eine von der Rezeption ausgehende Wirkung auf die Produktion. Diese Wirkung wird jedoch nicht recht deutlich. Zwar untersucht Barndt die kontroversen Debatten um die populären Romane unter Studentinnen der Weimarer Republik oder im sozialdemokratischen Vorwärts, eine Einflussnahme der Leser/-innen auf die Texte kann aber so nicht nachgewiesen werden.
Zunächst aber widmen sich Barndts Analysen den Romanen selbst. In drei Fallstudien untersucht sie Vicki Baums stud. chem. Helene Willfüer (1928) sowie Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) und Das kunstseidene Mädchen (1932). Im Kontrast zur Auffassung von der ‚Männlichkeit‘ der Neuen Sachlichkeit (Kurt Pinthus) versucht sie, anhand der Protagonistinnen drei Beispiele weiblicher neusachlicher „Verhaltenslehren“ (Lethen) aufzuzeigen, die dem Übergangsbewusstsein der Neuen Frau Rechnung tragen.
In ihrer Analyse von Vicki Baums stud. chem. Helene Willfüer zeigt Barndt auf, wie die Autorin brisante Themen der Weimarer Zeit, z. B. die Diskussion um den Paragraphen 218, behandelt und diskursfähig macht. Gleichzeitig wird Baums eigenes Verhaftetsein in der „Lebensideologie“ der Zeit, ihr Rückgriff auf Eugenik und auf rassistische Diskurselemente deutlich. Damit ist der Roman beispielhaft für die von der neueren Forschung bislang als spezifisch männliches Verhaltensmuster betrachteten Anleihen der Neuen Sachlichkeit an vitalistisch-biologistisches Denken. Indem die Figuren zu Personifizierungen von Leben und Tod gestaltet werden, wird das individuelle Schicksal der Protagonistin – der jungen Wissenschaftlerin, die ein Verjüngungsmittel entdeckt – mit dem überindividuellen Diskurs verbunden. Der melodramatisch-klischeehaften Handlungsebene – die junge Frau und uneheliche Mutter, die von ihrem akademischen Lehrer geheiratet wird – steht die „diskursive Arbeit“ (S. 95) am Muster der Neuen Frau gegenüber, die sich die zeitgenössische Lebensideologie für eigene Zwecke aneignet. Ob es sich hierbei jedoch tatsächlich, wie Barndt meint, um einen „spielerischen Umgang mit zeitgenössischen Diskursen, Ideologien“ (S. 98) handelt, oder ob der Roman nicht schlicht als Dokument des zeitspezifischen Biologismus angesehen werden muss, sei dahingestellt.
Auch Irmgard Keuns Roman Gilgi – eine von uns behandelt das Thema unehelicher Mutterschaft. Barndt sieht deshalb in den beiden Romanen typische Beispiele für die Entwicklung weiblicher Lebensentwürfe im Bruch mit traditionellen Geschlechterrollen. Die Autorin wendet sich gegen den Vorwurf, Baum und Keun hätten in diesen Entwürfen der nationalsozialistischen Mutterschaftsideologie zugearbeitet, stattdessen stellt sie fest, dass beide Romane ein zeitgenössisches feministisches Anliegen verfolgen, indem sie für die Anerkennung unehelicher Mütter eintreten. Möglicherweise handelt es sich dabei jedoch nicht um einen Widerspruch, vielmehr kommt gerade an der Figur der Neuen Frau das Zusammentreffen emanzipatorischer und reaktionärer Aspekte in den gesellschaftlichen Diskursen der Zeit zum Ausdruck.
Wie bei Vicki Baums Roman zeigt Barndt auch bei Gilgi das melodramatische Muster auf, das auf der Spannungsbildung zwischen Gegensätzen – „Wissenschaft oder Weiblichkeit, Arbeit oder Liebe“ (S. 138) beruht, die zwar als unvereinbar gelten, aber im Entwurf der Neuen Frau auch partiell aufgelöst werden. Was in diesen beiden Texten anklingt, wird in Keuns nächsten Roman Das kunstseidene Mädchen auf die Spitze getrieben. Die Nähe der Erzählhaltung zum Medium Film, die der Roman aufweise, zeige besonders deutlich das Spiel mit melodramatischen Elementen der Selbstinszenierung und Selbstreflexion. Hier werde der „Diskurs der Neuen Frau [selbst] zum Gegenstand des Textes“ (S. 28). Das Melodramatische ist in Barndts Sicht nicht Ausdruck von Trivialität, sondern entfaltet in der Herausbildung des Genres des „Romans der Neuen Frau“ eine besondere Produktivität: Entgegen der über die Geschlechterdichotomie verlaufenden Trennung zwischen sentimentaler Unterhaltungs- und (neu-)sachlicher Hochliteratur zeigt Barndt am „Roman der Neuen Frau“ die Integration von „Sentiment und Sachlichkeit“ „als Kategorien des Verhaltens und des Gefühls, die zwar in unterschiedlicher Gewichtung, aber dennoch gleichzeitig die Schreib- und Leseweisen der Neuen Frau bestimmen.“ (S. 26) Im Bild der Neuen Frau biete sich so ein weiblicher Lebensentwurf jenseits der Tradition, an den die zeitgenössischen Leserinnen anknüpfen können.
Barndts Studie zeigt so überzeugend die Bedeutung des „Romans der Neuen Frau“ als weibliche Verhaltenslehre in Zeiten des Umbruchs (nicht nur) der Geschlechterverhältnisse auf. Anstelle des abrupten Endes wäre allerdings eine Zusammenführung der unterschiedlichen thematischen Aspekte und Argumentationsebenen zwischen Inhaltsanalyse, ästhetischen Strategien und Rezeptionsstudie in einem Schlussresümee hilfreich gewesen.
URN urn:nbn:de:0114-qn043138
Urte Helduser
Philipps-Universität Marburg, Institut für Neuere deutsche Literatur
E-Mail: helduser@staff.uni-marburg.de
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