Ulrike Schlicht:
Selbsterweiterungsprozesse alleinlebender Frauen.
Münster: Waxmann 2003.
264 Seiten, ISBN 3–8309–1243–9, € 29,90
Abstract: Ein Leben ohne Partner und Kinder könnte zu einer Erweiterung des Selbst und damit zu einer positiven Persönlichkeitsveränderung führen. Dieser Hypothese geht U. Schlicht in Interviews mit 15 alleinlebenden Akademikerinnen in Berlin nach und findet ihre Hypothese weitgehend bestätigt.
Alleinlebende Frauen sind keine Erscheinung der Gegenwart, vielmehr hat es sie immer und in beträchtlichem Ausmaß gegeben, aber ihre „Geschichte ist noch nicht geschrieben“. Da sie vom weiblichen Idealbild, das sich an Liebensbeziehungen und Mutterschaft orientiert, abweichen, gilt ihr Status in unserer Gesellschaft eher als eine vorübergehende Lebensphase. Tatsächlich – das belegen neuere Studien – trifft diese Beobachtung eher auf alleinlebende Männer zu.
Ulrike Schlicht geht in ihrer der Biographieforschung verpflichteten Arbeit davon aus, dass ihre Untersuchungsgruppe bewusst ihr Alleinsein lebt und gestaltet. Bei dieser Gruppe handelt es sich um 15 kinder- und partnerschaftslose Akademikerinnen im Alter zwischen 35 und 45 Jahren, die alle in Berlin wohnen. Einige der jüngeren Frauen haben bereits eine Ehe hinter sich.
Für ihren Forschungsansatz entwickelt Schlicht das Modell des Selbsterweiterungsprozesses: es fußt auf einem Konzept unterschiedlicher Selbstkonstrukte. Selbsterweiterung versteht Schlicht „im Sinne einer Erweiterung der Selbst-Gestaltung, definiert als Herausbildung aller Eigenschaften, Kompetenzen und Handlungsdispositionen, die das Alleinleben positiv beeinflussen“ (S. 12). Damit ist auch das Forschungsziel benannt, nämlich herauszufinden, ob das Alleinleben zu einer Erweiterung des Selbst führt oder nicht.
Im Zentrum der Untersuchung steht die Hypothese, dass das „Herausgelöst sein aus dem Muster der Partnerin eines Mannes und einer Weiblichkeitsvorstellung jenseits der Mutterrolle […] zur Entwicklung eines spezifischen Selbst führen [müsste], jenseits bestehender alltagsweltlicher Vorstellungen von Frausein“ (S. 38). „Selbst“ und „Erweiterung“ meinen dabei einen Entwicklungsprozess, der eine positive Persönlichkeitsveränderung bewirkt. Im Zentrum der Untersuchung steht daher der „Gelingensprozess des befriedigenden Alleinlebens der interviewten Frauen“ (S. 49). Selbsterweiterung wird gemessen am Gelingen der Lebensbewältigung in den drei Bereichen der Umwelt, Mitwelt und Innenwelt, wobei die Erfassung der Innenperspektive der Frauen im Mittelpunkt steht. Kriterien für das Gelingen sind zunehmende Autonomie und eine wachsende Problemlösekompetenz. Die Untersuchungsmethode folgt einem qualitativen Forschungsparadigma und nutzt themenzentrierte Einzelinterviews mit Leitfaden.
Die Interviews enthalten Fragen zu den Bereichen Lebensgeschichte, Arbeit und Soziales, psychische Dispositionen, Weiblichkeitsbegriff sowie Verständnis von Sexualität und Ambivalenzen des Alleinlebens.
Durchschnittlich leben die Frauen 2,5 Jahre allein, der größte Teil von ihnen hatte sich nicht für das Alleinleben, sondern gegen eine unbefriedigende Beziehung entschieden. Nur drei Frauen wünschen sich baldmöglichst eine neue Partnerschaft, mehr als die Hälfte der Befragten betrachtet Alleinleben als eine eigenständige Lebensform. Nach Schlicht gelingt der Selbsterweiterungsprozess bezogen auf die Lebensbereiche Arbeit und soziales Umfeld, wenn die Frauen selbstbestimmt und mit ausreichend sozialen Ressourcen ihr Leben gestalten. Die Autorin weist kritisch darauf hin, dass bei der Untersuchungsgruppe weniger von Lebensplanung, sondern eher von Lebensorganisation gesprochen werden könne. Die Lebensorganisation ist individualisiert, Arbeit hat einen sehr hohen Stellenwert, aber weniger im Sinne von Karriere oder Statusmotivation, sondern ausgerichtet an Sinnhaftigkeit und Zufriedenheit. Die meisten der Befragten können sich auf ein freundschaftliches Netzwerk verlassen, in dem berufliche Arbeit von allen gleichermaßen als wichtig oder sogar als vorrangig angesehen wird. Die eigene Wohnung, der alle eine hohe Bedeutung beimessen, ermöglicht Autonomie und Selbst-Vergewisserung.
Die überwiegende Mehrheit der Frauen wählt in Krisen eine aktive Form der Auseinandersetzung und ist in der Lage, Konflikte anzusprechen. Die meisten berichten über ein positives Lebensgefühl, was Schlicht als konstitutiv für den Selbsterweiterungsprozess ansieht. Die positive Wahrnehmung des Alleinlebens wird am ehesten durch Unbewältigtes aus der Kindheit, unverarbeitete Trennungen und ein Festhalten an tradierten Weiblichkeitsvorstellungen beeinträchtigt. Voraussetzung für den Selbsterweiterungsprozess ist auch die Fähigkeit, durch Denken das Gefühl zu beeinflussen. Die Mehrheit der Frauen hat diese Erfahrungen gemacht.
Die Befragten zeigen ein reiches Spektrum an Vorstellungen über Weiblichkeit. Ihr weibliches Selbstbild schließt auch Komponenten von Macht und Erfolg ein. Ihr Selbstwertgefühl hängt nicht von Mutterschaft ab. Die Verwendung weiblicher Formen in der Sprache beurteilen sie unterschiedlich, die Mehrheit von ihnen sieht es als wichtig an, Frauen und ihre Leistungen klar zu benennen. Fragen nach Sexualität zeigen, dass fast die Hälfte der Frauen eine fehlende partnerschaftliche Sexualität als negativen Aspekt des Alleinlebens sehen. Teilweise ist das Verständnis von Sexualität an männlichen Vorstellungen orientiert. Schlicht sieht in diesem Bereich den Selbsterweiterungsprozess als nur in Ansätzen gelungen.
Ambiguitätstoleranz, Umgehen- und Aushaltenkönnen von Ambivalenzen, wird als psychische Voraussetzung für ein gelingendes Alleinleben angesehen. Ein Selbstbild, basierend auf unterschiedlichen Selbstkonstrukten, lässt auch widersprüchliche Bilder der eigenen Person zu. In den Interviews werden Fragen nach Ambivalenzen in den Bereichen: erhöhte Bewusstheit, Balance zwischen Progression und Regression sowie Bewältigung der Einsamkeit gestellt. Bei diesem Themenkomplex zeigt sich, wie bewusst die interviewten Frauen ihr Leben gestalten, wie sehr aber auch einige hin- und hergerissen sind zwischen Traditionen, alten Normen und einem eigenständigen Lebensanspruch. Frauen, die unbewältigte Konflikte aus der Kindheit oder aus Beziehungen mit sich herumtragen, haben es hier besonders schwer.
Für die Akzeptanz von Alleinleben ist auch das Selbstwertgefühl ein entscheidender Faktor. Ein hohes Selbstwertgefühl gestattet, diese Lebensform als gleichwertig mit einer Paarbeziehung ansehen zu können.
Beim überwiegenden Teil der Befragten findet sich ein Selbstkonzept, das auf der Wahrnehmung verschiedener Selbstkonstrukte fußt. Das führt Schlicht zu der Feststellung, dass auf der Grundlage ihrer Theorie von einem Selbsterweiterungsprozess gesprochen werden kann. Diesen leben die meisten von ihnen in nahezu allen Lebensbereichen. Die Autorin weist mehrfach darauf hin, dass es sich nicht um eine repräsentative Studie handelt und weiterer Forschungsbedarf besteht.
Der komplexe, klar strukturierte und gut nachvollziehbare Forschungsansatz, die sensibel geführten, ausführlichen und behutsam interpretierten Interviews machen diesen Text zu einer anregenden und nachdenkenswerten Lektüre.
URN urn:nbn:de:0114-qn043184
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