Vom heimlichen Lehrplan zur geschlechtsbewussten Erziehung

Rezension von Kerstin Schenkel

Margarete Blank-Mathieu:

Kleiner Unterschied – große Folgen?

Geschlechtsbewusste Erziehung in der Kita.

2. aktualisierte Aufl., München: Reinhardt 2002.

140 Seiten, ISBN 3–497–01619–5, € 11,90

Abstract: Margarete Blank-Mathieu hat sich zum Ziel gesetzt, Erzieher/-inne/n Impulse für eine geschlechtsbewusste Erziehung in der Kita zu geben. Ihr Ausgangspunkt ist die Ablehnung einer geschlechtsneutralen Pädagogik, die verhindert, dass Kinder in ihrer frühen geschlechtsspezifischen Prägung differenziert wahrgenommen werden. Stattdessen plädiert sie dafür, Jungen und Mädchen auf der Basis existierender geschlechtsspezifischer Unterschiede zu befähigen, individuelle Geschlechtsrollenkonzepte auszuprägen und flexibel handhaben zu können. Auf diesem Hintergrund werden in Blank-Mathieus Buch Erziehungsziele definiert und Möglichkeiten aufgezeigt, die Erzieherinnen für eine geschlechtsbewusste Erziehung im Kindergarten berücksichtigen können.

Geschlechtsneutrale versus geschlechtsdifferente Pädagogik?

Kinder sind bei ihrem Eintritt in den Kindergarten je nach Alter bereits mehr oder weniger stark von Elternhaus, familiärem Umfeld, Medien u. a. geschlechtsspezifisch vorgeprägt. Der Autorin ist zuzustimmen, dass diese Vorerfahrungen zu berücksichtigen sind; eine dem Gleichheitsgrundsatz als abstrakte politische Norm folgende Pädagogik, die Kinder als Neutren wahrnimmt, vernachlässigt die sozial hergestellten Ungleichheiten zwischen Jungen und Mädchen. Warum aber muss man – wie Blank-Mathieu – daraus schlussfolgern, dass allein eine geschlechtsdifferente Erziehung in der Lage ist, die Kinder auf eine Zeit vorzubereiten, in der sie mit sich verändernden Geschlechtsrollen und flexiblerer Rollenverteilung klarkommen müssen? Wenn aus der Anerkennung von Vorprägungen die Geschlechtsdifferenz zum absoluten, unumstößlichen Ausgangspunkt der weiteren Erziehung wird, ist der Kreislauf der frühen Typisierung ein weiteres Mal in Gang gesetzt. Die Chance, die große Verhaltensvielfältigkeit und -widersprüchlichkeit von Jungen und Mädchen wahrzunehmen und aufzugreifen, ist damit vertan.

Anspruch und Wirklichkeit

Das Ziel einer geschlechtsbewussten Erziehung ist, die Kinder mit vielfältigen Ausprägungen von männlichen und weiblichen Geschlechterrollen zu konfrontieren, um ihnen zu ermöglichen, Eigenschaften je nach Charakter und Individualität in ihr Selbstverständnis zu integrieren. Die Erzieherinnen, denen das Buch als Anhaltspunkt für die Umsetzung dieses Ziels dienen soll, werden jedoch vor allem bei der Beschreibung geschlechtsspezifischer Vorerfahrungen (Kapitel 1) und des geschlechtsbezogenen Lernens im Kindergarten (Kapitel 4) mit einer Flut von Rollenstereotypen überhäuft. Es kommen Zweifel auf, ob diese Vorgehensweise einer Verwirklichung der Ansprüche von Margarete Blank-Mathieu gerecht werden kann. Können Frauen beispielsweise Bedürfnisse von Kindern bis zum Eintritt in den Kindergarten wegen Schwangerschaft, Geburtserlebnis und Stillen besser beurteilen als Männer (vgl. S. 15), oder haben letztere nur einen anderen, aber keinen schlechteren Zugang? Oder entspricht das Männer- und Frauenbild werdender Eltern tatsächlich dem Klischee des starken, klugen, gutaussehenden Jungen und dem des mütterlichen und beruflich erfolgreichen Mädchens (vgl. S. 12)? Und spielen wirklich nur Väter aufregende Spiele und repräsentieren im Gegensatz zu Müttern alles, was fremd, faszinierend und aufregend ist (vgl. S. 19)?

Ein ständiger Ebenenwechsel im Text macht es schwer herauszulesen, welche Beispiele Ergebnisse empirischer Analysen oder persönliche Erfahrungen der Autorin sind, was demgegenüber die Gesellschaft will und was nach Meinung der Autorin idealiter sein sollte. Selbst wenn unterstellt wird, dass empirisch nachweisbare Realitäten beschrieben werden, deren Veränderung anzustreben ist, fragt sich doch, ob es sich nicht nur um Teilausschnitte von mütterlichem und väterlichem Verhalten handelt, die in der Ausschließlichkeit, wie sie gezeigt werden, einer Darstellung heutiger Geschlechterrollenverhältnisse nicht gerecht werden können.

Auch die Entwicklung der Geschlechterrollenidentität bei Jungen und Mädchen wird ausschließlich aus einem binären Geschlechterverständnis heraus beschrieben: Erfahren Mädchen ihre Geschlechtsidentität beispielsweise grundsätzlich weniger körperlich als Jungen (vgl. S. 25)? Oder kann sich der Stolz der Mädchen nicht auch auf ihre „Perle“ richten, statt sich über den fehlenden Penis definieren zu müssen?

Eine binäre Perspektive durchzieht auch das Kapitel zu geschlechtsbezogenem Lernen, das zur Verdeutlichung des Lernumfeldes Kindergarten mit konkreten Schilderungen geschlechtsdifferenten Verhaltens bereichert ist. Es ist zweifellos wichtig und auch ein großer Pluspunkt dieses Buches, Erzieherinnen für den heimlichen Lehrplan zu sensibilisieren, der ein ‚klassisches‘ Geschlechtsrollenverhalten von Kindern durch ihren Umgang mit Spielzeug, Medien, Räumen trainiert und verstärkt. Es ist aber mindestens ebenso zentral, den Blick auf die bestehende Vielschichtigkeit kindlichen Verhaltens jenseits der Geschlechtsrollenstereotype zu lenken; gerade hier wären konkrete Beispiele von großem Nutzen gewesen.

Das Kind wahrnehmen

Ein eigenes äußerst hilfreiches Kapitel ist der Wahrnehmung des Kindes zu Beginn der Kindergartenzeit gewidmet. Die Autorin gibt den Erzieherinnen vielfältige Möglichkeiten an die Hand, wie und unter welchen Fragestellungen das Kind wahrzunehmen ist: wie es gesehen, gehört, in der Interaktion mit anderen Kindern oder den Eltern erlebt und in seiner Ausdrucksweise beim Spielen mit Spielzeug, durch Zeichnungen, im räumlichen Verhalten und bei Rollenspielen beobachtet werden kann. Wichtig ist hier der Hinweis, dass nicht die Wahl des Spielzeugs oder der Kleidung allein Auskunft gibt, sondern dass die Bedeutung, die das Kind selbst diesen Dingen gibt, entscheidend ist (vgl. S. 29). Das Kind ist als eigenständige aktive Persönlichkeit zu sehen, es stellt mitnichten ein hilfloses Wesen dar, das einfach auf äußere Einflüsse reagiert. Es konstruiert die eigene Geschlechtsidentität eigenaktiv und dem eigenen Charakter angemessen mit Hilfe der Geschlechtsrollenangebote.

Wege und Ziele

In Kapitel vier wurde schon auf differenzierte Weise dargestellt, wo und auf welche unterschiedliche Art geschlechtsspezifisches Verhalten in der Kita geprägt wird: vom Verhalten der Erzieherinnen zu dem der Gleichaltrigengruppe, von Geschichten und Bilderbüchern, die auf Rollenverteilung, Kleidung, Berufsrollen und die Darstellung von Gefühlen zu überprüfen sind, bis hin zur räumlichen Ausgestaltung der Kita bzw. auch dem räumlichen Nutzungsverhalten der Kinder. Gegen Ende werden diese Anhaltspunkte noch einmal in handhabbare Verhaltensvorschläge überführt; als der wichtigste Ausgangspunkt für Veränderungen wird die Auseinandersetzung der Erzieherinnen mit den eigenen Sozialisationserfahrungen und Rollenbildern benannt sowie die aktive Unterstützung der Eltern – insbesondere der männlichen familiären Bezugspersonen – eingefordert. Warum wird dann aber noch einmal bezogen auf die Jungenerziehung darauf verwiesen, dass wir „im Kindergarten die Geschlechtsrollen nicht verändern […] können, schon gar nicht, weil wir Frauen sind und sich Jungen von Frauen abgrenzen müssen, um männlich zu werden“ (S. 125). Gehört nicht zur Identitätsbildung von Jungen auch das aktive Vorleben „des Weiblichen“, sei es, um Elemente davon ins eigene Geschlechtsrollenkonzept zu integrieren oder auch um sich ein Bild vom „Weiblichen“ als einem Aspekt des Anderen zu machen?

Bei der Darlegung der Erziehungsziele wäre vielleicht wünschenswert gewesen, über die Darstellung der Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen sowie die individuelle und geschlechtsspezifische Identitätsfindung hinaus einmal konkrete Aspekte eines erweiterten Rollenverständnisses von Männlichkeit und Weiblichkeit zu benennen. Es ist bereits viel konkreter thematisiert worden, welche ungelebten Persönlichkeitsanteile von Jungen der Förderung bedürfen: Hierzu zählen die Stärkung der Konfliktfähigkeit und der emotionalen Ausdrucksfähigkeit, die Befähigung, eigene Schwächen anzunehmen und einen konstruktiven Umgang mit eigenen Gefühlen zu pflegen sowie die Sensibilisierung für die Wahrnehmung und Respektierung eigener und der Grenzen anderer und die Steigerung der Empfindsamkeit für den eigenen Körper. Genauso sollte Mädchenerziehung u. a. auch ermöglichen, mehr körperliche Risikoerfahrungen und raumgreifendere Erfahrungen erlebbar zu machen sowie sie rauschhaftes, lustvolles, wildes und aggressives Verhalten genießen zu lassen.

Blank-Mathieu weist zwar schon zu Beginn darauf hin, dass es kein festes Konzept von Weiblichkeit und Männlichkeit gibt, auf das Kinder vorzubereiten sind, dennoch ist es ein erstrebenswertes Ziel, die Blockade und Verdrängung von Persönlichkeitsaspekten, die den Rollenstereotypen zuwiderlaufen, zu beenden und eine bunte Geschlechtervielfalt zuzulassen.

Gedanken zum Schluss

Die einseitige Benennung von geschlechtsrollenstereotypem Verhalten bei Kindern wirkt als Verfestigung dieser Zuschreibungen – aus dem Kreislauf der Typisierung scheint kein Entrinnen möglich. Diesen Aspekt gilt es zu beachten, wenn Erzieherinnen und Erzieher – die wenn auch nur verschwindend geringe Zahl männlicher Erzieher bleibt in dem Buch konsequent unerwähnt – dieses Buch nutzen wollen, um sich für eine geschlechtsoffene (!) Erziehung zu schulen. Der Fundus an für die Umsetzung unabdingbar notwendigen Fragestellungen, Methoden und Anleitungen macht das Buch jedoch zu einer anregenden Lektüre.

URN urn:nbn:de:0114-qn043190

Kerstin Schenkel

Freie Universität Berlin, FB Geowissenschaften

E-Mail: schenkel@geog.fu-berlin.de

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