Robert Jütte:
Lust ohne Last.
Geschichte der Empfängnisverhütung.
München: C.H. Beck 2003.
367 Seiten, ISBN 3–40649–430–7, € 14,90
Abstract: Robert Jütte legt mit Lust ohne Last eine umfassende, allgemeinverständliche und spannend zu lesende Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart vor.
Auf der Basis der recht umfangreichen Forschungsliteratur ist dem Stuttgarter Medizinhistoriker Robert Jütte eine gut lesbare, allgemein verständliche und klar gegliederte Überblicksdarstellung über die Geschichte der Empfängnisverhütung gelungen. In vier großen Kapiteln deckt Jütte die Zeit von der Antike bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ab und wagt gar einen kleinen Ausblick in die Zukunft der Geburtenkontrolle.
Die einzelnen Kapitel folgen einem ähnlichen Frageraster. Als erstes wird die Art des Wissen über Empfängnisverhütung untersucht, welche Techniken bekannt waren und – sofern das retrospektiv beurteilt werden kann – wie wirksam diese waren. Dann geht es um die Frage der Überlieferung und Verbreitung des Wissen. Dabei rücken auch die Träger des Wissens – wie u. a. Ärzte, Apotheker, Hebammen oder Laien – in das Blickfeld. Und schließlich geht es um die Praxis der Empfängnisverhütung. Welche Techniken wandten Mann und Frau an, um eine Empfängnis zu vermeiden, und welche Schwierigkeiten ergaben sich dabei? Es ist sehr erfreulich, dass Jütte nicht allein den Diskurs über die Empfängnisverhütung darstellt, sondern auch versucht, soweit dies die Quellen zulassen, sich der Erlebniswelt von Männern und Frauen zu nähern. Das ist eine der großen Stärken dieses Buches.
Erste Ansätze eines Diskurses über Empfängnisverhütung, der sich mit Bevölkerungsfragen beschäftigte, sieht Jütte bereits in der Antike bei Platon und Aristoteles. Auch Judentum, Christentum und der Islam beschäftigten sich von Anfang an mit Fragen von Fortpflanzung sowie deren Vermeidung und Verhinderung. Während Juden- und Christentum dabei Empfängnisverhütung ablehnten, erlaubte sie der Islam aus einer Notlage heraus.
Reichhaltiger, als man vielleicht zunächst annimmt, sind Quellen aus der Antike und dem Mittelalter über die diversen magisch-religiösen und arzneilichen Mittel sowie Techniken (u. a. spezielle der Empfängnis abträgliche Positionen beim Geschlechtsverkehr) zur Empfängnisverhütung und Abtreibung überliefert. Dieses Wissen lag nicht nur in den Händen von Ärzten und Apothekern, die die meisten schriftlichen Quellen dazu hinterließen, sondern auch in den Händen von Frauen. Detailreich kann Jütte schließlich zeigen, wie sehr das Wissen über Empfängnisverhütung unter Frauen in der Frühen Neuzeit verbreitet war. Von einer immer wieder behaupteten Vernichtung dieses Wissens im Zuge der Hexenprozesse kann also keine Rede sein.
Zu Recht weist Jütte deutlich darauf hin, dass es sich nicht ausschließlich um ein verschriftlichtes Wissen handelte, sondern dass es bei der Empfängnisverhütung auch ein praktisches Wissen gibt. Aber bereits in der Vormoderne wird auch deutlich, dass Männer und Frauen nicht frei über das Wissen über Geburtenvermeidung verfügen konnten, sondern dass das Wissen von diversen Instanzen kontrolliert und reglementiert wurde.
Ein politisches und wissenschaftliches Interesse an der Entwicklung der Bevölkerungszahl entstand in der Frühen Neuzeit. Die ersten Anfänge einer Bevölkerungswissenschaft finden sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Der bevölkerungspolitische Diskurs, der nicht nur von Statistikern, sondern auch von Ökonomen und Staatswissenschaftlern geführt wurde, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Bevölkerungszahlen und ihre macht- wie auch wirtschaftspolitische Bedeutung.
Darüber hinaus sind die Bevölkerungswissenschaft und die von ihr produzierten Statistiken für die Geschichte der Empfängnisverhütung insofern von großem Interesse, als man anhand der Statistiken auf eine praktizierte Empfängnisverhütung und den Grad ihres Erfolges rückschließen kann. Statistisch lässt sich dabei eine im deutschsprachigen Raum erfolgreich praktizierte Geburtenkontrolle bereits im 17. Jahrhundert nachweisen.
Die Auseinandersetzungen über das Für und Wider der Empfängnisverhütung, die moralische Verurteilung durch die Kirchen und die vielfachen Versuche, das Verhütungswissen zu verbreiten, ziehen sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Der Zugang zum Verhütungswissen wurde jedoch insgesamt leichter. Einen entscheidenden Anteil hieran hatten sowohl die Ratgeberliteratur des 19. Jahrhunderts als auch öffentliche Vorträge sowie die insbesondere im 20. Jahrhundert in vielen Ländern entstandenen Beratungszentren. Als weiteres Vermittlungsmedium gewann auch die Werbung an Bedeutung, die sich seit dem 19. Jahrhundert in steigendem Maße dem Thema Empfängnisverhütung widmete.
Obwohl der Zugang zum Verhütungswissen einfacher geworden war, zeigen Umfragen auch noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dass selbst in den westlichen Industriestaaten längst nicht allen Männern und Frauen die modernen Verhütungsmethoden bekannt sind bzw. im entscheidenden Moment auch angewandt werden.
In dem Maße, in dem der Zugang zum Verhütungswissen leichter wurde, nahm der Kampf um die Kontrolle dieses Wissen zu. Empfängnisverhütung wurde zu einem Streitfeld zwischen Medizin, Religion, Politik und Frauenbewegung. Insgesamt schwand im Laufe des 20. Jahrhunderts der Einfluss der Kirchen und der traditionalen Moralvorstellungen, auch wenn die katholische Kirche bis heute konsequent an der Ablehnung von Empfängnisverhütung festhält.
Neue Verhütungstechniken kamen hinzu, ältere wurden verbessert, andere verschwanden. Aber immer blieb ein für die Menschen schwer kalkulierbares Risiko bestehen, dass es doch zu einer Zeugung kommt. Empfängnisverhütung lag dabei sowohl in den Händen von Frauen (z. B. die häufig angewandten Scheidenspülungen oder die aufkommenden Pessare) als auch von Männern oder musste von einem Paar gemeinsam praktiziert werden (z. B. Rhythmusmethode oder zeitweise Enthaltsamkeit). Die am häufigsten praktizierte Verhütungstechnik, der coitus interruptus lag ausschließlich in der Verantwortung des Mannes, ebenso die Anwendung des seit der Vulkanisierung von Kautschuk in der Mitte des 19. Jahrhunderts immer sicherer und preiswerter werdenden Kondoms. Die Sicherheit von Verhütungsmitteln wurde zunehmend zu einem Thema.
Einen tiefen Einschnitt bedeutete die Entwicklung und Einführung der Pille Anfang der 1960er Jahre. Zum einen brachte die Pille für Frauen Unabhängigkeit und eine neue Sicherheit, legte aber die Verantwortung für die Verhütung ausschließlich in die Hände der Frau. Erst die Renaissance des Kondoms seit den 1980er Jahren als Schutzmittel gegen AIDS und als Verhütungsmittel brachte hier eine Gewichtsverlagerung. Zum anderen wurde die Pille auch immer wieder als ein weiterer Schritt der Medikalisierung des weiblichen Körpers empfunden, der die Frau dem Manne leichter verfügbar machte. Zudem trägt allein die Frau das mit der Pille verbundene Gesundheitsrisiko. Der Schritt zu einer Pille für den Mann, den Jütte in einem Ausblick anspricht, wird wohl noch für einige Zeit Zukunftsmusik bleiben.
Lust ohne Last – der Titel scheint mir nach der Lektüre des Buches nicht mehr ganz so glücklich gewählt zu sein; er hätte zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden sollen. Denn “Lust ohne Last“ gibt es wohl nur, wenn eine Zeugung gewollt ist oder der Mann und/oder die Frau nicht zeugungsfähig und zugleich beide nicht zeugungswillig sind. Aber von diesen Themen handelt das Buch ja eigentlich nicht. Ansonsten war und wird die Lust immer mit Last verbunden bleiben – sei es die Last des Risikos, ungewollt schwanger zu werden, die Last, nicht schwanger werden zu können, die Last, ein Verhütungsmittel verwenden zu müssen oder die Last der eventuellen Nebenwirkungen dieses Verhütungsmittels. Diese Last hat jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts eindeutig abgenommen, allerdings in einem für Männer und Frauen unterschiedlichen Maße.
Mit Lust ohne Last gibt es jetzt eine Überblicksdarstellung der Geschichte der Empfängnisverhütung, die sich nicht nur an medizinhistorisch interessierte Leserinnen und Leser wendet, sondern die mit ihrer Vielzahl von kleinen Geschichten und Beispielen aus den Quellen auch einer breiten Leser/innen/schaft als spannende Lektüre empfohlen werden kann.
URN urn:nbn:de:0114-qn051073
Dr. Lutz Sauerteig
Durham, Großbritannien/University of Durham/Centre for the History of Medicine and Disease
E-Mail: l.d.sauerteig@durham.ac.uk
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