Genitalverstümmelungen aller Art sind Menschenrechtsverletzungen

Rezension von Melanie Feuerbach

Hanny Lightfood-Klein:

Der Beschneidungsskandal.

Berlin: Orlanda Frauenverlag 2003.

192 Seiten, ISBN 3–936937–02–8, € 15,50

Abstract: Die in Amerika lebende, 1924 geborene Hanny Lightfood-Klein befasst sich in ihrem Buch Der Beschneidungsskandal mit global verbreiteten Verstümmelungspraktiken an intersexuellen, weiblichen und männlichen Genitalien. Als Menschenrechtsverletzungen werden diese, aus soziokulturell unterschiedlichem Kontext stammenden Praktiken in ihrer Schädlichkeit dokumentiert und kommentiert. Die hohe Zahl der Gebärmutterentfernungen, Damm- und Kaiserschnitten in Industriestaaten wird von der Autorin kritisch in Frage gestellt. Zudem werden Schönheitsoperationen kritisiert. Die westliche Öffentlichkeit tendiere zur Barbarisierung und/oder Exotisierung afrikanischer Praktiken, ignoriere jedoch die in Industriestaaten serienmäßig durchgeführten Verstümmelungspraktiken. Diese würden bislang tabuisiert und selten öffentlich diskutiert. Ziel des Buches sei es deshalb, die Öffentlichkeit über die Problematik dieser Eingriffe aufzuklären und zu sensibilisieren. Die Autorin will ferner motivieren, gegen diese Praktiken einzutreten.

Begründungen und Geschichte der Praktiken

Die von der Frauenbewegung der 1970er Jahre beeinflusste Autorin behandelt „die Geschichte der Genitalbeschneidung“ auf knapp fünf Seiten und stellt dabei fest: „Wir wissen nur, dass diese Praktiken blutige Praktiken sind, die tief im Unterbewusstsein der Ausführenden eingebettet sind, und dass sie verwoben sind mit kulturellen Mythen und Werten aus Jahrhunderten“ (S. 12). In diesem Kapitel wird kaum differenziert zwischen den bekannten religiösen oder medizinischen Begründungen, noch werden die teilweise bereits gut recherchierten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen analysiert. Dass in Europa Genitalverstümmelung schon im Mittelalter vor der Christianisierung der Elbslawen zur Strafe von Ehebrecherinnen verbreitet war und dass verschiedene religiöse Sekten wie bspw. die Skopzen in Russland derartige Praktiken im 19. Jahrhundert ebenfalls durchführten, bleibt unerwähnt. Die Literaturrecherche könnte auch an anderen Stellen des Buches besser durchgeführt worden sein. Denn um die unterschiedlichen Genitalverstümmelungen effektiv bekämpfen zu können (also für die Entwicklung von Strategien zur Überwindung der unterschiedlichen Praktiken), ist es entscheidend, die unterschiedlichen Argumentationen der Befürworter von Genitalverstümmlungen sowie Geschichte und Hintergründe zu kennen. In das Kapitel „Die jüngste Geschichte der Sexualchirurgie in der westlichen Welt“ werden von der Autorin weitere Zitate und Berichte eingebaut. Auf ca. 30 Seiten wird die erstmals 1977 in einer Studie von B. und V. Bullough aufgearbeitete Geschichte der weiblichen Genitalverstümmelung im 19. Jahrhundert behandelt. Als wissenschaftliche Lektüre bleibt überdies die im Jahr 2002 erschienene Dissertation von M. Hulverscheidt zu empfehlen, welche die Diskussion und Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung im deutschsprachigen Raum umfassend analysiert.

Beschneidung von intersexuellen Kindern ist eine Menschenrechtsverletzung

Das Kapitel zu Intersexualität ist mit sechs Seiten recht kurz geraten: die Argumentation gegen Verstümmelungen von intersexuellen Kindern wird reduziert auf zwei Berichte von Betroffenen. Jährlich sollen in Deutschland ca. 350 operative Eingriffe an Genitalien von minderjährigen Intersex-Kinder durchgeführt werden (S. 7 und 42). Für die USA wird von der Autorin eine geschätzte Zahl von bis zu 12000 Fällen angegeben und kommentiert: „Erschreckenderweise scheint ihre Zahl ständig zuzunehmen“ (S. 42). Aufgrund der Tatsache, dass es Intersexualität weltweit verbreitet zu allen Zeiten gab und geben wird, sind Vermutungen der Autorin über die möglichen Ursachen, wie beispielsweise die Wirkung toxischer Substanzen während der Schwangerschaft (S. 42 f.), für die Suche nach Strategien zur Überwindung dieser Form der Genitalverstümmelungen eher kontraproduktiv. Leser/-innen, die sich das erste Mal mit Intersexualität beschäftigen, wird suggeriert, dass Intersexualität durch die „Umstände ihrer ungewöhnlichen Beschaffenheit“ (S. 49) anomal sei, was in diesem Kontext problematisch ist. Jedoch wird eine Diskussion angesprochen, die in den letzten Jahren in den Medien teilweise bearbeitet wurde: Um eine eindeutige, der gesellschaftlichen Normierung entsprechende Geschlechtlichkeit herzustellen (männlich oder weiblich), wird von Medizinern bislang immer noch die Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Integrität in Kauf genommen. Die ethisch selten hinterfragte Macht der Mediziner, den menschlichen Körper nach Normen zu klassifizieren, möchte die Autorin vermutlich als das eigentliche Problem herausstellen. Leider lenkt sie die Aufmerksamkeit mit vielen Kommentaren und Zitaten immer wieder von der Kernaussage ab. Es ist diskutabel, ob „institutionalisierte psychotherapeutische Hilfsprogramme“ (ebd.), welche „die Furcht der Eltern mindern sollen“, damit sie sich „mit ihrem intersexuellen Kind wohl fühlen“ (ebd.), zur Überwindung dieser Menschenrechtsverletzung beitragen. An dieser Stelle wäre wichtig gewesen, derzeitige Diskussionen der Nichtregierungsorganisationen von Intersexuellen einzubringen: Sie sehen ein Problem in der Wahrnehmung und Klassifizierung der Intersexuellen durch Ärzteschaft und Gesellschaft (siehe dazu www.dgti.org). In Deutschland wurde von Aktivist/-innen beispielsweise deshalb eine zusätzliche Geschlechtsnorm (neben Männlich und Weiblich, Intersex oder Hermaphrodit) für Personalausweise gefordert. Die Entwicklung von Ethikleitlinien und die Integration der Menschenrechte in das Curriculum der Medizinstudierenden könnte ein erster Schritt gegen diesen Beschneidungsskandal sein.

Männliche Genitalverstümmelung

In dem 21 Seiten langen Kapitel „Männliche Beschneidung“ findet sich neben einer Sammlung verschiedener Aufsätze von Betroffenen zudem Berichte von Aktivist/-innen: Schätzungsweise 13 Millionen Jungen weltweit würden im Kindesalter „dem Ritual unterworfen“ (S. 153). In den USA werden trotz der jahrzehntelang durchgeführten Aufklärungskampagnen gegen männliche Beschneidung ca. 60 % aller männlichen Säuglinge beschnitten. Gut dargestellt werden die Probleme der Aktivist/-innen, wie von Tim Hammond (www.noharmm.org) und Marylin Milos (www.nocirc.org), die versuchen dieses Tabu in der Gesellschaft zu brechen. Langfristige negative Folgen dieses unnötigen Eingriffs seien nicht nur die Schädigung der psychischen und physischen Gesundheit der Männer. Auch die Gesundheit von Frauen könne beeinträchtigt werden. Die Untersuchung eines Zusammenhangs zwischen der männlichen Beschneidung und der in einer Studie von 1999 bei 43 % der Amerikanerinnen diagnostizierten weiblichen sexuellen Dysfunktion (S. 39) ist jedoch wissenschaftlich noch nicht belegt. Fraglich bleibt, ob es für die verschiedenen Kampagnen förderlich ist, die Themen weibliche und männliche Genitalverstümmelung miteinander zu vermengen, da die sozioökonomischen Rahmenbedingungen sowie die Konsequenzen der Eingriffe vollkommen unterschiedlich sind.

Weibliche Genitalverstümmelung

Der Beschneidungsskandal will Genitalchirurgie in Industrienationen als Schwerpunkt des Buches unter die Lupe nehmen, so wird es in Vorwort und Klappentext des Buches versprochen. Gleichwohl beherrscht das oft diskutierte und besser bekannte Thema „Weibliche Genitalverstümmelung in Afrika“ mit über 82 Seiten beinahe die Hälfte des Buches. Größtenteils finden sich hier Fakten aus den ersten beiden Büchern der Autorin wieder. Damit kann der Anspruch, Neues analysieren zu wollen, nur begrenzt als eingelöst gelten. Die Menschenrechtsverletzung „Weibliche Genitalverstümmelung“ wird langatmig und recht pauschalisierend dargestellt: Beispielsweise wird behauptet, dass „sich europäische Missionare des 19. Jahrhunderts bemühten, der in ganz Afrika verbreiteten Genitalverstümmelung ein Ende zu setzen“ (S. 17). Solch ein falscher Satz kann zu einem undifferenzierten und negativen Afrikabild führen: Zum einen war weibliche Genitalverstümmelung zu keinem Zeitpunkt in ganz Afrika verbreitet. Und zum anderen haben Missionare selten zu einer klaren Positionierung gegen die Genitalverstümmelung gefunden. Dass es ca. 250 Ethnien im subsaharischen Afrika gibt, die weibliche Genitalverstümmelung aus unterschiedlichen Gründen praktizieren, wird nur ansatzweise klar. An manchen Stellen ist strittig, über welche der Verstümmelungsarten die Autorin schreibt: Infibulation, Exzision oder Sunna sind unterschiedlich verbreitet, begründet und haben diverse gesundheitliche Konsequenzen. Die Suche nach Begründungen für die Verbreitung dieser Praktik wird relativ einseitig angelegt, manchmal auf Gesundheitsvorteile reduziert (S. 68). Hier sieht die Autorin eine Parallele zu den USA. Projekte internationaler Nichtregierungsorganisationen gegen weibliche Genitalverstümmelung und deren Erfolge werden mit Beispielen belegt. Wichtigste Erkenntnis daraus: Bildung und ökonomische Macht helfen afrikanischen Frauen bei der Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung. Mit der Auflistung erfolgreicher Projekte von afrikanischen Organisationen schließt das Buch einen Kreis: Es zeigt auf, dass Veränderungen durch zivilgesellschaftliche Organisation möglich sind.

Fazit

Die Autorin bricht ein Tabu: Unterschiedliche Beschneidungsskandale werden in einem Buch aufgeführt. Durch die teilweise Vermischung unterschiedlicher Problemkomplexe – so etwa von Schönheitsoperationen, Dammschnitten und Genitalverstümmelungen – kommt die Autorin leider nicht immer zur Entwicklung plausibler Strategien zur Bekämpfung der zur Debatte stehenden Praktiken. Weder die Begründungen und Folgen von Schönheitsoperationen noch deren sozioökonomischen Rahmenbedingungen sind mit denen der Genitalverstümmelungen, die an Kindern durchgeführt werden, vergleichbar. Für effiziente Kampagnen gegen diese Eingriffe sind differenzierte Argumentationen und Projektkonzeptionen nötig. Der Beschneidungsskandal macht noch eines deutlich: Es bedürfte einer adäquaten wissenschaftlichen Untersuchung jedes Teilbereichs, um – wie Hanny Lightfood-Klein selbst fordert – „zu einer Art Verständnis zu kommen und davon ausgehend, das Notwendige dazu beizutragen, um die Praktik zu beenden“ (S. 9).

URN urn:nbn:de:0114-qn051098

Melanie Feuerbach (Dipl. Entwicklungspolitologin)

Dresden/ Akifra e.V. Aktionsgemeinschaft für Kinder- und Frauenrechte (www.akifra.org)

E-Mail: feuerbach@akifra.org

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.