Dorion Weickmann:
Der dressierte Leib.
Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870).
Frankfurt am Main, New York: Campus 2002.
398 Seiten, ISBN 3–593–37111–1, € 39,90
Abstract: Kaum eine andere Theaterform bietet so viele Anknüpfungspunkte für die Forschungsinteressen der Geschlechterforschung wie die Körperkunst Tanz. Gleichzeitig gilt noch immer jede deutschsprachige Publikation im Kreuzungsbereich von Tanzwissenschaft und Gender Studies als Ausnahmeerscheinung. Dorion Weickmann nähert sich nun diesem Themenkomplex als Sozial- und Wirtschaftshistorikerin. Den Schwerpunkt legt sie hierbei auf die zunehmende gesellschaftliche Disziplinierung des Körpers, die sich in den Tanzentwicklungen von 1580 bis 1870 deutlich widerspiegeln.
Dorion Weickmann begibt sich mit ihrer Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, auf eine interdisziplinäre Gratwanderung zwischen Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte (S. 12). Dies sind die Perspektiven, aus denen sie sich den Tanzentwicklungen von den Anfängen der Systematisierung des Tanzes bis zum Ende der tanzgeschichtlichen Ära des Romantischen Balletts nähert. Hierbei ruft sie immer wieder die Frage nach ablesbaren geschlechterdifferenzierenden Disziplinierungsverfahren auf.
Sie versucht, die Entstehungsgeschichte des Balletts als eigenständiger Bühnenkunstform unter drei Gesichtspunkten zu analysieren, die ihr auch als Gliederung des gesamten Buches dienen:
Der erste große Abschnitt des Buches setzt sich mit dem Körper als „Entstehungsort“ einer eigenen Sprache auseinander. Deutlich arbeitet Weickmann heraus, wie sehr die Entwicklungen der Tanzkunst von einer zunehmenden Abstrahierung und damit verbundenen Fragmentarisierung des Körpers gekennzeichnet sind: „Die ‚Maschine des Leibes‘ wird zunehmend entnaturalisiert: Das didaktische Schrifttum objektiviert den Körper zum bloßen Gegenstand, der rational betrachtet, funktional geformt und in dieser Konditionierung stabilisiert werden muß. […] Wer seine Schritte, sein Auftreten beherrscht, habe – für alle sichtbar – sein Gemüt im Zaum.“ (S. 153) Anhand der theoretischen Abhandlungen der großen Tanzmeister und deren Wirken in Italien (von Elbreo und Caroso bis Blasis), Frankreich (Arbeau, de Lauze, Ménestrier, Feuillet, Rameau bis Noverre), Deutschland (Taubert, Pasch, Behr, Pauli) und Dänemark (Bournonville) u. a. gibt Weickmann einen sehr guten Überblick über die Entwicklungen des Tanzes im Hinblick auf seine Techniken, mögliche Formen seiner Vermittelbarkeit bis hin zu den ersten Versuchen seiner Notier- und somit Reproduzierbarkeit. In konzentrierter Form stellt die Autorin die wichtigsten Vertreter der Tanzkunst von 1400 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und deren Ideen vor und bietet damit einen komprimierten Überblick, wie er in bisherigen Publikationen zur Tanzgeschichte so nicht zu finden war.
Der zweite Abschnitt zeichnet die Entwicklungen des Balletts vom „Ballsaal zur Bühne“ (S. 188) nach. Mit der Professionalisierung des Tanzes am Hofe Ludwig XIV. beginnend bis zum Romantischen Ballett folgt Weickmann der Ballettgeschichte, um hierbei aber den Schwerpunkt auf die entscheidenden Entwicklungen im Romantischen Ballett zu legen. Unter der Überschrift „Kunst, Karriere und Kommerz“ (S. 209 ff.) entromantisiert sie den Alltag der Tanzenden und arbeitet unter zur Zuhilfenahme vielfältigster Zeitdokumente die zum Teil geradezu unmenschlichen Arbeitsbedingungen heraus. Dass mit Aufkommen des Romantischen Balletts kaum noch Wirkungsraum für die einst die Kunst dominierenden Männer blieb (wobei Weickmann sehr richtig darauf verweist, dass hier deutlich zwischen den ausführenden Tänzern – die besonders von den Kritikern der Zeit nur mehr gelitten wurden – und jenen Männern, die hinter der Bühne das Gesicht dieser Bühnenkunst bestimmten und weiterhin die Fäden zogen, unterschieden werden muss) und die umjubelten Ballerinen häufig nichts anderes als „bessere“ Prostituierte waren, sind keine neuen, in den Tanzgeschichtsbüchern aber immer noch gerne „geschönte“ oder sogar „vertuschte“ Erkenntnisse. Weickmann arbeitet hier deutlich ihre sozialkritische Perspektive heraus und betont die patriarchalen Strukturen von Gesellschaft und Tanzkunst, im Gegensatz zu der heute noch immer gerne gesetzten Behauptung, das Romantische Ballett mit seinen großen Frauenrollen käme einem Akt der Emanzipation der Frauen im Tanz gleich.
Diese Perspektive wird auch in dem äußerst gelungenen Kapitel „Elfen, Nixen und Najaden – die Libretti“ (S. 250 ff.) deutlich, in dem Weickmann die wichtigsten Stoffe des Romantischen Balletts vorstellt. Auf eine jeweils übersichtliche Inhaltsangabe folgt eine Interpretation aus gender-theoretischer Perspektive. Schon die Inhaltsangaben sind eine Fundgrube für all diejenigen, die einen schnellen Überblick über die heute schon zu einem großen Teil vergessenen großen romantischen Stoffe gewinnen wollen. Mit den Interpretationen arbeitet Weickmann vor allem die betonte Differenzierung der Geschlechterbilder des Romantischen Balletts als Spiegel der damaligen bürgerlichen Ideale heraus.
Diese Thematik wird im letzten und dritten großen Abschnitt dann noch einmal fokussiert. Hier wird u. a. der Betrachtung der Texte der Tanzkritiker der Zeit (nahezu ausnahmslos Männer!) ein wichtiger Raum zugestanden. Mit vielen Zitaten macht Weickmann noch einmal deutlich, wie sehr das Romantische Ballett von Männern für Männer gemacht wurde und die Tänzerinnen in erster Linie dem voyeuristischen Blick des zahlenden, männlichen Publikums genügen mussten: „‚Man darf nicht vergessen, dass die erste Bedingung, die man von einer Tänzerin verlangen muß, die der Schönheit ist; sie hat keinerlei Entschuldigung, wenn sie nicht schön ist, und man kann ihr die Häßlichkeit ebenso vorwerfen, wie man einer Schauspielerin ihre schlechte Aussprache ankreidet‘“ (T. Gautier 1837, zitiert S. 336).
Leider konzentriert sich die Autorin auch in diesem Kapitel allein auf die sozialen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen geschlechtliche Differenzierungsmaßnahmen vorgenommen und auf der Bühne widergespiegelt wurden. Spätestens in diesem Kapitel wird deutlich, dass Weickmann zwar immer wieder von differenzierenden Körperkonditionierungen und Körperrepräsentationen schreibt, diese aber niemals auf der Ebene einer bewegungsanalytischen Beschreibung zu konkretisieren versucht. Frauen und Männer bewegen sich anders und wurden auf männliche oder weibliche Bewegungsideale hin trainiert. Was nun aber ein weibliches oder männliches Tanzen im Konkreten ausmachte und woher sich diese Bewegungsideale speisten bzw. welche gesellschaftlichen Körperideale (Benimmregeln, weibliches bzw. männliches Verhalten in der Öffentlichkeit, etc.) sich im Vokabular des Romantischen Balletts noch heute ablesen lassen, bleibt ungenannt. So bleibt auch unklar, warum Publikum, Kritiker und sogar Tanzschaffende das Bühnenwirken männlicher Tänzer als zunehmend unangebracht, ja sogar unangenehm betrachteten und weshalb der männliche Körper, ausgestellt im Ballett, als ein geradezu verabscheuenswürdiges Objekt betrachtet wurde. Hier hätte es der einen oder anderen Anmerkung zusätzlich bedurft.
Ergänzt werden die drei großen Teile durch zwei Exkurse, die ihr Augenmerk auf das Wirken der zwei wohl berühmtesten Ballerinen der romantischen Ära legen. Sie setzten sich zum einen mit Leben und Werk von Marie Taglioni, zum anderen mit dem Fanny Elsslers auseinander.
In diesen Teilen verfällt die Autorin leider allzu sehr in eine Form des anekdotisch-biographischen Schreibens. Eine etwas distanziertere Sicht- und Formulierungsweise wäre hier angebracht gewesen. Zu viele der angeführten Zeitzeugenberichte (vorrangig Auszüge aus Kritiken) bleiben unanalysiert und unkritisiert stehen und dienen in erster Linie zur Verifizierung vorangegangener Aussagen. Gerade im Hinblick auf den gender-kritischen und wissenschaftlichen Anspruch dieses Buches, rutschen die Exkurse zu sehr in den „Klatsch-und-Tratsch“-Bereich: Da lesen wir über Seiten Ausführungen zu den Liebhabern der Tänzerinnen und ihre vermutlichen Familienumstände und gewinnen darüber doch wieder – leider jedoch von der Autorin unausgesprochen – nur die eine Erkenntnis, nämlich dass die Tanzgeschichte dieser Zeit offensichtlich über nahezu keine Dokumente verfügt, die das Bühnenwirken und tatsächliche Können dieser Frauen lebendig werden lassen könnten. Anstelle genau dies jedoch zu problematisieren, verfängt sich Weickmann in einer weiteren Reproduktion des ewig Anekdotischen.
Unter tanzhistorischer Betrachtung liefert Weickmann mit ihrem Buch einen sehr guten, komprimierten Überblick über die Entwicklungen der Tanzkunst bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Romantischen Ballett stellt sie eine der wichtigsten Epochen der Tanzentwicklungen in den Mittelpunkt und bemüht sich um eine gender-kritische Betrachtung, wie sie im deutschsprachigen Bereich bisher noch nicht zu finden war. Leider spart Weickmann in den Analysen der ablesbaren geschlechtlichen Differenzierungen choreographische oder bewegungsanalytische Momente nahezu komplett aus. Hiermit bleibt aber gerade das unbetrachtet, was doch – laut Titel – im Mittelpunkt der Publikation stehen sollte: der dressierte Leib. Dass dies selbstverständlich auch zu einem Teil an dem für diesen Zeitabschnitt zur Verfügung stehenden Quellenmaterial liegt, hätte wenigstens einmal problematisiert werden müssen.
Insgesamt lässt sich das Buch sehr gut lesen und liefert trotz der oben angeführten Kritikpunkte einen weiteren wichtigen Ansatzpunkt im Hinblick auf die Aufarbeitung der Tanzgeschichte aus der Perspektive der Geschlechterforschung.
URN urn:nbn:de:0114-qn051111
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