Mechthild Fend:
Grenzen der Männlichkeit.
Der Androgyn in der französischen Kunst und Kunsttheorie 1750–1830.
Berlin: Reimer 2003.
254 Seiten, ISBN 3–496–01286–2, € 49,00
Abstract: Die Studie zeigt, wie Winckelmanns Ideal des schönen Jünglings in der Französischen Revolution zu einem Idol politisiert wurde. Der Androgyn behauptete sich in der krisenhaften Umbruchszeit um 1800 als Oppositionsbild, bis er um 1830 durch eine Heroisierung der Männlichkeit verdrängt wurde.
In der überarbeiteten Fassung ihrer Frankfurter Dissertation (1997) behandelt Mechthild Fend Bilder männlicher Adoleszenz in der französischen Kunst und Kunsttheorie um 1800. Ihr Untersuchungsmaterial sind die Jünglingsdarstellungen der französischen Antikenmalerei – fast ausnahmslos mythologische Sujets – zwischen 1750 und 1830. Korpus und Untersuchungszeitraum werden kurz erläutert, doch gewinnt die knappe Einleitung weder in der Bezugnahme auf Geschlechts- und Körpertheorien (Dorinda Outram, Thomas Laqueur) noch im Anschluss an die Forschung (Thomas Crow, Alex Potts, Abigail Solomon-Godeau) theoretische Prägnanz und methodologische Stringenz. Unscharf bleiben vor allem die sexologischen Kategorien, mit denen die Geschlechtsrollen in bildkünstlerischen Darstellungen bestimmt und kritisiert werden.
In zwei diskursgeschichtlichen Kapiteln zeichnet Fend die Voraussetzungen nach, die für die Ästhetisierung des Androgynen um 1800 entscheidend waren.
Zum einen wird der medizinisch-philosophische Diskurs resümiert (S. 13–25), der den ‚vollkommenen Hermaphroditen‘, ein gleichermaßen zeugungs- wie gebärfähiges Wesen, zur bloßen Chimäre erklärte und nur noch ‚Pseudo-Hermaphroditen‘ zuließ. Da dieser wissenschaftsgeschichtliche Überblick in den von Michel Foucault, Thomas Laqueur und Claudia Honegger großflächig vorgezeichneten Bahnen bleibt, zeigen sich im Detail deutliche Grenzen. So geht Fend auf Diderots ‚Androgyne‘- und Jaucourts ‚Hermaphrodite‘-Artikel in der Encyclopédie ein, hat aber offensichtlich ihre liebe Erklärungsnot damit, warum ausgerechnet auf dem angeblichen Weg zum taxonomischen ‚Zwei-Geschlechter-Modell‘ über Zwischenbildungen und Mischformen nachgedacht wurde – deutet auf dieses Dilemma die durchgängige Falschschreibung „Taxinomie“ hin (S. 20, 21)? Völlig außer Acht bleibt erstaunlicherweise die biologische Entdeckung der Monözie, der pflanzlichen Zweigeschlechtigkeit. Dabei wurde die pflanzliche Zweigeschlechtigkeit durchaus auf die Anthropologie übertragen wie etwa von La Mettrie, der „l’amour végétal“ den Menschen als Vorbild pries.
Ein anderes Kapitel rekonstruiert die kunsttheoretische Auseinandersetzung mit der Klassik im Zeichen Winckelmanns (S. 27–47). Fend zeigt plausibel, wie der französische Neoklassizismus Winckelmanns ästhetisches Idol des schönen Jünglings assimiliert. Auch wenn die sexologische „Linien“-Philosophie (S. 42) etwas vage bleibt, bestimmt Fend überzeugend die sentimentalische Haltung, die den idealschönen Jüngling im Wissen um den Verlust der Antike reinszeniert.
Ausgeblendet bleiben überraschenderweise die wirkungsmächtigen romantischen Sozialutopien eines Fabre d’Olivet oder Pierre-Simon Ballanche, die im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das Androgynie-Ideal religiös überhöhten (vgl. A. J. L. Busst: The Image of the Androgyne in the Nineteenth Century [1967]).
Der Interpretationsteil der Studie gliedert sich in drei Untersuchungskapitel, deren Zusammenhang durch eine vage Chronologie gegeben ist. Zunächst werden drei bekannte Revolutionsbilder im Hinblick auf die Breite der Männlichkeits- und Geschlechterrollenentwürfe während der Französischen Revolution besprochen („Ordnung und Verwirrung der Geschlechter im Umfeld der Französischen Revolution“, S. 49–84), dann wird die Ästhetisierung sterbender Jünglinge in der mythologischen Malerei zur „Zeit des Empire und der Restauration“ behandelt (S. 85–111), bevor die „Vermischung der Geschlechter“ in Darstellungen im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts untersucht wird (S. 113–160).
Den Reigen der revolutionären Androgyn-Interpretationen eröffnen ausgerechnet zwei Historiengemälde von Jacques-Louis David, Der Schwur der Horatier (1785) und Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne (1789), in denen „die rigide Trennung der Geschlechtersphären“ dargestellt ist (S. 49). Wenn Davids bildkünstlerische Bekenntnisse zur Republik in der Tradition einer „antihöfischen Kritik“ stehen, „die von geschlechtsspezifisch kodierten Idealen“ geprägt ist (S. 56), stellt sich die Frage, ob sie sich ohne hinreichenden Rekurs auf die Traditions- und Motivgeschichte als geschlechterpolitische Aussagen verstehen lassen. Gegen Davids historisierende Propaganda eines Dualismus der Geschlechter wird Anne-Louis Girodets mythologisches Gemälde Sommeil d’Endymion (1792) als Zeugnis eines „homosozialen Begehrens“ ausgespielt, das die Entstehung in der männerbündischen französischen Akademie in Rom widerspiegele. Tatsächlich spart Girodet die liebende Selene aus und präsentiert nur einen von Mondstrahlen umspielten schönen Jüngling, den der wie Amor als nackter Knabe dargestellte Zephyr betrachtet. Für eine „homoerotische Begehrensstruktur“ (S. 72) spricht der Umstand, dass Girodet später die „Szenerie seines Gemäldes und die Pose des Endymion mehrfach bei Darstellungen weiblicher Figuren“ verwandte (S. 73). Doch lässt sich Girodets Bilderfindung auch ohne Rekurs auf die ikonographische Tradition sexologisch angemessen deuten? Unsicher bleibt der Antike-Bezug in Fends dritten Bildbeispiel, Davids Tod des Bara (1794), das einen vierzehnjährigen Gefallenen der Revolutionsarmee zum Märtyrer stilisiert. Fend konstatiert „durch die Übernahme weiblich kodierter Posen und Körperformen eine Sexualisierung“ (S. 79) – eine seltene Politisierung von Winckelmanns antikem Jünglingsideal: David präsentiert den androgynen schönen nackten Jüngling als ein Idol der Revolution, in dem die Unterschiede von Klasse und Geschlecht aufgehoben scheinen.
Die „sterbenden Geliebten in Darstellungen [mythischer] homosexueller Paare“ waren im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Frankreich ein beliebtes Sujet. Fend zeigt in einer vergleichenden Analyse mehrerer ‚Apollon und Cyparissus‘-Darstellungen, wie nicht nur der sterbende Jüngling Cyparissus idolisiert, sondern auch der Sonnengott zunehmend dem androgynen Jünglingsideal angenähert wurde. Die gut dokumentierten Sterbeszenen sind meist in eine bukolische Szenerie eingebettet. Sie entsprach der sentimentalischen Melancholie, welche die neoklassizistische Aneignung der Antike prägt. Zunächst rühmte die Kunstkritik die ‚jungfräuliche‘ Schönheit der sterbenden und trauernden Jünglinge, bevor sie sich immer mehr dem Tenor des Archäologen Emeric-David anschloss und das Androgynie-Ideal wieder abwertete.
Unter der Überschrift „Eintauchen in die weibliche Sphäre“ untersucht Fend heterosexuelle Kombinationen in der mythologischen Malerei. Mehr als Attis, Hylas oder Sapphos Geliebter Phaon ist der schöne Jüngling Hermaphroditus vor seiner unfreiwilligen Vereinigung mit der Nymphe Salmacis das entscheidende mythologische Vorbild. Da hier die „phallische Macht“ der lüsternen Nymphe attribuiert wird, dient der antikisierende Rückgriff vor allem dazu, libertine Formen sexueller Rollenspiele darzustellen. Die Nähe solcher Reaktualisierungen des Hermaphroditus-Salmacis-Mythos zur pornographischen Illustrationsgraphik ist augenfällig. Wie eine Art subversiver Kunst suchte, die sexuelle Vielfalt gegen den normativen Geschlechtsdualismus zu behaupten, belegt Fend an Girodets Anacréon (1825), einer Folge von Illustrationsgraphiken zu den sogenannten Anakreonteen. Zwar repräsentieren die klassizistischen Umrisszeichnungen in Girodets Stichfolge kein antikes Jünglingsideal mehr – Anakreon ist kein schöner Jüngling, sondern ein erwachsener bärtiger Mann –, doch reklamieren sie verschiedene Formen erotischer Beziehungen bis zum „androgynen Ineinsfließen“ (S. 147). Mag Fend das heterodoxe Potential dieser Illustrationen auch etwas überschätzen, etwa wenn sie einem ledernen Weinschlauch „hermaphroditische Formen“ zuschreibt (S. 147), so belegen sie doch, wie die Ästhetisierung des männlichen Eros aus der Öffentlichkeit zunehmend in die Privatsphäre zurückgedrängt wird. In späteren repräsentativen Gemälden finden sich kaum noch homoerotisch tingierte Männerakte, sondern die schlafenden Jünglinge sind wieder in heterosexuelle Konfigurationsstrukturen integriert. Solch eine polare Bildstruktur zeigt exemplarisch Pierre-Narcisse Guérins Iris und Morpheus (1811), wo dem schönen Schläfer Morpheus eine traumhafte weibliche Schönheit in Gestalt der Iris übergeordnet ist.
Den Schluss bildet eine Interpretation von Balzacs Novelle Sarrasine (1830) (S. 161–172), die Girodets Endymion unter dem Titel „Adonis“ als Schlüsselbild zitiert. Indem Balzac es zum Bildnis des alten Gesangskastraten Zambinella erklärt, relativiert er auch – so Fends These, deren Interpretation ganz Roland Barthes‘ klassischer Deutung folgt – die männliche Schönheit: „In einer Mischung aus Faszination und homophober Abwehr wird der erotische männliche Akt in eine vergangene Epoche verabschiedet“ (S. 172). Ein bündiges Resümee, ein umfangreiches Literatur- und ein Abbildungsverzeichnis komplettieren die Studie; leider fehlt ein Register.
Zu den unbestreitbaren Stärken des Buches gehört die Isolation und revolutionsgeschichtliche Kontextualisierung eines Gender-Aspekts der neoklassischen Antike-Rezeption in Frankreich. Doch sind auch die Schwächen unverkennbar: Erkenntnisziel, Korpus-Kriterien und Vorgehen sind zu vage. Die ikonographische Tradition der mythologischen Malerei bleibt, wenn sie überhaupt berücksichtigt wird, durchgängig unterbestimmt: so „erinnert“ Constance Mayers Gemälde Innocentia zieht die Liebe dem Reichtum vor (1804) etwa „an jenen Hermaphroditen, der visualisiert als verschlungene Doppelfigur mit einem weiblichen und einem männlichen Kopf und überkreuzten Armen, in der Emblematik des 17. Jahrhunderts die Ehe symbolisiert“ (S. 113). In diesem Satz erschöpft sich Fends Kommentar zur Illustration des „Hermaphroditen mit Moses und Satyr“ aus B. Aneaus Picta Poesis (recte 1552 statt „1571“). Dabei ließe sich Mayers Amor durchaus mit Aneaus Moses vergleichen, der zur Ehe mahnt, wie der Handgestus von Mayers Personifikation des Reichtums durchaus dem satyrischen Spottgestus ähnelt, der vor Gefährdung von Liebe und Ehe warnt. Abbildung 56 wird als ein weiteres Emblem Aneaus angekündigt, reproduziert ist aber der Holzschnitt zu einem Emblem von Nicolaus Reusner (S. 129). Jean Baptiste Louvet de Couvray, der Verfasser des Chevalier de Faublas (1787), ist zu „Couvay“ verballhornt (S. 232, Anm. 42). Schließlich könnten die Bildbeschreibungen – gerade im Hinblick auf mögliche symbolische Bedeutungen – genauer sein. So übergeht Fends Beschreibung von Proud’hons Einheit von Liebe und Freundschaft den Baum hinter dem allegorischen Paar, um den sich eine Weinrebe schlingt – seit der Antike Symbol unauflöslicher Treue und Freundschaft (vgl. Henkel/Schöne: Emblemata, Sp. 259–262). Und sicher ist „Salmacis‘ Scham […] von einer Blume bedeckt“ (S. 127), aber von welcher? Girodets Endymion ruht auch nicht zufällig vor einem Feigenbaum! Solche Ungenauigkeiten schmälern den wissenschaftlichen Ertrag von Fends Studie, die sich dennoch mit Gewinn lesen lässt.
URN urn:nbn:de:0114-qn051139
Prof. Dr. Achim Aurnhammer
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg /Institut für Neuere deutsche Literatur
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