Körper als fließender Schnittpunkt von Gewalt und Geschlecht

Rezension von Ellen Krause

Frauke Koher, Katharina Pühl (Hg.):

Gewalt und Geschlecht.

Konstruktionen, Positionen, Praxen.

Opladen: Leske + Budrich 2003.

227 Seiten, ISBN 3–8100–3626–9, € 16,90

Abstract: In dem Band werden sehr unterschiedliche Aspekte des Themas Gewalt und Geschlecht behandelt. Es geht um körperliche Gewalt, Gewalt in Diskursen und Gewaltbereitschaft als identitätsstiftendes Moment. Innerhalb dieser Bandbreite wird ein umfassender Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft geboten und gezeigt, wie komplex die Forschungsaufgaben werden, wenn Gewalt, Körperlichkeit und Geschlecht als sozial und diskursiv hergestellt und veränderlich verstanden werden.

Ein Buch mit dem Titel Gewalt und Geschlecht lässt darauf hoffen, dass es gleich mehrere Erkenntnisse der Geschlechterforschung umsetzt, also einen differenzierten Geschlechtsbegriff nutzt, eine interdisziplinäre Herangehensweise verfolgt, Gewalt über körperliche Verletzung hinaus definiert und Gewaltverhältnisse auf bislang ignorierten Feldern wahrnimmt.

Verborgende Felder der Gewalt: Medizin und Recht

All dies wird bereits im ersten Beitrag von Konstanze Plett realisiert. Plett kann anschaulich und zugleich nüchtern aufzeigen, dass Recht und Medizin – zwei Instanzen, die dem Schutz des Menschen dienen sollen, Gewalt an Menschen uneindeutigen Geschlechts ausüben. Das deutsche Personenstandsgesetz nämlich legt fest, dass nach der Geburt eines Menschen dessen Geschlecht amtlich festgehalten werden muss. Ein Kommentar zu diesem Gesetz hat zusätzlich präzisiert, dass die Neugeborenen nur als entweder „Mädchen“ oder „Knabe“ bezeichnet werden können. Dem entspricht die Rechtspraxis auf den Standesämtern. Die Medizin ist diejenige Instanz, welche – wo es notwendig erscheint – durch operative Eingriffe die verlangte Eindeutigkeit vermeintlich herstellt. Solche Eingriffe werden am Säugling oder Kleinkind vorgenommen, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Eltern als gesetzliche Vertreter ihrer Kinder die Zustimmung zur Operation geben. Plett stellt sehr überzeugend heraus, dass diese Zustimmungsfähigkeit in diesen Fällen beschränkt werden müsste, da das Wohl des Kindes zu diesem Zeitpunkt keinesfalls eindeutig erkannt werden kann und außerdem Interessenkonflikte zwischen Eltern, Kindern und Ärzten nicht ausgeschlossen werden können. Für den Gesetzgeber, der trotz öffentlicher Diskussion und parlamentarischer Anfrage keinen Handlungsbedarf sieht, gäbe es nach Plett relativ einfache Möglichkeiten, den rechtlichen Missstand zu beheben. Die frühe Entscheidung der Eltern und der bislang rechtlich ungeregelte Eingriff der Medizin sollte von unabhängigen Instanzen begleitet und rechtlich geregelt werden. Nachdem Plett aber aus Zeugnissen Betroffener zu berichten weiß, dass es unmöglich ist, mit Sicherheit die richtige Entscheidung im Kindesalter zu treffen, überzeugt ihr zweiter Vorschlag mehr, der lediglich eine Änderung der Rechtspraxis erfordert: Die Standesämter würden eine dritte Eintragungsmöglichkeit (z. B.: „intersexuell“) erhalten, und andere Festlegungen könnten später durch den erwachsenen Menschen selbst getroffen werden. Plett argumentiert auf rechtlicher Ebene und kann damit das gewalterzeugende Zusammenspiel von Recht und Medizin aufzeigen sowie Lösungsvorschläge machen. Zwangsläufig bleibt bei diesem Zugang die Frage ausgeblendet, ob und wer unter Intersexualität in unserer zweigeschlechtlich ausgerichteten Gesellschaft leiden würde: das Kind, die umgebenden Kinder, die Eltern, die Institutionen (Einteilung beim Schulsport)? Doch wie Plett am Beispiel einer zirkulären Argumentation der Bundesregierung aufzeigt, gilt: solange das Recht geschlechtliche Eindeutigkeit fordert und die Medizin sie „herstellt“, solange wird niemand wissen, wie eine intersexuelle Kindheit in Deutschland aussehen könnte.

Der nachfolgende Beitrag von Regina-Maria Dackweiler konzentriert sich ebenfalls auf Recht und Rechtsprechung am Beispiel der juristischen und öffentlichen Diskussionen zur strafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigung in der Ehe. Dackweilers Analyse geht dabei weit über die nunmehr weithin geteilte Auffassung hinaus, dass der Staat durch Untätigkeit Schutz verweigert und Gewalt ermöglicht (wie in den Beispielstaaten Deutschland und Schweiz bis 1997 bzw. 1992). Interessanter und weniger bekannt ist, dass mit juridischer Normierungsmacht Opfern und Tätern bereits ein Geschlecht zugewiesen wird. Die Vorherrschaft der Bilder von weiblicher Verfügbarkeit und männlicher Verletzungsmächtigkeit kann Dackweiler in den langjährigen Diskussionen in beiden Ländern nachweisen. In Deutschland konnte sich am Ende eine Formulierung durchsetzen, die weder Opfern noch Tätern ein Geschlecht zuweist. Entsprechend ist auch der Vergewaltigungsakt nicht mehr auf das Eindringen eines Penis in eine Vagina beschränkt. Hingegen differenziert die Regelung, die sich in der Schweiz durchsetzen konnte, „wiederum zwischen den Opfern ehelicher und außerehelicher Gewalt sowie zwischen Fremdtätern bzw. den gewalttätigen Ehemännern, deren Tun erneut nicht als ‚sozialschädlich‘ eingestuft wird. Zugleich schreibt die Reform einerseits sowohl das Geschlecht des Opfers von Vergewaltigung als auch das des Täters fest. Andererseits reduziert der revidierte Paragraph 190 Vergewaltigung auf das Delikt des heterosexuellen ‚Beischlafs‘, der nur dann gegeben ist, wenn ein Penis in eine Vagina eindringt“ (S. 55).

Jens Dobler fasst einen weiteren blinden Fleck in der Mainstream-Diskussion ins Auge: Gewalt, die sich gegen Schwule richtet, wird kaum wahrgenommen, weil eine kulturelle Wahrnehmungssperre verhindert, dass Männer als Opfer gesehen werden und weil Schwule lange Zeit als perverse Minderheit dargestellt wurden. Daran hatten Medizin und Recht erheblichen Anteil. In der eigenen praktischen Erfahrung konnte Dobler feststellen, dass Schulungen bei der Polizei dazu führen können, dass antischwule Gewalttaten dort ernst genommen werden, die Betroffenen auf Verständnis stoßen und damit mehr Schwule gewalttätige Übergriffe überhaupt melden.

Das Andere im Multikulturalismus

Im zweiten Teil des Buches wird nach Gewaltformen in gängigen Kulturrepräsentationen gefragt. Urte Böhms und Daniela Marx’ Ausgangspunkt ist die Hierarchisierung und Macht, die durch differenzsetzende Begriffe ausgeübt wird. Die Autorinnen unterziehen dazu multikulturelle Konzeptionen, die üblicherweise mit Toleranz und Gleichheitsansprüchen verbunden werden, einer kritischen Analyse. Am Beispiel einer Zigarettenwerbung, eines Zeitschriftenfeatures und einer Kampagne des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigen sie, dass auch im wohlmeinenden multikulturellen Ansatz immer von der „eigenen“ und der „anderen“ Kultur ausgegangen wird. Damit drückt sich das Machtgefälle einer bestehenden Differenz aus und wird reifiziert. Diejenigen, die zum „Eigenen“ gehören, können die gezogene Grenze überschreiten, diejenigen, die für das „Andere“ stehen, können dies nicht. Kritisiert wird außerdem der kulturelle Fokus des Multikulturalismus, der die nicht auf den ersten Blick sichtbaren politischen und sozialen Ausschlüsse nicht thematisiert. Auf diese Weise würden sich multikulturelle Repräsentationsformen entgegen ihrem Ruf an der Ausgrenzung beteiligen.

Filmische Möglichkeiten des Köperbildes

Doro Wiese analysiert den Film Dandy Dust (1998) von Hans Scheirl. Die Film zeigt auf drastische Weise die Herstellung und Zurichtung des Körpers durch Ansprüche, Eingriffe, Erwartungen und Begriffe, verweist aber auch auf Lösungsmöglichkeiten für die Theorie und die Lebenspraxis: Feste Identitäten, autonome Subjekte und klar abgegrenzte Körper sind weder Realität noch anzustreben. Vielmehr lebt der Mensch in Diskontinuitäten, im Austausch, in wechselnden und wechselseitigen Abhängigkeiten und Begehren. Sein Körper ist und kann kein geschlossener Raum sein; seine Körperoberfläche ist permeabel. In Erweiterung der Kino-Theorie von Deleuze stellt Wiese die These auf, dass das Kino nicht nur die übergeordneten Begriffe Zeit und Bewegung darstellen, sondern das postmoderne Körperverständnis geeigneter ins Bild setzen und auf den Begriff bringen kann als dies mit textlichen Mitteln möglich ist.

Gewalt ist (auch) weiblich

Im dritten Teil des Buches wird die Frage nach Geschlecht und Gewalt abermals neu gestellt: Es geht nun um Gewalt- und Aggressionsformen, die weder gesellschaftlich akzeptiert noch wissenschaftlich bearbeitet sind. Frauke Koher weist die Forschungslücken in der Analyse von weiblicher Adoleszenz nach, die deshalb derzeit besonders auffällig sind, weil Gewaltformen bei Mädchen unübersehbar zunehmen. Die psychoanalytische Forschung geht überwiegend davon aus, dass Gewaltformen und -phantasien ein normaler Bestandteil der Adoleszenzphase des heranwachsenden Jungen sind. Bei jungen Mädchen hingegen wird davon ausgegangen, dass Aggressionen und Gewaltformen Zeichen einer misslungenen Sozialisation seien. Entsprechend fehlen für die Mädchen empirische Studien. Kohler gibt zu bedenken, dass die Forschung hier selbst zur Festschreibung von Geschlechterrollen beiträgt und sich dadurch auch den Blick auf Lösungsmöglichkeiten verstellt. Wenn die Forschung davon ausginge, dass das (sozial verträgliche) Ausleben von Aggression zum Gelingen der weiblichen Entwicklung beitragen könne, dann wäre eine neue Variante der weiblichen Adoleszenz ins Spiel gebracht. Außerdem wäre es möglich, die Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu leisten, die als individuelle und institutionell geronnene Erwartung an die Mädchen herantreten und aggressives Verhalten sanktionieren.

Rolf Pohl ist nicht bereit, das Aufkommen von Gewaltformen bei Mädchen als interkulturelle Angleichung der Geschlechter zu verstehen. Als ein beständiges Spezifikum der männlichen Adoleszenz beschreibt er die paranoide Kampfhaltung, bei der Fremdes abgewertet und, scheinbar in Notwehr, angegriffen wird. Den psychoanalytischen Hintergrund findet Pohl in der ersten Liebesbeziehung. Das erste Objekt von Liebe und Hass ist zumeist die Mutter und damit für die Jungs eine andersgeschlechtliche Person. Damit – und hier findet sich Pohl in der Tradition klassischer feministischer Forschung (Gilligan, Dinnerstein, Reardon u.a.) – ist die Grundlage für eine ambivalente Haltung zum Weiblichen angelegt. Diese Ambivalenz kann in Hass umschlagen, wenn der Jugendliche in der Adoleszenz hetero- und homosexuelles Verlangen entwickelt und zugleich auf eine hegemoniale Männlichkeit trifft, die das Weibliche abwertet und das Homoerotische verbietet. Der Jugendliche reagiert, in dem er die eigenen homoerotischen und weiblichen Anteile nach Außen projiziert auf Fremde, vor denen er sich – ebenfalls frühkindlich angelegt – fürchtet. Die Frau, das Fremde und das Feindliche liegen so auf einem verschiebbaren Spektrum, gegen das sich der Heranwachsende verteidigen zu müssen glaubt. Pohl betont aber, dass es damit nicht automatisch zur Gewalt komme. Entscheidend sei, in wie weit die Gesellschaft dieses Feinddenken teile und Angriffe toleriere oder gar befürworte.

Mechthild Bereswill erkennt den Wert psychoanalytischer, interaktionstheoretischer und habitustheoretischer Ansätze an, verlangt aber die Einführung einer subjekttheoretischen Perspektive. Sie selbst führte dazu auf einem Feld Interviews durch, das geradezu prototypisch für einen gewaltbesetzten Männerraum ist: Jugendhaftanstalten für Männer. Selbst in diesem extremen Raum, – so Bereswills Interpretation – liegt es bis zu einem gewissen Grad im Individuum begründet, ob Gewalt als notwendiger Teil der Identität und der Handlungskapazität empfunden wird oder nicht. Dabei geht auch Bereswill nicht von individueller Entscheidungsfreiheit aus, sondern erklärt sich in einem sozialpsychologischen Ansatz die unterschiedlich ausfallenden Optionen ihrer Probanden als Folge von Abhängigkeits- und Bindungsverhältnissen in Kindheit und Jugend.

Kirsten Bruhns kann mit den Aussagen von interviewten gewalttätigen Mädchen zeigen, dass sich diese über Gewaltbereitschaft und Körperkraft durchaus gegenüber den Jungen neu positionieren. Allerdings wirft dieser Befund einige Fragen auf, wenn Bruhns gleichzeitig beobachtet, dass diese jungen Mädchen gegenüber ihren männlichen Partnern keine gleichberechtigte Stellung einnehmen, sondern sich befehlen lassen und Schläge einstecken. Bruhns konnte in einer zweiten Befragung feststellen, dass der Stellenwert von Gewalt für die älter gewordenen Mädchen sinkt und die meisten ein von traditioneller Arbeitsteilung geprägtes Modell ihres zukünftigen Familienlebens verfolgen. Die von Bruhns ins Auge gefassten Jugendlichen haben in der Regel die Hauptschule besucht. Es drängt sich die Frage auf, ob sich Mädchen je nach Bildung und Sozialstandard anderer Instrumente als der Gewalt bedienen können, um sich im Geschlechterverhältnis neu zu positionieren. Umgekehrt formuliert wäre zu fragen, ob die Gewalt für die wenig ausgebildeten jungen Mädchen das einzige und nur vorübergehend wirksame Mittel ist, um sich gegen die wahrgenommene Schlechterstellung im Geschlechterverhältnis zu wehren.

Fazit

Der Band erfüllt als Ganzes und in den meisten Einzelbeiträgen die eingangs beschriebenen Erwartungen an Differenzierungen im Verständnis von Gewalt und Geschlecht. Entsprechend setzen die meisten Beiträge Vorkenntnisse in Geschlechtertheorie voraus. Der Band beleuchtet die unterschiedlichen Verschränkungen von Gewalt und Geschlecht auf bekannten und unbekannten Feldern und gibt Expert/-innen der Thematik ‚Geschlecht und Gewalt‘ wie auch in Geschlechterforschung geschulten Interessierten einen anregenden und verständlichen Überblick über aktuellen Forschungsfragen und -ergebnisse.

URN urn:nbn:de:0114-qn051148

Dr. Ellen Krause

Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft, Institut für Soziologie

E-Mail: ellen.krause@uni-tuebingen.de

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