Friedrich Lösel, Thomas Bliesener:
Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen.
Untersuchungen von kognitiven und sozialen Bedingungen.
München, Neuwied: Luchterhand 2003.
226 Seiten, ISBN 3–472–05368–2, € 12,00
Abstract: Das rezensierte Buch stellt die multiplikativen Bedingungen der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen dar. Ausgehend von dem theoretischen Modell der kognitiven Verarbeitung sozialer Informationen haben die Autoren zwei verknüpfte Teilstudien von unterschiedlicher Methodik ausgeführt, einmal mit 1163 Jugendlichen der 7. und 8. Klassen sowie zwei Jahre später mit unter ihnen identifizierten Problemgruppen (viktimisierte, aggressive, unauffällige, sozial kompetente Schüler). Als Ergebnis entsteht ein komplexes Modell der Bedingungsgefüge unterschiedlichen Problemverhaltens vornehmlich bei Jungen. Die Autoren diskutieren auch vielfältige Maßnahmen der Prävention und Intervention.
Gewalt allgemein und konkret die laut Kriminalstatistiken offenbar steigende Gewaltbereitschaft Jugendlicher werden viel diskutiert. Die nicht seltenen politisch motivierten Ausschreitungen junger Leute machen die Bedingungsgefüge der Gewaltentstehung auch gesellschaftlich relevant. Friedrich Lösel (Universität Erlangen) und Thomas Bliesener (Universität Kiel) treffen daher den Nerv der Zeit, wenn sie zwei ihrer im Auftrag des Bundeskriminalamtes durchgeführten Studien in dem neuen Forschungsband Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen beschreiben.
Für die erste Studie befragten die Autoren 1163 Schülerinnen und Schüler der siebten und achten Klassen an allgemeinbildenden Schulen in Erlangen und Nürnberg per Fragebogen. Knapp zwei Jahre danach wählten sie aus der ersten Stichprobe Subgruppen viktimisierter, aggressiver, unauffälliger und sozial kompetenter Schüler aus und erforschten mit einer zweiten Studie, wie stabil die zuvor gefundenen Merkmale für aggressives Verhalten sind.
Die Befragten waren zum ersten Messzeitpunkt durchschnittlich 14 Jahre alt. Drei Viertel von ihnen waren Deutsche. Der Fokus der Studien liegt auf den sozialen und kognitiven Prozessen, die mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten einhergehen. Welche Bedingungsfaktoren unterscheiden regelmäßig kriminelle Jugendliche von weniger auffälligen Jugendlichen? So lautet eine zentrale Frage dieser Forschung.
Die Autoren stellen ihre Ergebnisse gewissenhaft und wissenschaftlich einwandfrei dar. Sie erörtern die Befunde der einzelnen Stichprobensubgruppen (nach Schule, Alter, Geschlecht und Staatsbürgerschaft gegliedert) im Detail. Diese Suche nach Präzision ist für akademische Leser/-innen erfreulich, stört allerdings den Lesefluss bei einem Buch, das von seinem Thema her nicht nur in wissenschaftliche Hand gehört.
Schon die Ergebnisse der ersten Studie zeichnen ein düsteres Bild der Gewalt von Jugendlichen in Schule und Freizeit. Glaubt man jedoch der polizeilichen Kriminalstatistik, ist es realistisch.
In dieser Rezension sollen vor allem Erkenntnisse herausgehoben werden, die für die Geschlechterfrage relevant sind. Die Autoren selbst legen den Schwerpunkt ihres Buches allerdings nicht auf geschlechtsspezifische Ergebnisse. Oft erwähnen sie solche Befunde nur am Rande.
Wie erwartet, zeigen Jungen häufiger als Mädchen delinquentes Verhalten. Wenig Geschlechtsunterschiede ergeben sich in der erlebten Gewalt, der Viktimisierung. Fast alle Jungen (93%) und sehr viele Mädchen (78%) erleben Gewalt in der Schule. Allerdings haben deutlich weniger Jungen (64%) und Mädchen (55 %) häufig Angst vor möglicher Gewalt.
Leider legen die Autoren geschlechtsspezifische Bedingungen und Korrelate des Problemverhaltens nicht präzise dar. Doch wird deutlich, dass familiale Bedingungen wie das erlebte Erziehungsklima und Persönlichkeitsmerkmale für aggressives Verhalten von Mädchen weitaus entscheidender sind als für das von Jungen.
Wer selber zum Thema Aggression forscht, wird die Darstellung der persönlichen und psychischen Korrelate von vier verschiedenen Formen der Delinquenz und Viktimisierung nützlich finden. Andere Leser/-innen werden an dieser Stelle des Buchs wohl auf der Strecke bleiben, da sie umfassendes Wissen über statistische Auswertungen voraussetzt.
Generell scheinen aggressive Jugendliche eher unter Aufmerksamkeits-, Identitäts- und Kognitions-Schwierigkeiten zu leiden. Das legen die Studienergebnisse nahe. Die viktimisierten Jugendlichen unterscheiden sich in diesen Merkmalen bemerkenswert wenig von den aggressiven Mitschülern. Aggressive Jugendliche gelten als sozial kompetent, erleben eine ausgeprägtere Anonymität in der Klasse, bleiben häufiger sitzen und haben schlechtere Schulnoten. Sie sind häufiger in Cliquen eingebunden und engagieren sich eher in unstrukturiertem und konsumorientierten Freizeitverhalten.
Die Autoren liefern dabei eine Untergliederung nach Geschlechtern allerdings erst, wenn sie die Gesamtzusammenhänge darstellen. Für Aggressivität von Mädchen sind familiale und persönliche Merkmale, für Jungen Peer-Gruppen entscheidender. Für die erlebte Viktimisierung spielt bei Jungen das erfahrene Klassenklima, für Mädchen eine ängstlichere Persönlichkeit die entscheidende Rolle.
Erwähnenswert sind noch die Lehrereinschätzungen, die zur Validierung der Selbsteinschätzung der Schüler/-innen dienen. Der Ansatz ist lobenswert, doch wie viele andere Autoren auch berichten Lösel und Bliesener hier von nur moderaten Zusammenhängen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung.
Die erste Querschnittsuntersuchung liefert also viele interessante Ergebnisse zu Bedingungsgefügen und Korrelaten von Aggressionsformen im Jugendalter. Wirklich Neues wurde nicht gefunden. Häufig lassen sich andere Arbeiten, zum Teil verfasst von den Autoren, heranziehen, um die Erkenntnisse zu bestätigen. Misslich scheint, dass die theoretische Einbindung der Befunde in das Modell der Sozialen Informationsverarbeitung vereinzelt zu kurz kommt, vor allem dort, wo das Füllhorn der Detailergebnisse am kräftigsten sprudelt.
Lösel und Bliesener überzeugen mit ihrer zweiten Studie, weil sie multiple Methoden anwenden und verschiedene Informanten hinzuziehen. Sie inszenieren Computerspiele, Rollen- und Konfliktspiele sowie Interviews mit 102 ausgewählten Teilnehmern der ersten Stichprobe, die sich als „typische Aggressoren, Opfer, sozial besonders kompetente oder unauffällige Schüler erwiesen hatten“ (S. IX).
Wie oft in der Aggressionsforschung wurden leider nur noch Jungen in die zweite Stichprobe aufgenommen. Noch bedauerlicher jedoch ist, dass die Autoren diese Entscheidung nicht ausführlich begründen. Zudem sprechen sie trotzdem im weiteren nur mehr von den „Jugendlichen“ ihrer Stichprobe. So entgehen uns nicht nur Erkenntnisse über Aggressivität und Gewalt von Mädchen, die Leser/-innen werden obendrein zu einer wohl falschen Generalisierung angeleitet.
Dabei wäre besonders im dritten Teil des Buches, der sich mit Prävention und Intervention befasst, ein geschlechtsspezifischer Ansatz wünschenswert gewesen. Der internationale Forschungsstand besagt, dass dies dringend notwendig wäre (vgl. Girls Incorporated. Prevention and Parity: Girls in Juvenile Justice. New York 1996).
Die Autoren des Buches ziehen ihr eigenes Fazit in Form von Präventions- und Interventionsempfehlungen. Vorbeugung sollte nach ihrer Auffassung nicht erst in der Schule, sondern so früh wie möglich beginnen. Der Vorschlag der Elterntrainings ist nicht neu, und auch Lösel und Bliesener räumen ein, dass gerade die Eltern, die diese Trainings bräuchten, dafür kaum erreichbar sind.
Prävention – so die Autoren – benötigt einen komplexen multimodalen Ansatz, der neben den Jugendlichen auch Eltern, Lehrer/-innen, städtische Einrichtungen und Organisationen einbezieht. Prävention muss kind- und familienbezogen einsetzbar sein und alle Lebensbereiche der Jugendlichen erreichen. Deutlich ist auch der Aufruf zu kontrollierter Evaluation aller Programme dieser Art. Die Autoren warnen überzeugend, dass der Bezug zur Grundlagenforschung nicht verloren gehen darf, da sonst „gutgemeinte Programme leicht zum bloßen Aktionismus werden“.
Die Ergebnisse des Buches von Lösel und Bliesener sind wenig innovativ, jedoch in ihrer komplexen Darstellung für informierte Leserinnen und Leser aufschlussreich dargestellt. Unter akademischen Gesichtspunkten ist das Werk sehr empfehlenswert und für die eigene wissenschaftliche Arbeit in diesem Gebiet äußerst informativ und anregend. Für die Anwendung ist das Buch als Forschungsbericht weniger ergiebig. Rezipientinnen und Rezipienten brauchen beträchtliche Entschlossenheit, sich durch die detaillierte Ergebnisdarstellung zu kämpfen. Zwei oder drei Themenschwerpunkte in kürzeren Beiträgen würden die Fülle der Informationen sicherlich gewinnbringender bereitstellen.
URN urn:nbn:de:0114-qn051178
Dr. Angela Ittel
Berlin, Freie Universität Berlin, Empirische Erziehungswissenschaft
E-Mail: ittel@zedat.fu-berlin.de
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