„Die Bedingungen, die ich als Frau vorfand, haben logischerweise zu meinem Ausstieg geführt“

Rezension von Anina Mischau

Christiane Erlemann:

Ich trauer meinem Ingenieurdasein nicht mehr nach.

Warum Ingenieurinnen den Beruf wechseln – eine qualitative empirische Studie.

Bielefeld: Kleine 2002.

433 Seiten, ISBN 3–89370–370–5, € 24,90

Abstract: Warum gibt es, trotz zahlreicher Maßnahmen zur Steigerung des Frauenanteils in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen oder auch zur Integration von Frauen in entsprechende Berufsfelder, nach wie vor so wenige Ingenieurinnen in Deutschland? Warum wird technische Gestaltungs- und Definitionsmacht nahezu ungebrochen mit „Männlichkeit“ oder dem Bild „des Ingenieurs“ verknüpft? Warum zeigt sich die ingenieurwissenschaftliche Fachkultur, wie die Fachkulturforschung im ingenieurwissenschaftlichen Feld selbst, als besonders „resistent“ oder „widerständig“ gegen die Kategorie Geschlecht? Diesen spannenden und politisch provokanten Fragen geht Christiane Erlemann nach. In ihrem Buch rekonstruiert sie die Hinwendung zum, die Auseinandersetzung mit dem und letztlich die Abwendung vom ingenieurwissenschaftlichen Feld anhand biographisch orientierter narrativer Interviews mit Ingenieurinnen, die ihren Beruf „an den Nagel gehängt“ haben.

Ausgangspunkt, Fragestellung und Methode

In den ersten drei Kapiteln ihres Buches skizziert Erlemann die Fragestellung ihrer qualitativ empirischen Studie, verortet diese in dem bestehenden Diskurs über „Frauen und Technik“ und steckt den von ihr gewählten theoretischen wie methodischen Bezugsrahmen ab. In Kapitel 1 geht sie noch einmal auf die unterschiedlichen Facetten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Situation von Frauen im Ingenieurstudium und im Ingenieurberuf ein und setzt sich dabei sehr fundiert und kritisch mit den bisherigen Schwerpunkten dieses Forschungsfeldes auseinander. Sehr überzeugend legt die Autorin dar, dass sich das Forschungsinteresse und der gleichstellungspolitische Diskurs bislang nahezu ausschließlich auf die Frage konzentriert haben, wie der Frauenanteil in Ingenieurstudiengängen erhöht und den Absolventinnen der Berufseinstieg „erleichtert“ werden kann. Bedingungen, Ursachen und (individuelle wie strukturelle) Prozesse, die zu einem Verbleib oder einem Ausstieg von Frauen aus dem Ingenieurberuf führen, blieben bis heute ein weitgehend vernachlässigtes Thema. Innovativ sind ohne Zweifel Erlemanns Überlegungen zu einem Perspektivwechsel in der empirischen (Fachkultur-)Forschung; diese in den wissenschaftlichen Diskurs aufzunehmen und weiterzuführen, hält die Rezensentin für ein ebenso notwendiges wie vielversprechendes und lohnenswertes Unterfangen. Kapitel 2 bietet eine kurze Zusammenfassung zentraler Aspekte der feministischen Kritik an Naturwissenschaft und Technik. Wichtig für die Verortung von Erlemanns Forschungsinteresse ist vor allem die Diskussion um eine Re-Kontextualisierung von Naturwissenschaft und Technik und die sich anschließende Frage nach den politischen Konsequenzen einer solchen Re-Kontextualisierung, die u. a. die Notwendigkeit einer Thematisierung von Geschlecht zur Ergründung, Erklärung und ggf. Veränderung „frauendiskriminierender“ bzw. „frauenausschließender“ Strukturen, Bilder und Einstellungen im ingenieurwissenschaftlichen Feld impliziert. In Kapitel 3 schließlich führt Erlemann in die von ihr gewählte Methode der interpretativen Textanalyse narrativer Interviews ein. Darüber hinaus beschreibt sie kurz ihr Sample und die Auswahlkriterien für die in ihre Studie aufgenommenen Probandinnen.

Von der Kunst wissenschaftlicher Interpretation

Kapitel 4, das immerhin die Hälfte des gesamten Buches umfasst, stellt den eigentlichen Kern der wissenschaftlichen Arbeit von Erlemann dar. In diesem interpretiert die Autorin die beruflichen Einstiegs-, Umstiegs- und Ausstiegsverläufe dreier Ingenieurinnen. Insgesamt hat Erlemann im Rahmen ihrer Studie mit 12 „ausgestiegenen“ Ingenieurinnen biographisch orientierte Interviews geführt. Zu ihrer Entscheidung, gerade die Lebensgeschichten dieser drei Frauen in den Mittelpunkt ihrer Studie zu rücken, kann man der Autorin nur gratulieren. Kontrastreicher kann das Datenmaterial wohl kaum sein, sowohl hinsichtlich der „Hintergrundvariablen“ (z. B. räumliche Herkunft, Herkunftsfamilie, Familienstatus, Bildungsweg, Fachrichtung, Berufsfeld) als auch mit Blick auf die Bandbreite der lebensgeschichtlichen Erfahrungen dieser Frauen. Dabei geht es der Autorin nicht um das Nacherzählen von (am Ende noch „typischen“) Berufs- und Ausstiegsbiographien von Ingenieurinnen. Der Anspruch der Autorin ist vielmehr, das in den Interviews gewonnene Datenmaterial in einen wissenschaftlichen Kontext zu stellen und innerhalb dieses Bezugrahmens neu zu deuten. Sie will die von den Frauen erzählten Geschichten, in denen diese unausweichlich ihre Erfahrungen, bestimmte (Lebens-)Ereignisse und eigene Handlungen wie die Dritter, bereits auf eine (für sie schlüssige) Sinnstruktur hin interpretiert haben, quasi „gegen den Strich bürsten“. Erlemann will gerade die Diskrepanz zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte sichtbar machen. Ihr geht es im wissenschaftlichen Interpretationsprozess darum, die soziale Konstruiertheit der Deutung der eigenen Lebensgeschichte durch die Frauen aufzudecken und gleichsam als Gegengewicht zu deren Selbstpräsentation, ausgehend von der latenten Sinnstruktur der Erzähltexte, eine Rekonstruktion der Lebensverläufe dieser drei Ingenieurinnen vorzunehmen. Ein wahrlich hoher Anspruch, nicht nur an die eigene wissenschaftliche Arbeit, sondern auch an die Leser/-innen, die diesen Interpretationsprozess letztlich nachvollziehen sollen.

Man kann sich sicherlich trefflich darüber streiten, ob Erlemann in der Darstellung ihrer wissenschaftlichen Analyse- und Interpretationsschritte manchmal nicht etwas zu akribisch vorgegangen ist und damit zumindest den Lesefluss in diesem Kapitel stellenweise gehörig ins Stocken bringt und ob die Autorin ihre Interpretationsraster an einigen Stellen nicht etwas zu engmaschig gezogen hat und dabei punktuell vielleicht auch zu Überinterpretationen oder einer übertriebenen Pedanterie tendiert. Dies jedoch sollen andere tun. Die Rezensentin selbst war beim Lesen beeindruckt von der Dokumentationsfülle, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit der einzelnen Interpretationsschritte. Die Autorin weist sich mit diesem Teil der Arbeit nicht nur als fundierte Kennerin, sondern auch als überaus gewissenhafte Anwenderin qualitativer Methoden der Sozialforschung aus. Ihrem formulierten wissenschaftlichen Anspruch wird sie dabei allemal gerecht.

Leider ist es im Rahmen dieser Rezension nicht möglich, detailliert auf die jeweils sehr ausführlichen Interpretationen der drei Lebensverläufe einzugehen; diese sollten die geneigten Leser/-innen besser selbst auf sich wirken lassen. Eindrücklich sind in jedem Fall die erst durch die Interpretationsleistung der Autorin aus der Tiefe der Erzähltexte an die Oberfläche geholten und dadurch sichtbar gewordenen Gemeinsamkeiten (oder charakteristischen Mosaiksteine) in den Einstiegs-, Umstiegs- und Ausstiegsverläufen der Frauen in bzw. aus dem Ingenieurberuf. Diese sind z. B. ihre Umdefinition oder Glättung von „Brüchen“ als Anpassungsfähigkeiten an wechselnde Gegebenheiten des Lebens, die wiederkehrende Entdramatisierung von eigentlich „einschneidenden“ Ereignissen und/oder Erfahrungen, der eher passive Umgang mit Diskriminierungserlebnissen, ihre (eher zögerliche Akzeptanz der) Erkenntnis, dass man als Frau auch oder gerade in „Männerberufen“ das Geschlecht nicht ablegen kann und in erster Linie immer als Frau wahrgenommen wird, und letztlich ihre Tendenz, den Einstieg in und den Ausstieg aus dem Ingenieurberuf irgendwie als fremdattribuiert und keineswegs als selbstbestimmt erscheinen zu lassen.

Fallvergleich und Diskussion?

Kapitel 5, in dem ein Fallvergleich gezogen werden soll, und Kapitel 6, in dem die Ergebnisse diskutiert werden, fallen in der Qualität gegenüber Kapitel 4 deutlich ab. Einen Fallvergleich nimmt Erlemann leider nicht vor. Was in Kapitel 5 folgt, ist nur eine nach den Einzelfällen sortierte Zusammenfassung der Ergebnisse zu zwei zentralen forschungsleitenden Fragen der Autorin: der nach der Resonanz von biographischer Struktur und Fachstruktur und der nach der Berufsfähigkeit im Kontext der gesamten Lebensplanung der Frauen, wobei die Reflexion der Sonderstellung als Frau in einem „Männerberuf“ eine besondere Beachtung findet. Erlemann bleibt hier weit hinter ihren eigenen Potentialen zurück und schafft es nicht, die Beantwortung dieser Fragen von der individuellen Ebene zu lösen und damit über die rekonstruierten Einzelfälle hinaus auf eine gesellschaftliche Ebene oder Strukturdiskussion zu heben. In Kapitel 6 diskutiert die Autorin die aus den Fallrekonstruktionen gewonnenen Ergebnisse. Nicht schlüssig ist, warum sie diese plötzlich mit Aussagen aus weiteren Interviews ergänzt und z. T. relativ unvermittelt mit Untersuchungsergebnissen angrenzender Forschungsfelder in Beziehung setzt. Diese Vorgehensweise erweckt den Eindruck, die Autorin „traue“ ihrer eigenen Analysekraft nicht und müsse ihre Ergebnisse irgendwie „absichern“. Schade drum: Was die Autorin z. B. unter den Stichworten „Isolation“, „mütterliche Delegation“, „Ingenieurstudium als Fortschrittsträger und Emanzipationsgarant“ und „Reibungspunkte mit der Fachkultur“ eigentlich anhand der von ihr in Kapitel 4 geleisteten Arbeit hätte diskutieren können, ist weit mehr als sie hier getan hat.

Resümee

Ein Verdienst von Erlemann ist es, gründlich mit einem Mythos, den auch die Frauen- und Geschlechterforschung reproduziert und der unbeirrt in frauen- und gleichstellungspolitischen Diskursen hochgehalten wird, aufzuräumen. Mehr als alles andere zeigt ihre Analyse der Einstiegs-, Umstiegs- und Ausstiegsverläufe der von ihr interviewten Ingenieurinnen, dass es eben nicht reicht, nur Maßnahmen zur Erhöhung der Studentinnenanteile in den ingenieurwissenschaftlichen Fächern oder zur Erleichterung des Berufeinstiegs der Absolventinnen zu ergreifen, um eine nachhaltige Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse im ingenieurwissenschaftlichen Feld zu erreichen. Mit ihrer Studie öffnet sie die Augen dafür, dass Bedingungen und Strategien, die den Hochschulabschluss und den Berufseinstieg ermöglichen, nicht notwendigerweise auch für den langfristigen und erfolgreichen Verbleib von Frauen im Ingenieurberuf geeignet sind. Allein aus diesem Grund ist die Studie von Erlemann wirklich lesenswert. Darüber hinaus ist sie eine methodisch sehr gelungene Arbeit. Schwächen zeigen sich vor allem in der Diskussion der erarbeiteten Ergebnisse und in der Skizzierung daraus zu ziehender gleichstellungspolitischer Konsequenzen; beides bleibt im Vergleich zum Rest der Studie leider etwas „blutleer“.

URN urn:nbn:de:0114-qn051163

Dr. Anina Mischau

Universität Bielefeld/Interdisziplinäres Frauenforschungs-Zentrum (IFF)

E-Mail: anina.mischau@uni-bielefeld.de

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