Der Glaube als Erkenntnisquelle

Rezension von Andrea Hartwig

Beate Beckmann, Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz (Hg.):

Edith Stein.

Themen – Bezüge – Dokumente.

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003.

318 Seiten, ISBN 3–8260–2476–1, € 49,80

Abstract: Seit ihrer Kanonisation 1998 und Ernennung zur Mit-Patronin Europas 1999 steht die 1942 in Auschwitz ermordete Phänomenologin Edith Stein, 1922 vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertiert und 1933 als Benedicta vom Kreuz in den Kölner Karmel eingetreten, mehr denn je im Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Bedeutung ihrer wissenschaftlichen Arbeit u. a. als Assistentin von Edmund Husserl in Freiburg und als Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster, aber auch in privaten Studien wurden im Juli 2000 im Rahmen eines Symposiums des Internationalen Edith Stein Instituts in Würzburg diskutiert. Die Beiträge der vorliegenden Publikation beleuchten breit gefächert Aspekte des Werks und seiner Interpretation mit dem Ziel, die Philosophin neu zu entdecken und die bisherige Forschung zu intensivieren.

Spirituelle und biographische Bezüge

Die Publikation ist in die Bereiche Forschungen und Dokumentation aufgeteilt. Aus jedem Bereich soll exemplarisch ein Aufsatz besprochen werden. Die 14 Aufsätze des ersten Bereichs sind ihrerseits in drei Themenschwerpunkte zu biographischen und spirituellen Bezügen untergliedert. Der frühen Phänomenologie widmen sich Karl Schuhmann mit seinem Aufsatz über Phänomenologische Bezüge zwischen Alexander Pfänder und Edith Stein sowie Beate Beckmann, die die Phänomenologie und die Wesensgesetzlichkeit des religiösen Erlebnisses bei Adolf Reinach und Edith Stein untersucht; Eberhard Avé-Lallemant skizziert die Begegnung in Leben und Werk zwischen Edith Stein und Hedwig Conrad-Martius.

Den Bereich Phänomenologie und Ontologie beleuchten Peter Volek mit seinem Aufsatz zur Erkenntnistheorie bei Edith Stein, James D. Hart mit „Notes on Temporality, Contingency, and Eternal Being: Aspects of Edith Stein’s Phenomenological Theology“; Francesco Tommasi betrachtet den Dialog zwischen Phänomenologie und mittelalterlicher Scholastik im Werk Edith Steins; abschließend geht Urbano Ferrer Spuren der spanischen Mystik von Johannes vom Kreuz im Werk Edith Steins nach.

Der dritte Themenschwerpunkt widmet sich Bezügen zur Biographie, Geistesgeschichte und Spiritualität. Den Beginn macht dabei die Herausgeberin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die deutsche Geistesgeschichte im Jahrzehnt 1918–1928, konzentriert im Blick auf Edith Stein portraitiert; die religiöse Entwicklung Edith Steins wird von Maria Petermeier nachgezeichnet; Karl-Heinz Wiesemann untersucht Edith Stein im Spiegel des Denkweges Erich Przywaras; Virginia Raquel Azcuy und Sophie Binggeli befassen sich mit dem Einfluss der benediktinischen Spiritualität auf und die Bedeutung der Hl. Schrift für Edith Stein. Abgerundet wird der Bereich „Forschungen“ schließlich mit Christina Kaori Suzawa, die dem Leser „‚Unterwegs ad orientem‘: Das letzte Zeugnis Edith Steins“ vorstellt.

Eingeleitet wird der Forschungsteil von einem Überblick über den geistesgeschichtlichen Horizont, in dessen Mittelpunkt Hans Rainer Sepp Edith Steins Position in der Idealismus-Realismus-Debatte thematisiert. Die Debatte hatte bereits 1905 mit der transzendentalen Wende in Husserls Denken begonnen und war nach einer Unterbrechung in Folge des Ersten Weltkriegs um 1930 wieder aufgeflammt.

Nach einer kurzen Einleitung geht der Autor auf die Beteiligten der Diskussion ein: Edmund Husserl, Theodor Celms, Roman Ingarden, Max Scheler und natürlich Edith Stein selbst. Husserls Idealismus in einem neuen, transzendentalphänomenologischen Sinn, gekoppelt an die Durchführung der phänomenologischen Reduktion, bezog laut Celms einen metaphysischen Standpunkt im Sinne einer Ansichsetzung seines Bodens und Gegenstandsgebiets (und damit des reinen Bewusstseins), wobei bei Celms selbst die phänomenologische Position auf eine Ansichsetzung verzichtete. Ingarden legte zwar die implizierten ontologischen, metaphysischen und erkenntnistheoretischen Problemstellungen in dieser Debatte dar, wendete sich weiterführend jedoch nur den Aspekten des „Sinns“ zu, in Schelers Terminologie dem „Sosein“, wobei Ingarden nach dem Sosein des Faktischen (und damit des Realen) und Scheler nach dem Faktischen als solchem fragte.

Am Schluss der Ausführungen fasst Sepp in drei Punkten den Beitrag Edith Steins zu dieser Idealismus-Realismus-Debatte zusammen: Die in der Selbstdefinition eines Idealismus begrenzte Transzendentalphänomenologie Husserls könne aufgelöst werden, ohne das Ideal einer konstitutiven Phänomenologie aufzugeben. Stein definiere dadurch ihre eigene phänomenologische Haltung, die bestrebt sei, bei der Entwicklung einer konstitutiven Phänomenologie auf die Absolutsetzung eines allen Sinn und Sinn von Sein konstituierenden Bewusstseins zu verzichten.

Die Handschriften

Am Anfang des Bereichs „Dokumentation“ stehen bislang nicht publizierte Schriften Edith Steins aus ihrer Zeit als Protokollführerin der Göttinger „Philosophischen Gesellschaft“ (Sose 1913 – Sose 1914), die die akademische Diskussion unter den Husserl-Schülern aufzeichnen. Ergänzend werden die Geschichte des Internationalen Edith Stein Instituts Würzburg (Abdruck eines Vortrags des 2001 verstorbenen Michael Linssen OCD) sowie eine umfangreiche Bibliographie mit einem Verzeichnis der Edith-Stein-Gesamtausgabe (ESGA und ESW) bereit gestellt.

Im Mittelpunkt des Dokumentationsteils geht Claudia Mariéle Wulf in ihrem Aufsatz über „Rekonstruktion und Neudatierung einiger früher Werke Edith Steins“ ausführlich auf die Problemstellung im Zusammenhang mit verschiedenen im Edith-Stein-Archiv des Kölner Karmel (ESAK) gelagerten Manuskripten ein. Exemplarisch werden Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik (SPEP), Natur, Freiheit und Gnade, ein mit Die ontische Struktur der Person überschriebener Textteil sowie die einzelnen Teile des Manuskripts Einführung in die Philosophie (EPh) genannt, deren Zuordnung, Datierung und inhaltliche Überarbeitung Fragen aufwerfen. Vorwiegend anhand des wechselnden Gebrauchs von Sütterlin und Lateinschrift sowie der Art des Federstrichs nimmt Wulf eine Rekonstruktion des Manuskripts (MEPh) und des Drucks (DEPh) der Einführung in die Philosophie sowie des UrSPEP vor und stellt das Ergebnis auch in tabellarischer Form vor. Ebenfalls für das Manuskript SPEP wird ein mit UrSPEP III bezeichneter Text rekonstruiert, der in dem Aufsatz Individuum und Gemeinschaft abgedruckt wurde. Wulf datiert den Text SPEP in die Freiburger Zeit Steins und belegt dies abschließend auch inhaltlich u. a. durch einen Vergleich mit Schriften Husserls, die Edith Stein als dessen Assistentin bearbeitete. Anhand der selben Methode folgt eine Untersuchung über das Verhältnis von EPh und SPEP, deren Datierung, Bearbeitungsstufen und Korrekturen sowie die zeitliche und inhaltliche Einordnung von Natur, Freiheit und Gnade. Als Anhaltspunkte für den inhaltlichen Vergleich dient dabei schwerpunktmäßig der unterschiedliche Gebrauch der Begriffe „Bewusstsein“, „Seele“ und „Psyche“. Als textfremde Hinweise dienen vorwiegend Zitate aus Briefen Edith Steins.

Der Handschriftenvergleich offenbart dabei nicht allein Edith Steins Entwicklung im wissenschaftlichen Bereich der phänomenologischen Anthropologie, sondern auch den Umgang mit persönlichen Fragestellungen vor allem im Zusammenhang mit ihrer Konversion, die sie seit der Lektüre der Lebensgeschichte Teresas von Avila nicht mehr losgelassen haben.

Die vorliegende Publikation bietet in hochkonzentrierter Form einen Überblick über die aktuelle Forschungslage zu Biographie und Werk Edith Steins und ermöglicht auch dem Außenstehenden einen schnellen und sicheren Einstieg in die Thematik. Anspruchsvolle Beiträge von hoher inhaltlicher und sprachlicher Qualität filtern aus handgeschriebenen wie gedruckten Schriften die philosophischen und spirituellen Bezüge Edith Steins, der Hl. Benedicta vom Kreuz, und offenbaren die Dimensionen ihres vielschichtigen Charakters. Die ausführliche Bibliographie am Schluss des Bandes dient Interessierten, Lehrenden und Lernenden zur weiterführenden Orientierung und Information.

URN urn:nbn:de:0114-qn051180

Andrea Hartwig M.A.

Bonn

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