Demokratie als Bürgerprojekt. Verfassungspatriotismus und Bürgerengagement

Rezension von Marion Eckertz-Höfer

Jutta Limbach:

Die Demokratie und ihre Bürger.

Aufbruch zu einer neuen politischen Kultur.

München: C. H. Beck 2003.

167 Seiten, ISBN 3–406–51061–2, € 16,90

Abstract: Bleibt unsere Demokratie unter heutigen veränderten Rahmenbedingungen – Geburtenrückgang und Alterung der Gesellschaft, hohe Arbeitslosigkeit, Finanzierungsprobleme der Sozialsysteme, Immigrationsströme, Kapitalflucht, internationale Kriminalität, Elitenkartelle, zunehmende Verwischung staatlicher Aufgaben und wirtschaftlicher Interessen, Europäisierung – überlebensfähig? Jutta Limbach geht es um die Bedingungen der Stabilität unseres staatlichen und gesellschaftlichen Gemeinwesens. Ihre Hoffnung gilt einer sich entwickelnden Bürgergesellschaft. Hier – und nicht bei der politischen Elite – setzt sie auf die Phantasie, Tatkraft und Meinungsfreude, derer unser Staat bedarf, um zu überleben.

Die Autorin

In ihrem Buch Die Demokratie und ihre Bürger versucht Jutta Limbach den Brückenschlag zu den maßgeblichen Akteuren unseres Gemeinwesens, zu den interessierten Bürger/-innen und zu den Funktionseliten. Die Autorin kennt beide Seiten aus eigener Erfahrung. Und sie hat sich in der Öffentlichkeit zu Recht den Ruf erworben, dass sie, wenn sie sich eines Themas bemächtigt, stets weiß, wovon sie spricht.

So hat sie in allem, was sie in ihrem Leben angefangen hat, kräftige Spuren hinterlassen. Ihre Vita activa ist zudem reich an Neuanfängen. Nach ihrem juristischen Studium erregte sie bereits im Jahre 1966 in Fachkreisen Aufsehen mit einer gesellschaftsrechtlichen Promotion. Nach ihrer Habilitation 1971 über Das gesellschaftliche Handeln, Denken und Wissen im Richterspruch wurde sie Professorin für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht und Rechtssoziologie an der Freien Universität Berlin. 1989 wechselte sie in die Politik. Sie war – in den wichtigen Jahren der Vereinigung Deutschlands – Justizsenatorin des Landes Berlin. Schließlich wurde sie am 14. September 1994 – als erste Frau – Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, nachdem sie vorher dort bereits kurze Zeit als Vizepräsidentin gewirkt hatte. Heute ist sie Präsidentin des Goethe-Instituts Inter Nationes.

Das Buch

Anlass für das vorliegende Buch ist, dass Jutta Limbach im Wintersemester 2002/2003 – ein Jahr nach Ralf Dahrendorf – die zum vierten Male veranstalteten Krupp-Vorlesungen zu Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Essen gehalten hat. Das Buch besteht dementsprechend aus sechs zu Kapiteln herangereiften Vorlesungen, die mit einem nützlichen Fußnotenapparat und einem Nachwort versehen wurden. Schwerpunkte werden bereits durch die gut gewählten Kapitelüberschriften deutlich: I. „Deutsche Staatlichkeit im Wandel“; II. „Von der Untertanen- zur Staatsbürgerkultur“; III. „Demokratie: Elitenkartell oder Bürgerprojekt?“; IV. „Europa: Markt oder Demokratie“; V. „Vom Wert der Freiheit“; VI. „Toleranz in der multikulturellen Gesellschaft“ und das Nachwort: „Die Demokratie lieben?“.

Die Grundfrage

Die derzeitige von Arbeitslosigkeit, Finanzkrisen der Sozialsysteme, Migration, Kapitalflucht, internationalem Terrorismus, Elitekartellen und manchem mehr geprägte Situation ist Ausgangspunkt des Buches. Krisenphänomene wie diese und neuere Entwicklungen wie die zunehmende kulturelle und religiöse Vielfalt der Gesellschaft sowie die erweiterte und neu zu verfassende Europäische Union veranlassen Jutta Limbach, der Frage nachzugehen, wie unsere noch relativ junge Demokratie Stand halten kann. Jutta Limbach sucht die Gegenwart und Zukunft unserer Demokratie weniger in herkömmlichen Konzepten von Staatlichkeit, den Funktionseliten, den politischen Parteien oder den Institutionen als in einem – so hofft sie – sich entwickelnden Bürgerengagement. Dabei nicht verkennend, dass „das Urbild des aktiven Bürgers“ einer verkümmerten Gattung zugehört (S. 49)! Doch wie der von ihr herangezogene Aristoteles schon wusste (vgl. S. 23), dass die politische Gemeinschaft von der Bereitschaft der Bürger abhängt, für sich und andere Verantwortung zu tragen, so weiß Jutta Limbach – und mit ihr natürlich viele andere, auch in den sog. Funktionseliten –, dass es für eine Bürgergesellschaft, die sich in den politischen Prozess einmischt und mitredet, keine Alternative gibt, soll unsere Demokratie die nächsten Jahrzehnte künftigen Umbruchs überleben.

Das stellt die Arbeit der Parlamente und politischen Parteien nicht in Frage, berücksichtigt aber deren Neigung zu Schwerfälligkeit, Bürokratie und Selbstbezogenheit ihres Personals. Auch wenn die – insbesondere im Nachwort des Buches noch einmal zugespitzt formulierte (vgl. S. 145 ff.) – Hoffnung auf eine Bürgergesellschaft, die eigenständig Themen formuliert oder aufgreift, die sich in das öffentliche Leben einmischt – durchaus gespeist von schöpferischem Chaos –, nur auf wenige Erfolgsbeispiele in der Realität verweisen kann, so ist der Autorin dennoch Recht zu geben: Versteht man das Konzept der Bürgergesellschaft als Strategie der Suche „nach Möglichkeiten des Sich-Einmischens und des Füreinander-Einstehens in einer vielschichtigen und großräumigen Gesellschaft“, als Gegenkonzept zu „Gleichgültigkeit und Politikverdrossenheit“ (S. 153), so wird seine Alternativlosigkeit deutlich. Und die von der Autorin als gelungene „Bewährungsproben der Demokratie“ analysierten Ereignisse der „Spiegel-Krise“ 1962 (S. 29 ff.), der „Studentenbewegung“ in den Nach-68er Jahren (S. 31 ff.) und der Neuen Frauenbewegung (S. 35 ff.) zeigen immerhin, dass bürgergesellschaftliches Engagement hierzulande sich durchaus schon auf Vorbilder beziehen kann. Und dies nicht nur in den alten Bundesländern: Die Leipziger „Montagsdemonstrationen unter dem Signal ‚Wir sind das Volk!‘“ (S. 47) gehören wohl zu den intensivsten Demokratieerfahrungen, die unsere Generation bislang hat erleben dürfen.

Ost-West

Im Zusammenhang mit den fraglos noch bestehenden und an Hand von Umfrageergebnissen bestätigten Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beiden Teilen Deutschlands (vgl. S. 41 ff.) beklagt Jutta Limbach zu Recht, dass die geglückten direkt-demokratischen Vorgänge des Jahres 1989 nicht in eine neue, gemeinsam erarbeitete Verfassung mündeten (S. 47) – wie dies nach Artikel 146 des Grundgesetzes nahe gelegen hätte. Auf Gründe dafür geht sie nicht ein. Völlig zutreffend beschreibt sie aber die beklagenswerte Folge: „Wichtige Prozesse der Identitätssuche“ wurden dadurch abgeblockt, „die sehr wahrscheinlich gewinnbringend für die Entwicklung einer gemeinsamen Kultur hätten genutzt werden können“ (S. 47). Nun, das Verfahren nach Art. 146 des Grundgesetzes hätte mehr Zeit erfordert. Die Menschen in der DDR – anders denkende Bürgerrechtler waren schließlich nur eine Minderheit – wollten eine schnelle Vereinigung. Somit entschieden sie sich – durch ihre zu diesem Zeitpunkt bereits demokratisch gewählten Repräsentanten und unterstützt durch die bundesrepublikanische Regierung – für den Weg des einfachen Beitritts der DDR, wie er auf Grund des damaligen Artikels 23 des Grundgesetzes möglich war.

Freiheit

Im Zuge der aktuellen Debatte zu Zuwanderungsgesetz, „Kopftuch-Gesetzen“, Terrorismusbekämpfung sind die beiden letzten Kapitel des Buches von besonderem Interesse. Hier zeigt sich Jutta Limbach als genuin liberale Betrachterin unserer Gegenwart, die weiß, „dass der Preis für die Freiheit steigt, wenn die Nachfrage sinkt“ (Helmut Simon). Nachdenkenswert analysiert sie als „Mangel unseres Krisenmanagements“, dass die Politik der inneren Sicherheit weitgehend abgekoppelt von Strategien agiert, die im Feldzug gegen den Terrorismus auch „eine zivile, eine politische Front“ eröffnen (S. 112). Sie folgt Erkenntnissen, dass der Nährboden von Terrorismus weniger Armut und Analphabetismus als die – auch nur vermeintliche – Erfahrung von Demütigungen ist (S. 111).

Ihr Eintreten für einen Dialog der Kulturen und Religionen schließt die rechtsstaatlich konsequente Anwendung polizeilicher und geheimdienstlicher Befugnisse natürlich nicht aus. Wogegen sie allerdings mit Vehemenz streitet, sind Sicherheitsmaßnahmen, die Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft setzen. So betrachtet sie Schleier- und Rasterfahndungen sowie Videoüberwachungen als eher symbolische Maßnahmen der Politik denn als solche, die wirklich geeignet wären, Terroristen aufzuspüren.

Toleranz

Das Schlusskapitel zu unserer durch mehr als 7 Mio. Ausländer – davon mehr als 3 Mio. Muslime – geprägten Gesellschaft erinnert daran, dass das Grundgesetz mit seinem ausgeprägten Diskriminierungsschutz, der Freiheit, „anders zu sein und anders zu bleiben“ – wie Günter Dürig es einst formulierte –, einen wichtigen Platz einräumt (S. 137). Jutta Limbach fordert den fremden Kulturen gegenüber weitreichende Toleranz. Der Staat müsse die religiöse Verschiedenheit zulassen, pflegen und verteidigen (S. 127). Erzwingt dies die Duldung der Lehrerin, die aus religiösen Motiven ein Kopftuch im Unterricht tragen will? Jutta Limbach scheint hier keinen Zweifel zu hegen.

Was spricht dagegen? Soweit es um christlich oder atheistisch erzogene Schülerinnen und Schüler geht, fragt es sich, ob es nicht in der Tat sinnvoll ist, wenn diese – auch durch eine kopftuchtragende Lehrerin – frühzeitig damit vertraut gemacht werden, dass es mehrere Religionen gibt, die sich in ihrem Denken, aber vielfach auch in Lebensgewohnheiten voneinander unterscheiden. Aber wie steht es mit denjenigen muslimischen Schülerinnen, die von der Familie, besonders von Vätern und Brüdern, und dies auch nicht selten mit psychischer oder physischer Gewalt, dazu gezwungen werden, sich entgegen den eigenen Wünschen nicht in das deutsche Umfeld zu integrieren, etwa nicht an Klassenfahrten, Schulfesten oder am Sportunterricht teilzunehmen? Die immer noch zu häufig vorkommenden Fälle der Zwangsverheiratung muslimischer Mädchen zeigen nur eine der schlimmsten Seiten einer solchen dem deutschen Recht widersprechenden Ausübung der elterlichen Sorge. Hauptschullehrer/-innen aus Schulen, in denen mehrheitlich Kinder von Ausländern unterrichtet werden, vermögen hier vielfach Zeugnis abzugeben.

Es gibt muslimische Mädchen, die den Weg zur selbstbestimmten Persönlichkeit suchen und selbst über ihre Religion und deren Demonstration in der Öffentlichkeit entscheiden wollen. Die Regelung der Religionsmündigkeit im deutschen Recht gestattet ihnen dies im Grundsatz im Alter von 12 bzw. 14 Jahren. Traditionale muslimische Elternhäuser und Mullahs erkennen diese Form der Religionsfreiheit nicht an, die Scharia verbietet und bestraft die Abkehr von der Religion. Den Mädchen würde damit die ihnen nach unserem Grundgesetz zustehende Religionsfreiheit verweigert. Zudem: Wie müssen sich Mädchen aus solchen Elternhäusern fühlen, die das Kopftuch verweigern oder künftig verweigern wollen, wenn sie von einer kopftuchtragenden Lehrerin unterrichtet werden? Wie reagieren die Familien? Werden die Mädchen nicht zu „schlechteren Musliminnen“ gestempelt? Werden nicht gerade Elternhäuser mit niedrigem Bildungsstand, die sich eine eigene Meinung in den Fragen ihrer Religion nicht leisten, durch kopftuchtragende Lehrerinnen darin bestärkt, ihren Töchtern solche „Unbotmäßigkeiten“ nicht durchgehen zu lassen? Ist es dann wirklich übertrieben, ein religiöses Zeichen aus öffentlichen Schulen zu verbannen, das – anders als Kreuz und Kipah heute – derart mit religiösem, politischen und familiären Zwang in Verbindung gebracht werden kann? Insbesondere wenn ein Verbot nur für die Lehrerinnen und nicht auch für die Schülerinnen gelten soll? Im Hinblick darauf, dass solche Mädchen in der ganzen Hilflosigkeit ihrer Adoleszenz im grundrechtlichen Betroffenheitsdreieck von Schulträger, Lehrerin und Schüler die weitaus schützenwerteste Gruppe bilden dürften, wundert es, dass die öffentliche Diskussion sich ihrer bei der Debatte um das Kopftuch nicht mehr erinnert.

Gute Bücher reizen zur Auseinandersetzung, so zum Glück auch dieses! Dementsprechend sind dem Buch viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Ihnen sei verheißen, dass Duktus und klare Sprache das Buch – ungeachtet des Ernstes seiner Themen – durchaus auch zu einem Lesevergnügen machen.

URN urn:nbn:de:0114-qn052010

Marion Eckertz-Höfer

Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig

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