Quod demonstrandum erat

Rezension von Alexandra Goy

Birgit Menzel, Helge Peters:

Sexuelle Gewalt.

Eine definitionstheoretische Untersuchung.

Konstanz: UVK 2003.

146 Seiten, ISBN 3–89669–737–4, € 24,00

Abstract: Ist sexuelle Gewalt definitorisch zu bestimmen? Und – hat sich in den vergangenen 25 Jahren das Verständnis von sexueller Gewalt gewandelt? Dieser Frage gehen die Autorinnen nach und kommen anhand einer Inhaltsanalyse von 650 Verfahrensakten zu dem Ergebnis, dass in den letzten Jahren eine Desensibilisierung gegenüber sexueller Gewalt stattgefunden hat. Die Annahme der Autorinnen, die richterlichen Definitionen von Gewalt seinen dem Verständnis von Gewalt ähnlich, das in der Bevölkerung vorherrscht, bleibt dagegen unausgewiesen.

Einige werden sich erinnern: Anfang der 90er Jahre machte der „Missbrauch des Missbrauchs“ Schlagzeilen in den Medien. Die Beraterinnen in den Beratungsstellen für sexuell missbrauchte Mädchen, die Anfang der 80er Jahre gegründet worden waren, gerieten unter Generalverdacht, sie suggerierten den Mädchen oft genug, sexuell missbraucht worden zu sein. Es handelte sich hierbei überwiegend um Frauen aus der autonomen Frauenbewegung, die seit Mitte der 70er Jahre die Enttabuisierung der sexuellen Gewalt an Frauen und Mädchen eingeleitet hatten. Katharina Rutschky, eine der profiliertesten Repräsentantinnen der Soziolog/-innen, die diesen Vorwurf erhoben, bewertete außerdem die patriarchatskritischen Thesen über sexuelle Gewalt (Brownmiller 1978) und die Annahme einer Sexualisierung der Aggression (Carol Hagemann-White 1984) als ungeheure Dramatisierung und Entgrenzung der Probleme. „Männer würden so unter Kuratel gestellt werden, wie im Islam die Frauen. Verhüllt und mit niedergeschlagenen Augen müssten sie ihren Ruf als anständige Menschen, als Nicht-Missbraucher täglich neu erweisen“. (S. 21) Lautmann sprach von Neoproblemen und Geschlechterpolarisierungstendenzen (vgl. S. 21).

Schon damals lagen wissenschaftliche Untersuchungen vor, aus denen sich ergab, dass die Reaktion der Justiz bei der Sanktionierung in Fällen der Vergewaltigung oder des sexuellen Missbrauchs sehr zurückhaltend war. Die Zahl der Verfahrenseinstellungen bei Sexualdelikten lag nicht unwesentlich über dem Durchschnitt aller anderen Straftaten. Die Anzahl der Verurteilungen war dagegen geringer als bei jedem anderen Delikt (Steinhilper 1986). Allerdings erhöhten sich die Strafanzeigen in den Jahren 1979 bis 1983 (vgl. S. 34).

Gegenstand des Untersuchungsinteresses von Birgit Menzel und Helge Peters ist die Frage, ob die befürchteten Entgrenzungs- und Polarisierungstendenzen in den gegenwärtig in der Bevölkerung verbreiteten Definitionen sexueller Gewalt, insbesondere der Wandel dieser Definitionen erkennbar ist. Also darum, ob heute mehr und andere Handlungen als sexuelle Gewalt verstanden werden. Dabei ging es ihnen nicht um die Definition sexueller Gewalt oder darum, wie und von wem sexuelle Gewalt definiert wird.

Aus Untersuchungen mit interviewten Frauen sei zwar bekannt, dass die Definitionen mit dem Geschlechtsrollenverständnis variieren. Traditionale Frauen bewerten sexuelle Bedrängungen von Freunden oder Bekannten weniger als Vergewaltigungen als Frauen mit egalitärem Geschlechtsrollenverständnis (Schweitzer Setje-Eilers 1992: 70 ff.). Diese Definitionen beschrieben aber den Wandel der Definitionen nicht, und sie seien dazu auch nicht geeignet.

Die Antwort auf ihre Fragen erwarten Menzel/Peters stattdessen von einer Inhaltsanalyse von Gerichtsurteilen. Ihre These ist, dass die Wahrscheinlichkeit, die Definitionen sexueller Gewalt durch die Strafjustiz differierten von denen der Bevölkerung, gering sei. Insgesamt analysierten sie 650 Verfahrensakten mit 577 Verurteilungen in der Zeit von 1979 bis Ende 1996 – also vor Inkrafttreten des 33. Strafrechtsänderungsgesetzes im August 1997, mit dem der Gewaltbegriff geändert wurde. Wegen der Härte der Sanktionen und der Definition von Gewalt in den Urteilsgründen beschränkten sie sich auf Strafurteile wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellen Missbrauchs, die mit einer Verurteilung endeten.

Das Ergebnis widerspricht den Erwartungen von Birgit Menzel und Helge Peters, verwundert aber die Rezensentin nicht. Wie sich aus der Analyse, aber auch bereits aus den Statistiken ergibt, ist die Häufigkeit der Strafanzeigen wegen Vergewaltigung in der Zeit von 1979 bis 1996 kontinuierlich gesunken. Es ist auch nicht erkennbar, dass sich der Geltungsbereich der Definition sexueller Gewalt ausgedehnt hätte. In den Jahren 1991 und 1996 wurde dasselbe Handeln relativ seltener als sexuelle Gewalt definiert als zwischen 1979 und 1984, und zwar im Verhältnis 1:2. Zudem wurden die Feststellungen von Udo Steinhilper (1986) bestätigt, dass sich die Definitionen sexueller Gewalt durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft von den richterlichen Definitionen unterscheiden und ein instanzieller Schrumpfungsprozess durch Umdefinition des Tatvorwurfs im Verlauf des justiziellen Verfahrens stattfindet. Dadurch verringert sich die Zahl der als sexuelle Gewaltdelikte bearbeiteten Fälle erheblich.

Die Annahme, die Untersuchungsergebnisse ließen sich auf die Wahrnehmung und Definition von Gewalt in der Bevölkerung übertragen – und zwar unabhängig von Alter, Schicht und Geschlecht – ist m. E. aber nicht überzeugend. Aus der Analyse von Urteilen, die Maria Henriette Abel für die Jahre 1973 bis 1985 durchgeführt hat, wissen wir zwar, dass die Urteilsbegründungen außerrechtliche Vorstellungen mit stereotypen Bildern über männliche und weibliche Sexualität enthalten und beispielsweise eine strafrechtlich relevante „Situationsverkennung“ seitens der Täter zu deren Gunsten rechtlich gewürdigt wird. Und richtig ist sicher auch, dass richterliche Devianzdefinitionen bei allgemeiner Kriminalität Ansichten und Bewertungen widerspiegeln, die in sozialen Mittelschichten verbreitet sind (Smaus 1986: 1992). Auch die Zweifel, dass die Legaldefinition der §§ 177 StGB die Entscheidung der Gerichte festlege, lassen sich nachvollziehen. Dies rechtfertigt aber noch nicht die Übertragung der richterlichen Definition von Gewalt auf die Bevölkerung ohne deren repräsentative Befragung.

Literatur

Abel, Maria Henriette (1988): Vergewaltigung. Stereotypen in der Rechtsprechung und empirische Befunde. Weinheim, Basel: Beltz.

Brownmiller, Susan (1978): Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft. Frankfurt /M.: Fischer.

Hagemann-White, Carol (1984): Sozialisation: Weiblich-männlich? Opladen: Leske + Budrich.

Lautmann, Rüdiger(1993): Die Sexualität wird wieder böse, und im Strafrecht liegt das Heil. In: Böllinger, Lorenz/Lautmann, Rüdiger (Hrsg.): Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Kriminalwissenschaftliche Essays zu Ehren von Herbert Jäger. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Rutschky, Katharina (1992): Erregte Aufklärung. Kindesmissbrauch: Fakten und Fiktionen. Hamburg: Klein.

Smaus, Gerlinda (1986): Versuch um eine materialistisch-interaktionistische Kriminologie. In: Kriminologisches Journal, 1. Beiheft.

Steinhilper, Udo (1986): Definitions- und Entscheidungsprozesse bei sexuell motivierten Gewaltdelikten. Eine empirische Untersuchung der Strafverfolgung bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Konstanz: Universitätsverlag.

Teubner, Ulrike/Becker, Ingrid/Steinhage, Rosemarie (1983): Untersuchung „Vergewaltigung als soziales Problem – Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen“. Schriftenreihe des Bundesministers für Jugend, Familie und Gesundheit, Band 141. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer.

URN urn:nbn:de:0114-qn052118

Alexandra Goy

Rechtsanwältin und Notarin

E-Mail: Alexandra.Goy@t-online.de

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