Sexuelle Gewalt – Juristische Definitionen und kulturelle Interpretationen

Rezension von Rita Schäfer

Christine Künzel (Hg.):

Unzucht – Notzucht – Vergewaltigung.

Definitionen und Deutungen sexueller Gewalt von der Aufklärung bis heute.

Frankfurt am Main: Campus 2003.

283 Seiten, ISBN 3–593–37291–6, € 34,90

Abstract: Die Relevanz des Diskurses über sexuelle Gewalt für die Gender-Konstruktion ist bislang nur unzureichend erforscht, obwohl die Rollenzuschreibungen für Frauen und Männer sowie das Alltagshandeln dadurch geprägt sind. Diese Forschungslücke will dieser Sammelband schließen.

Interdisziplinäre Perspektiven und zeitliche Vergleiche

In insgesamt zwölf Beiträgen analysieren Juristinnen, Historikerinnen, Politologinnen, Soziologinnen, Kultur- und Sprachwissenschaftlerinnen die juristischen Definitionen und kulturellen Deutungen von Vergewaltigungen in den letzten drei Jahrhunderten. Sie stellen Fallbeispiele aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vor, wobei der Schwerpunkt auf Deutschland im 20. Jahrhundert liegt. Ein zeitlicher Längsschnitt, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, zieht Zäsuren, illustriert aber vor allem Kontinuitäten im Strafrecht und in den Interpretationen von Vergewaltigungen. So werden Wechselwirkungen zwischen juristischen Vorgaben und kulturellen Deutungen aufgezeigt.

Die Wissenschaftlerinnen weisen nach, dass ein Paradigmenwechsel in den Strafgesetzen keineswegs eine sofortige Änderung der juristischen Urteile zur Folge hatte. Dies betrifft vor allem die bis heute verbreiteten Vorstellungen vieler Richter, dass Vergewaltigungen weniger die sexuelle Autonomie von Frauen angreifen als vielmehr die öffentliche Moral betreffen. So belegen die Soziologin Birgit Menzel und die Kriminologin Monika Frommel für das ausgehende 20. Jahrhundert in Deutschland, dass sexistische Stereotypen die Urteile von Richtern beeinflussen. Vergleichbare Zusammenhänge weist die Juristin Elisabeth Holzleithner für den österreichischen Strafrechtsdiskurs der 1970er bis 1990er Jahren nach. Dreh- und Angelpunkt der Rechtsprechung sei die Frage gewesen, inwieweit Frauen bei einem Angriff vehementen körperlichen Widerstand geleistet haben, nur dann könne von einem Gewaltakt ausgegangen werden. Viele Frauen seien aber vor Angst paralysiert und schlügen nicht zurück. Dies führe dazu, dass bei Prozessen die Täter entschuldigt werden und die Mitverantwortung für eine Vergewaltigung bei den Opfer gesucht werde.

Soziale Stellung des Täters

Wie sich der soziale Status des Täters einerseits und die persönliche Lebenssituation einer vergewaltigten Frau andererseits auf einen Strafgerichtsprozess und die Urteilsfindung auswirken, zeigen Christine Künzel und Claudia Töngi. Während die Kulturwissenschaftlerin Christine Künzel den sogenannten Berliner Gynäkologenprozess in den 1980er Jahren aufrollt, wertet die Historikerin Claudia Töngi über 480 Gerichtsakten im Schweizer Kanton Uri aus den Jahren 1803–1885 aus. Künzel verdeutlicht, dass die zwei Berliner Gynäkologen, die für die Vergewaltigung einer Kollegin zunächst verurteilt und dann freigesprochen wurden, sich auf ihren Status als anerkannte Ärzte berufen konnten. Claudia Töngi kann anhand ihres akribischen Aktenstudiums nachweisen, dass wohlhabende Männer ihre Macht gegenüber Mägden und rangniedrigen Mädchen ausnutzten und wegen ihrer sozialen Stellung dafür nicht zur Verantwortung gezogen wurden. Auf diese Weise bestätigten die Gerichte die Vorstellung, dass die Dienerschaft ehrlos und sündhaft sei.

Vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus

Den Bogen vom Kaiserreich über die Weimarer Republik bis zum Nationalsozialismus spannen Tanja Hommen und Brigitte Kerchner, beide Historikerinnen, sowie die Politologin Silke Schneider. Hommens Schlussfolgerungen über die Rechtlosigkeit von vergewaltigen Mägden und den Machtmissbrauch von Hofherren im ländlichen Bayern bestätigen die Ergebnisse aus dem Schweizer Kanton Uri, auch wenn Hommen eine andere Zeitspanne und eine andere Region behandelt. Hinzu kommt, dass viele sexuelle Gewaltübergriffe strafrechtlich nicht als „Notzucht“ galten, weil die Täter sie verharmlosen konnten und den jungen Frauen die Verantwortung für die Übergriffe zuwiesen.

Die kulturelle Kodierung von Gewalt prägte auch während der Weimarer Republik die Strafprozesse. Brigitte Kerchner rückt Gewalt gegen Jungen in den Betrachtungsmittelpunkt. 1924 wurden über 75 Fälle von Missbrauch durch den Leiter eines Berliner Landerziehungsheims verhandelt. Die Historikerin arbeitet heraus, wie zahlreiche Zeugenaussagen und psychologische Gutachten dazu beitrugen, den Schulleiter als verantwortungsvollen Pädagogen zu entlasten und den Jungen die bösartige Verleumdung einer anerkannten Autorität zu unterstellen. Die Vorwürfe der Jungen wurden als Knabenfantasien abgetan, so dass der Schulleiter schließlich freigesprochen wurde.

Auf die kulturelle und strafrechtliche Perzeption von sexueller Gewalt während der NS-Zeit konzentriert sich Silke Schneider. Sie illustriert, wie rassistische und antisemitische Stereotype und Feindbilder die Wahrnehmung von sexueller Gewalt und die Verurteilung von Straftätern beeinflussten. Vor allem Juden, Kriegsarbeiter und Kriegsgefangene wurden als bedrohliche Vergewaltiger und gefährliche Sittlichkeitsverbrecher etikettiert. Ausgangspunkt sei die Vorstellung vom Volkskörper gewesen, wobei die Besetzung des Rheinlands während des Ersten Weltkriegs mit einer Vergewaltigung gleichgesetzt worden sei.

Impulse für die Gender-Forschung

Insgesamt zeichnet sich das Buch durch eine detailgenaue Analyse von Fallbeispielen und umfangreiche Aktenstudien aus. Dennoch verlieren sich die Autorinnen nicht in der Fülle des Materials, sondern strukturieren ihre Beiträge überzeugend und anschaulich. Ausgehend von ihren empirischen Studien stellen sie Bezüge zu übergeordneten Diskussionszusammenhängen her. Der einleitende Aufsatz der Herausgeberin bildet eine theoretische und methodische Klammer. Deutlich wird, wie erkenntnisfördernd interdisziplinäre Forschungsperspektiven in der Geschlechterforschung sind, vor allem wenn sie länderübergreifend angelegt sind. Auch die Tatsache, dass sexuelle Gewalt hier nicht nur auf Frauen beschränkt wird, sondern auch Jungen und Männer als Opfer anerkannt werden, bestätigt, dass dieses Buch impulsgebend für weitere Publikationen sein kann.

URN urn:nbn:de:0114-qn052128

Dr. Rita Schäfer

Berlin

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