Genderidentitäten in Deutschland und der Türkei

Rezension von Karin Schweißgut

o.A.:

Geschlecht und Recht. Hak ve Cinsiyet.

Argumente zum deutsch-türkischen Dialog. Türk-Alman Diyaloğuna Katkılar.

Hamburg: Körber-Stiftung 2003.

398 Seiten, ISBN 3–89684–057–6, € 20,00

Abstract: Das Verhältnis der Geschlechter und insbesondere die Rolle der Frau stehen im Fokus der gegenseitigen Wahrnehmung von Deutschen und Türken. Der vorliegende Band der Körber-Stiftung diskutiert die vielfältigen Geschlechterrollen in Deutschland, der Türkei und unter türkischen Migrant/-innen hierzulande. Im Unterschied zu den zahlreichen Arbeiten, die sich mit der Situation türkischer Frauen auseinandersetzen, erörtert das Werk auch Konzepte von Männlichkeit.

Aufbau des Sammelbandes

Mit diesem 8. Band zum deutsch-türkischen Dialog legt die Körber-Stiftung nun eine weitere zweisprachige Dokumentation eines Symposiums vor. Drei einführenden Abhandlungen folgen Diskussionsbeiträge, die durch in „Kästen“ gesetzte grundlegende Informationen ergänzt werden. Ein „Serviceteil“ (S. 161–216) bietet zahlreiche nützliche Adressen zum Genderthema in Deutschland und der Türkei. Ein „Anhang“ stellt die Kurzbiographien der 36 Teilnehmer/-innen (vor allem Wissenschaftler/-innen und Politiker/-innen beider Länder) dar (S. 362–384). Die knapp gehaltene, sich auf Wesentliches beschränkende Literaturliste (S. 385–395) ist thematisch gegliedert. Sie nennt zentrale Werke zur feministischen Bewegung und zu Geschlechterrollen in Deutschland bzw. der Türkei, zur Gender-Thematik im Hinblick auf Migration, Politik und Religion. Weitere Themen sind der Islam in Bezug auf Frauen und die Männerforschung. Für deutsche Leser/-innen ohne Türkischkenntnisse wäre es hilfreich, wenn zumindest angemerkt wäre, dass genannte türkische Werke auch in deutscher bzw. englischer Übersetzung vorliegen, so beispielsweise das Werk Modern Mahrem der Soziologin Nilüfer Göle (S. 392).

„Grundlagenpapiere“: drei einführende Beiträge zur Diskussion (S. 11–49)

Die Situation der Geschlechter in Deutschland skizziert der Beitrag „Frauen und Männer: Die Genderdiskussion in Deutschland“ (S. 11–18) von Ulrike Herrmann, in dem die Autorin einen weiten Bogen von den Geschlechterrollen in der Werbung über die berufliche Situation von Frauen bis hin zu Männlichkeitsbildern und den Auswirkungen von politischen Maßnahmen auf das Geschlechterverhältnis spannt.

Der darauffolgende Beitrag befasst sich mit der Lage in der Türkei. Feride Acar und Ayşe Ayata versuchen in ihrem Beitrag „Gesellschaftliche Geschlechterrollen und die Dynamik ihrer Veränderungen“ (S. 19–33), wesentliche Aspekte im Geschlechterverhältnis zu beleuchten, so die Rolle der Bildung, der Migration und staatlicher Maßnahmen wie der Gesetzgebung. Die Verfasserinnen erörtern Haltungen und gesetzliche Erfolge der nach 1980 entstandenen feministischen Bewegung. Abschließend gehen sie auf die (mögliche) Rolle der Politik der Europäischen Union im Hinblick auf Veränderungen der Geschlechterverhältnisse ein. Obwohl beide Autorinnen ausgewiesene Expertinnen auf dem Gebiet der Frauenforschung sind, fällt ihr Beitrag nicht sehr gelungen aus. Sie reproduzieren Bilder der ungebildeten, an traditionellen Werten und Verhaltensweisen orientierten Frau der untersten Schichten und der emanzipierten Frau mit abgeschlossenem Hochschulstudium, die berufstätig ist. Diese Stereotypen sind meiner Meinung nach nicht haltbar und werden von beiden Autorinnen nicht kritisch genug hinterfragt. Des Weiteren halte ich die beiden angeführten Zitate (S. 27) – wobei das eine vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk stammt – in einem knappen Abriss über das Geschlechterverhältnis in der Türkei nicht für angebracht und überflüssig. Hier hätten wenige kommentierende Sätze ausgereicht, um die Haltung laizistischer Politiker in der Frühzeit der Türkischen Republik zu verdeutlichen. Statt dessen hätten die Verfasserinnen des Beitrags auf zentrale Konfliktpunkte in der türkischen Gesellschaft, in denen die Rolle der Frau im Mittelpunkt steht – wie die Auseinandersetzung zwischen laizistisch und islamisch orientierten Kräften – eingehen können. In diesem Zusammenhang ist es ärgerlich, dass die in der Türkei seit den 1980er Jahren heftig diskutierte Kopftuchfrage und ihr rechtlicher Hintergrund nicht einmal erwähnt werden.

Auf „Geschlechtsidentitäten (gender) unter türkischen Migranten und Migrantinnen in der Bundesrepublik“ (S. 34–47) geht der Beitrag von Yasemin Karakaşoğlu ein. Die Autorin erörtert anhand der Ergebnisse zahlreicher Studien die Familienstrukturen unter den in der Bundesrepublik lebenden Ausländer/-innen und verwehrt sich gegen klischeehafte Vorstellungen von der unterdrückten türkischen Frau. Interessant ist hierbei, wie Karakaşoğlu den höheren Stellenwert von Familie hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses herausarbeitet – eine Tatsache, die sich wohl auch für die Türkei und nicht nur für türkische Migrant/-innen in Deutschland zeigen ließe.

Genderidentitäten im deutsch-türkischen Dialog: Die Diskussion (S. 51–159)

In einem ersten Schwerpunkt der dokumentierten Diskussion, „Die Geschlechterrollen in der Türkei und in Deutschland zwischen Klischee und Realität“ (S. 55–87), kommt neben anderen Themen das neue türkische Zivilgesetzbuch, das seit dem 1. Januar 2002 in Kraft ist, zur Sprache. Im Zusammenhang damit wird die sehr kontrovers geführte Kopftuchdebatte aufgegriffen. Diese verdeutliche die vielfältigen Positionen und Meinungen in beiden Ländern. In einem zweite Schwerpunkt „Möglichkeiten und Grenzen der Politik“ (S. 88–116) werden Bestrebungen gegen Diskriminierung sowie die Maßnahme der Quotenregelung für Frauen erörtert. An der hier angeführten Diskussion um die Männerfrage beteiligt sich von türkischer Seite allerdings nur die bekannte Schriftstellerin und Journalistin Duygu Asena. Wünschenswert wäre, auch Meinungen und Positionen türkischer Wissenschaftler/-innen zu erfahren, da dieses Thema in der Türkei, soweit mir bekannt, bisher kaum wissenschaftlich behandelt wurde. In einem dritten Schwerpunkt unter dem Thema der „Migration“ (S. 117–133) werden die obigen Ausführungen Karakasoglus aufgegriffen und die Bedeutung der Familie auch in der Türkei diskutiert. Des Weiteren werden Fragen der Bildung unter Migrant/-innen und der Integration besprochen. Im letzten Schwerpunkt „Gemeinsame Strategien“ (S. 134–156) werden neben Beratungszentren, Förderprogrammen und Medienarbeit auch alternative Rollenangebote für männliche Migranten behandelt. Auch hier wird die Diskussion um Männerbilder vor allem von deutscher Seite geführt.

Fazit

Die Türk/-innen nehmen in der deutschen Gesellschaft häufig die Rolle des Anderen, des Fremden ein. Der vorgelegte Band der Körber-Stiftung bricht mit stereotypen Vorstellungen und zeigt vielfältige Ansichten auf türkischer und auf deutscher Seite auf. Für den türkischen Kontext ist vor allem der Blick auf eine Männerforschung von Interesse, und die geführte Diskussion könnte vielleicht auch den Anstoß geben, sich in der Türkei mit diesem Thema zu befassen. Der Band ist so angelegt, dass Menschen, die sich bisher mit Frauen- und Geschlechterforschung noch nicht auseinandergesetzt haben, in zentrale Kategorien wie Gender und Gender Mainstreaming eingeführt werden. Die Stärke des Buches liegt im Vergleich der Situation in Deutschland, der Türkei und der der türkischen Migrant/-innen in Deutschland. Es ist eine Diskussion miteinander und nicht über den/die Anderen.

URN urn:nbn:de:0114-qn052145

Karin Schweißgut M.A.

Berlin

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