Theresa Wobbe (Hg.):
Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne.
Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Bielefeld: transcript 2003.
312 Seiten, ISBN 3–89942–118–3, € 25,80
Abstract: Der Wandel von Wissenschaft und das Geschlechterverhältnis sind miteinander verzahnt. So lautet die Hauptthese, die diesem Sammelband zu Grunde liegt. Theresa Wobbes Einleitung bestimmt theoretisch die Komponenten eines ‚multidimensionalen Musters von Inklusion und Ungleichheit‘. Elf andere Beiträge illustrieren, welche Formen diese Verzahnung im Lauf von 300 Jahren in verschiedenen nationalen bzw. disziplinären Kontexten annimmt und welche konkreten Konsequenzen – für das Geschlechterverhältnis, für die Wissenschaft, für die Frauen in der Wissenschaft – sie mit sich bringt.
Ein dialektischer Dreischritt eröffnet diesen Sammelband. Schritt 1: Wer sich für die Wissenschaftsgeschichte interessiert, nimmt allzu oft nicht wahr, welche Rolle die Ge-schlechterdifferenz dabei spielt. Schritt 2: Wer sich auf die Differenzkategorie gender spezialisiert, verfehlt gern Wesentliches, wenn es um die Beschreibung intrikater akademischer Mechanismen geht. Schritt 3: Es muß auch anders gehen. Diesem Grundsatz hat sich der Berliner Arbeitskreis Frauen in Akademie und Wissenschaft und das daraus hervorgehende Forschungsvorhaben verschrieben. Als erste Frucht seiner Arbeit ist 2002 ein Band mit eben diesem Titel im Akademie Verlag Berlin erschienen. Untertitel: Arbeitsorte und Forschungspraktiken 1700–2000. Nun wird, in internationaler Besetzung, im Rahmen der sozialtheoretischen Reihe des Bielefelder Verlags [transcript] und – erneut – von Theresa Wobbe herausgegeben, ein weiterer Band publiziert: Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne. Beiträge zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in der Wissenschaft vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Sammelbände stehen und fallen mit der Qualität ihrer Beiträge. Und mit der Qualität ihres Konzepts. Dieser Band gliedert sich in drei große Abschnitte, von denen jeder unter eine eigene Doppelperspektive gestellt ist. Das Muster sieht folgendermaßen aus: einer historischen Phase des Geschlechtermodells westlicher Prägung wird eine für die entsprechende Epoche typische Form des wissenschaftlichen Arbeitens zur Seite gestellt, um Wechselwirkungen zwischen beiden sichtbar zu machen.
So widmet sich Teil eins dem „Ständisch-korporativem Konzept“. Übersetzt aus dem Soziologischen heißt das wohl, dass zwei kategoriale Trennungen für die Zeit vor 1800 nicht sinnvoll sind: die Trennung von gender und gesellschaftlicher Schicht und die Trennung von öffentlich und privat. Dementsprechend sind es auch Netzwerke – sowohl internationale als auch familiäre –, die hier als Struktur fokussiert werden.
Teil zwei steht unter dem Zeichen des „Differenzkonzepts“, also jenes Modells, für das Thomas Laqueur den Begriff two-sex-model geprägt hat und in dem die Kategorien ‚Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit‘ im 19. und frühen 20. Jahrhundert als einander aus-schließende Gegensätze bestimmt werden. Der Akzent liegt hier, vor dem historischen Moment der theoretischen Gleichstellung der Geschlechter, auf der „Familienökonomie in der modernen Wissenschaft“.
Nach diesem Paradigmenwechsel bildet die prinzipielle Gleichberechtigung den Hintergrund. Das Modell der Geschlechterordnung heißt im dritten Teil dementsprechend „Inklusionskonzept“. Beobachtet und befragt werden die Strukturdynamiken, die sich in der Wissenschaft ergeben, nachdem ihr offizielles Credo „Konvertierung von Leistung in Anerkennung“ – und zwar unabhängig vom Geschlecht der Wissenschaftlerin – lautet.
Theresa Wobbes Einleitung merkt man an, dass sie Ergebnis einer mehrjährigen und im kritischen Dialog gereiften Beschäftigung mit dem Thema ist. Wer nicht das ganze Buch lesen will oder kann, nehme sich auf jeden Fall Zeit für diese Einleitung. Souverän fächert Wobbe die Frage, in welcher Hinsicht der Geschlechtsbezug in der Wissenschaft sozial bedeutsam sei, theoretisch auf.
Sie zeigt, dass Zwischen Vorderbühne und Hinterbühne mehr als eine von Erving Goffmann abgeleitete schicke Titel-Trope ist. Historisch gesehen, war die Vorderbühne des Wissenschaftssystems lange Zeit den Männern vorbehalten, die Hinterbühne blieb der Bereich der Familie als „Funktionssystem für personale Kommunikation“ (S. 16) als Ressource. Auf der institutionellen Vorderbühne der Wissenschaft sind Frauen heute prinzipiell integriert, auf der konkreten Hinterbühne wird das Prinzip nur langsam umgesetzt, weil die Inklusionsbedingungen im akademischen Umfeld, trotz und entgegen ihrer universalistischen Norm, eben nicht geschlechtsneutral funktionieren, sondern eher Frauen als Männer benachteiligen. Die Frage, ob Geschlechterungleichheit heute als „instabiles Phänomen aufzufassen ist oder ob sie als soziale Grundstrukturierung fortbesteht“ (S. 13 f.) wird dahingehend beantwortet, dass die Ungleichheit, sobald sie gesellschaftlich nicht mehr abgesichert ist, die Vorderbühne räumt und sich andere, indirekte und informelle Mechanismen sucht, um sich zu reproduzieren. Von der systematischen Ebene verdrängt, weicht sie auf die Hinterbühne tatsächlicher Interaktion aus. Schlagwörter wie glass ceiling oder permanent unfaculty sind prägnanter Ausdruck der dort insistierenden Differenzsemantik.
In Karin Hausens Beitrag fehlt der konkrete Bezug auf den Wissenschaftskontext erstaunlicherweise völlig. Unweigerlich fragt man sich, was ein Essay über die Verschränkungen von Geschlechter- und Wirtschaftsordnung am Beispiel der Ausschlusses von Frauen aus der Fabrikarbeit in diesem Band verloren hat. Die Wissenschaft, dachten wir, wird durch ein anderes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium codiert als die Wirtschaft. Und das soll keine Konsequenzen haben? Ein Blick ans Ende des vorliegenden Bandes klärt darüber auf, dass Hausens Aufsatz schon 1993, in anderem Kontext, veröffentlicht wurde. Aha. Dabei wäre die Fokussierung auf Fabrikarbeit auch hier nicht unbedingt ein Problem gewesen, wenn in ein paar (neu hinzugefügten) Sätzen irgendeine Brücke zur akademischen Arbeit geschlagen, eine Parallele gezogen, ein wichtiger Unterschied festgemacht worden wäre. Aber Übertragungsleistungen bleiben vollständig der Leserin überlassen. Dabei hätte es sich sicher zu ergründen gelohnt, wie es kommt, dass das alte Spielchen (‚Mann‘ sagt ‚du kannst das viel besser als ich‘, anstatt ‚das interessiert mich nicht‘, damit ‚Frau‘ sich auch noch gerne um das als ‚uninteressant‘ Titulierte kümmert und dadurch nicht in Konkurrenz tritt, wenn es um das angeblich ‚Interessante‘, also das Lukrativere geht), im akademischen Kontext zur spektakulären Erfolgsstory ‚Frauenliteratur → feministische Literaturwissenschaft/Soziologie/etc. → gender theory‘ führen konnte.
Das Besondere an Lorraine Dastons Aufsatz über „Die wissenschaftliche Persona. Arbeit und Berufung“ ist erstens ihr angenehm zu lesender Stil und zweitens, dass sie literarische Texte und außerwissenschaftliche Aufzeichnungen einiger men of science mit einbezieht. Grundsätzlich geht es um Entwürfe des (männlichen) Wissenschaftlers zwischen Forscherdrang und Häuslichkeit im 19. Jahrhundert. Balthazar Claës, Victor Frankenstein, Tertius Lydgate und Casaubon illustrieren Fremdcharakterisierung von Wissenschaftlern durch Literat/-innen. Charles Darwins emotional unterfütterte, aber auch von Karriereinteresse geleitete Bestandsaufnahme im Schnipselformat – er listet Argumente ‚für und wider das Heiraten‘ auf – ist das amüsanteste der Beispiele für Selbstcharakterisierung von Naturwissenschaftlern. Die Mittelklassefamilie wird als Ressource für das produktive Geistesleben des Akademikers verhandelt, die strikt auf Abstand gehalten werden muss, um nicht unversehens zum Störfaktor zu mutieren. ‚Domestizierung der wissenschaftlichen Persona‘, ‚Wissenschaft als erlaubtes Schicksal‘, ‚inszenierte Geselligkeit‘ und ‚das Dilemma von Arbeit und Versunkenheit‘ sind die soundbites, die Dastons Blick auf die Wissenschaftler und ihr familiäres Umfeld – darunter vor allem die ‚Professorenfrauen‘ – am besten repräsentieren.
Annette Vogt präsentiert differenziert die Eintritts- und Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen an drei Forschungseinrichtungstypen (Akademie der Wissenschaften, Universität, außeruni-versitäre Einrichtungen) und diagnostiziert die rigideste Ausschließung für die deutschen Universitäten (vgl. S. 172). Ihr Hauptinteresse gilt der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zwischen 1912 und 1945, aber der internationale Vergleich mit den Akademien in London, Paris, Berlin und Petersburg weitet den Blick. Mit dem ambivalenten ‚Harnack-Prinzip‘ (S. 171), demzufolge die Aufstiegschancen von Frauen direkt von persönlichen Überzeugungen autonomer Direktoren abhängig waren, liefert sie ein griffiges Beschreibungsinstrument.
Wer einen auf persönliche Präferenz gegründeten Tip wünscht, bitte schön: Margaret W. Rossiter, „Der Matthäus Matilda-Effekt in der Wissenschaft“. Hier geht es um Modelle statt Einzelphänomene, um gezielte, strukturgebundene Mechanismen statt Fallstudien. Der sogenannte Matthew Effect (Robert K. Merton) bezeichnet eine Form der unverhältnis-mäßigen Anerkennung, „eine Art ‚Ausstrahlungseffekt‘, den bekannte Wissenschaftler erfahren, wenn ihnen Arbeiten zugeschrieben werden, für die sie nicht […] verantwortlich sind.“ (S. 191) Rossiter, die ihr Augenmerk auf „das Unterbieten, Ignorieren und Bagatellisieren der Präsenz von Frauen“ (S. 197), auf Techniken von Invisibilisierung in der Wissenschaft richtet, entwirft in Anlehnung daran/Abgrenzung davon den ‚Matilda-Effekt‘, der „die sexistische Dimension der systematischen Unterbewertung von Frauen“ (S. 204), die immer wieder versagte Anerkennung und Löschung ihrer wissenschaftlichen Leistungen benennt.
Bettina Heintz erweitert das Wissen über die systematische Benachteiligung der Frauen in der Wissenschaft um die Erkenntnis disziplinbedingter Unterschiede. Je weniger Konsens innerhalb einer Disziplin herrscht, je weniger eigene, aber allgemein anerkannte Verfahren ausgebildet werden, desto leichter affizierbar ist sie durch außerwissenschaftliche (z. B. sexistische) Kriterien. (vgl. S. 223) Der Fokus des wunderbar dicht argumentierenden Aufsatzes „Objektivität der Wissenschaft und Partikularität des Geschlechts“ liegt auf der epistemischen Dimension, auf dem Verfahren der Wissensbegründung und Leistungsbeurteilung. Heintz zeigt, dass die De-Institutionalisierung von Geschlechterdifferenz nicht gleichsetzbar ist mit dem Verschwinden von Hierarchisierungen, sondern dass sich dadurch lediglich die Mechanismen ändern, über die sie hergestellt werden. (vgl. S. 214)
Wie in den meisten Sammelbänden finden sich auch in diesem gewisse Schwachpunkte. Outrams Beitrag ist in jeder Hinsicht dünn, Fox liefert eine nur für Hardcore-Soziologinnen und Kreuztabellenfetischisten lesbare, staubtrockene Geschichte ab, Forgan schöpft das Potential ihres Themas – wegen oft oberflächlicher Argumentation und totalem Mangel an theoretischer Untermauerung – bei weitem nicht aus. Doch auf jeden Fall lohnt dieser Band die Lektüre.
In klaren Thesen demontiert Goldstein den Mythos, „daß die frühe moderne Wissenschaft als vermeintlich private Angelegenheit ein goldenes Zeitalter für die Beteiligung von Frauen gewesen sei“. „Die Wissenschaft war damals nicht häuslich, doch wenn so wenig Frauen in ihr zu finden waren, so lag dies nicht an ihrem öffentlichen Charakter.“ (beides S. 42) Ramirez kann mit profunder Recherche und einem klaren Ergebnis aufwarten. Er zeigt, dass Ungerechtigkeit vor dem Hintergrund prinzipieller Gleichheit sichtbarer und die Erwartung, dass das Prinzip auch praktisch umgesetzt wird, höher und damit leichter enttäuschbar ist. Allmendinger illustriert nicht nur den Zusammenhang von Formalisierung und Segregation, sondern versorgt den Band durch ihren Blick auf die Hochschulreform vor allem mit einem aktuellen und politisch relevanten Zeitbezug.
URN urn:nbn:de:0114-qn052184
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