Sexualität(en) bedenken

Rezension von Bettina Wilke

Andreas Kraß (Hg.):

Queer Denken.

Gegen die Ordnung der Sexualität.

Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

357 Seiten, ISBN 3–518–12248–7, € 14,00

Abstract: Queer Denken ist ein Sammelband mit hier erstmals übersetzten Aufsätzen aus dem Kontext der Queer Theory. Diese ist in den USA eine der produktivsten Forschungsrichtungen. Dort ist sie auch – weniger als Disziplin als vielmehr als Denkbewegung oder Frageperspektive – weit besser ins akademische Feld integriert als in deutschsprachigen Ländern. Hierzulande fehlt der Queer Theory nach wie vor eine breite Rezeption, weshalb der Band Queer Denken auch eine der bedeutendsten Publikationen des letzten Jahres ist. Das Buch selbst lässt einige Themen queeren Denkens unterbelichtet, aber das ist kein Weltuntergang. Denn allein der Vorzug, eine Anzahl wirklich wichtiger Texte nun auch auf Deutsch lesen und dadurch leichter rezipieren zu können, macht das Buch für interessierte Studierende und Dozierende zu einer wertvollen Anschaffung.

Queer

Der Ausdruck „queer“ bedeutet eigentlich so viel wie „verquer“, wurde aber in der Vergangenheit als abschätzig diffamierende und diskriminierende Bezeichnung für Lesben und Schwule gebraucht. Als positive Selbstbezeichnung schwuler und lesbischer politischer Aktivist/-innen wird „queer“ seit 1990 benutzt. Die Bezeichnung für die wissenschaftliche Ausrichtung – Queer Theory – ist kurz darauf, im Jahr 1991, entstanden. „Queer“ wendet sich gegen das Diktat der Heterosexualität und gegen den gesellschaftlichen Zwang, entweder eindeutig eine Frau oder eindeutig ein Mann sein zu müssen. Dieser Zwang wird als kulturell geschneidertes Korsett angesehen. Deshalb ist es das Ziel der Queer Theory, durch strategische Verunsicherungen und Infragestellungen der vermeintlichen Unhintergehbarkeit „natürlicher“ heterosexueller Sexualität und „natürlichen“ Geschlechts eine Verflüssigung und Pluralisierung dieser starren Kategorien zu erreichen.

Heterosexualität und Homosexualität

Ein Buch als gelungen zu bezeichnen oder nicht, als interessant oder überflüssig, seinem Gegenstand angemessen oder doch am Ziel vorbeischießend – diese Entscheidung ist ohnehin schon eine knifflige Angelegenheit, die in erster Linie stark im Zusammenhang mit den spezifischen Dispositionen der Leser/-innenschaft steht. Für Queer Denken gilt das allerdings in besonderer Weise, denn für ein Thema wie „Queer“, das ja bekanntlich nicht nur akademisch-disziplinenübergreifend, sondern auch gesellschaftspolitisch-aktionistisch eine Rolle spielt, ist auch die potenzielle Leser/-innenschaft schwer zu identifizieren. Andreas Kraß hat eine Wahl getroffen: Er legt den Fokus seines Sammelbandes auf die Geschichts- und Literaturwissenschaften. Und er hat schon vorsortiert: Dieses Buch handelt nahezu ausschließlich von Homosexualität, zum Großteil von männlicher Homosexualität. Andere, für die Queer Theory nicht weniger wichtige Kategorien bzw. Themen wie Transsexualität, Intersexualität, Drag, Sadomasochismus oder auch parodistische/identitäre Reformulierungen wie beispielsweise lesbische butch/femme-Inszenierungen werden bestenfalls erwähnt, wofür vor allem die theoretischen Basistexte des ersten Teils des Buches sorgen. Diese Grundlagentexte sind in der Tat exzellent ausgewählt, zudem erscheinen sie hier – bis auf „Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität“ (Judith Butler; S. 144–168) – zum ersten Mal in deutschsprachiger Übersetzung. Das ist bemerkenswert, denn sie stammen alle aus dem in den USA schon 1993 von Henry Abelove und anderen herausgegebenen gigantischen Lesbian and Gay Studies Reader: eine zeitliche Verspätung von zehn Jahren ist symptomatisch für die Queer Theory in deutschsprachigen Ländern. Dies ist der Grund, weshalb Queer Denken trotzdem eine wichtige Erscheinung ist. Denn die zentrale Problematik der Essays dieses Buches – die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung nicht-heterosexueller Beziehungsmuster – ist auch in Deutschland hochaktuell, was unter vielen anderen Beispielen die hierzulande durchaus in homophobem Gestus diskutierte Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften zeigt: „Das Gesetz, das im August 2001 in Kraft trat, wird insbesondere von den rechten politischen Parteien und der Deutschen Bischofskonferenz vehement abgelehnt“ (S. 8).

Blickwinkel auf Sexualität

Dass etwas wie Sexualität in der Tat politisch ist, gerade weil Sexualität institutionalisiert ist und diese Institutionalisierung ganz eigene Formen der Diskriminierung und Ungerechtigkeit hervorbringt, zeigt Gayle S. Rubin in ihrem Text „Sex denken“ (S. 31–79). Dabei identifiziert sie ideologische Formationen, die für das Konzept von Sexualität in westlichen Gesellschaften grundlegend sind und sich hartnäckig in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Allen voran der beharrliche Grundsatz des sexuellen Essenzialismus: Insofern Sex als natürliche, vordiskursive Triebkraft gedacht wird, die jeder sozialen Existenz vorausgeht, erscheint Sexualität als unveränderbar und überhistorisch. Gestützt und reproduziert wird diese Alltagswahrheit von christlichen, medizinischen und psychologischen Diskursen über Sexualität, die letztlich das festschreiben, was als normal und gesund gilt: die heterosexuelle, eheliche, monogame, fruchtbare und nicht-käufliche Sexualität.

Diese Pseudonormalität kann nun durch die Historisierung der Konzepte von Homo- und Heterosexualität infrage gestellt werden. Schon Michel Foucault hat den großen Paradigmenwechsel der Konzeptualisierung von Homosexualität, anders ausgedrückt: deren Erfindung aufgezeigt: War der vormoderne Sodomit noch ein lasterhafter Gestrauchelter, ist der moderne Homosexuelle eine pathologische Spezies. David M. Halperin verfeinert in seinem Essay „Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität“ (S. 171–220) diese historische Perspektive, indem er fünf unterschiedliche „prähomosexuelle Kategorien männlicher sexueller und geschlechtlicher Devianz“ (S. 180) rekonstruiert: die Effemination, die Päderastie, die intime Freundschaft, die Inversion und schließlich die Homosexualität. So ist es tatsächlich historisch sinnvoll, zwischen dem aktiven Sodomisten und dem passiven Invertierten zu differenzieren, denn während der „aktiv“ Penetrierende nur unmoralisch und pervers handelt, weil er zur Ausführung seiner sexuellen Praktiken „das falsche Geschlecht“ wählt, leidet der „passiv“ penetriert Werdende an einer pathologischen Perversion, ist also krank.

Eine weitere Wende nahm die Kategorie Homosexualität in den 1970er Jahren: Nach den Ausschreitungen in der Christopher Street im Juni 1969 betreten fernab von pathologisierenden und naturalisierenden Argumentationen „die Lesbe“ und „der Schwule“ als politische Identitätskategorien die gesellschaftliche Bühne. Dass auch diese – wie alle anderen – Kategorien notwendig instabil sind, zeigt Judith Butler in ihrem oben schon erwähnten Text. Dabei spitzt sie vor allem eine der momentan wichtigsten Fragen der Queer Theory zu: Wie kann politische Handlungsfähigkeit bewahrt werden, ohne Identitäten festzuklopfen? Dabei geht es Butler nicht darum, Identitäten abzuschaffen, denn „das heißt nicht, daß ich bei politischen Ereignissen nicht unter dem Identitätszeichen ‚Lesbe‘ auftreten will, sondern daß ich eine dauerhafte Unklarheit darüber schaffen möchte, was genau es bezeichnet“ (S. 145). Butlers Strategie, die subversive Aneignung und Umdeutung der auf Wiederholung angewiesenen und gerade deshalb instabilen Akte der Geschlechtsidentität – Resignifizierung also – zielt darauf, das unaufhörliche performative Treiben der Zwangsheterosexualität empfindlich zu stören.

Queere Verkürzungen

Diese und die anderen Essays des ersten und zweiten Teils des Buches sind zwar wie schon kritisiert homosexualitätslastig verglichen mit dem an sich höheren Potenzial der Queer Theory, aber insgesamt wichtig und für die Theoriebildung sogar unabdingbar. Allerdings kann der dritte Komplex des Buches hier kaum mithalten. Die Aufsätze im Kontext des „Queer Reading“ sind gegenüber den anderen Perspektiven stark disziplinär gebunden. Für Literaturwissenschaftler/-innen oder Mediävist/-innen können sie interessant sein, weil sie auch hier neue Blickwinkel eröffnen. Dennoch laufen sie gerade als Abschluss des Buches Gefahr, dass Queer Theory als textuelles bzw. hauptsächlich diskursanalytisches Projekt erscheint: im wahrsten Sinne des Wortes also ‚queeres Denken‘ repräsentiert. Das ist sicherlich ein unzureichendes Bild, denn queere Sichtweisen werden momentan auch in den Sozialwissenschaften und vor allem in der empirischen Sozialforschung stark rezipiert. Hier werfen sie neue methodologische Fragen auf, deren mögliche Ergebnisse noch längst nicht klar umrissen sind.

Um nun nochmals auf das Problem der Leser/-innenschaft zurückzukommen: Der Großteil der in Queer Denken veröffentlichten Essays setzt Vorwissen und die Kenntnis von ‚Fachvokabular‘ unbedingt voraus. Obwohl es angesichts der Diskriminierungsthematik höchst wünschenswert wäre, wenn solche Grundlagentexte einer breiteren, nicht-akademischen Öffentlichkeit zugänglich wären, verstecken sich viele der Autor/-innen hinter komplizierten und elitär anmutenden Formulierungen. Ich denke hier allen voran an Teresa de Lauretis’ „Sexuelle Indifferenz und lesbische Repräsentation“ (S. 80–112) und auch an die wegen ihres Schreibstils schon häufig kritisierte Judith Butler. Dieses Problem wird der Suhrkamp-Verlag nicht lösen können, doch der Herausgeber Andreas Kraß selbst hat es erfolgreich in Angriff genommen: Sein einleitender Text „Queer Studies – eine Einführung“ (S. 7–29) ist ein Musterbeispiel für Übersichtlichkeit und verständliche Informativität, den ich allen Einsteiger/-innen ans Herz legen möchte.

URN urn:nbn:de:0114-qn052220

Bettina Wilke

Freiburg

E-Mail: bettymail@gmx.net

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