Verschwiegene Beziehungen

Rezension von Monika Ehlers

Dagmar von Hoff:

Familiengeheimnisse.

Inzest in Literatur und Film der Gegenwart.

Köln: Böhlau 2003.

444 Seiten, ISBN 3–412–09803–5, € 34,90

Abstract: Dagmar von Hoffs Studie spannt den Bogen vom ethnologischen Tabubegriff über literatur-historische Wandlungen der Inzestthematik und ihrer mythischen Dimensionen bis hin zum Inzest als traumatischer Erfahrung. Inzest wird hierbei als Schwellenerfahrung verstanden, die an die Grenzen des Sagbaren führt und somit literarische Texte wie filmische Umsetzungen in ihren Darstellungsstrategien herausfordert.

Zonen des Übergangs

Inzest verbindet sich, zumal im heutigen Mediendiskurs, vor allem mit der Vorstellung von sexuellem Missbrauch. Doch ist der Inzestthematik, wie Dagmar von Hoffs Studie zeigt, eine weitaus größere Ambivalenz eigen. Sie kann ebenso Zeichen für Dekadenz wie für Utopie sein, Grausamkeit wie Liebesrausch implizieren. Damit nimmt die Autorin kritisch zu einer Behandlung von Inzest als bloßem Motiv Stellung und plädiert für einen pluralen Inzestbegriff, der gewalttätige wie ironische Aspekte berücksichtigt und insbesondere die Verbindung von Inzestthematik und Nationalsozialismus in der deutschsprachigen Literatur einer Reflexion unterzieht. Inzest als Tabu stelle zudem eine Reflexionsfigur des Erzählens selbst dar, indem eine Sprache für das Unsagbare kreiert werde. Im Rückgriff auf ethnologische und psychoanalytische Diskurse (Malinowski, Lévi-Strauss, Freud) analysiert Dagmar von Hoff zunächst das Tabu als ambivalenten Begriff, der das Heilige wie das Unreine bezeichnet und somit eine Schwelle markiert, die kulturelle Ordnung überhaupt erst etabliert. Die Thematisierung des Tabus produziere daher bei allen drei Autoren eine labyrinthische Sprachverwirrung. An die Stelle eines gesicherten Wissens trete die literarische Narrativität, die die Lücke im Wissen umschreibe.

Vom Rätsel zur Blutschande

Auch wenn die Inzestthematik in allen kulturellen Kontexten und zu allen Zeiten Gegenstand der Literatur war, handelt es sich keineswegs um eine anthropologische Konstante. Drei poetologische Konstellationen arbeitet die Autorin anhand zahlreicher Beispiele heraus. So ist im englischen Renaissance-Drama, das am Beispiel von Shakespeares Pericles diskutiert wird, der Inzest an die Figur des Rätsels gebunden. Dem despotischen Vater Antiochus, der ein inzestuöses Verhältnis zur Tochter unterhält, steht Perikles gegenüber, an den sich das Rätsel richtet. Die Figur des Perikles repräsentiert, so die These der Autorin, ein ödipales Familienmodell, in dem die Affekte kontrolliert und sublimiert werden. Der Eindeutigkeit des Rätsels und seiner Lösung stehe ein Kommunikationsmodell gegenüber, das den Mangel bewahre und Deutungsspielräume offenhalte.

Um 1800 steht dagegen die Ausdifferenzierung der familialen Beziehungen im Vordergrund. Inzest wird nun zum Unheimlichen innerhalb der Familie selbst. Es geht um die Intensivierung und Differenzierung familialer Beziehungen. Die Thematisierung des Inzests reicht dabei von der unbewussten Grenzüberschreitung über die ironische Brechung familialer Konstellationen bis hin zur Auflösung und Entleerung der Inzestthematik. So gehe in Tiecks „Der blonde Eckbert“ mit der Aufdeckung des Inzests eine Auflösung von Personenkonstellationen und Sprachstrukturen einher, während es in Kleists Marquise von O… der Blick der Mutter sei, der den Inzest überhaupt erst konstitutiert. Kleist vollzieht damit, so Dagmar von Hoffs These, auch eine ironische Zersetzung klischeehafter Inzestbilder. Die Gothic Novel dagegen inszeniere einen destruktiven Determinismus, der den Leser, die Leserin in einen Taumel jenseits der ordnenden Vernunft hineinziehe. Bei de Sade komme es schließlich zur Abschaffung der familialen Ordnungen. In der automatisierten Schreibweise der Libertinage entleere sich aber auch die Inzestthematik.

Um 1900 schließlich wird der Inzestbegriff erneut umgeschrieben. Als entscheidenden Bruch arbeitet Dagmar von Hoff die Verschränkung von Inzestthematik und Rassediskursen heraus. Blutschande meine nun nicht mehr den Inzest innerhalb der Familie, sondern Geschlechtsverkehr mit dem sogenannten „rassisch“ Anderen. Zugleich avanciere der Geschwisterinzest im Kontext der Dédadence zum Topos einer narzisstischen, morbiden Gegenwelt. Als paradigmatisch für eine Verbindung von Inzestthematik und Rassediskurs analysiert Dagmar von Hoff Artur Dinters Roman Die Sünde wider das Blut. Dinter benutzt, wie die Autorin zeigt, gängige Schreibweisen der Inzestthematik, um sie mit antisemitischer Propaganda aufzuladen. In Hermann Ungars Roman Die Verstümmelten komme dagegen ein kritischer Impuls zum Tragen, denn es seien die jüdischen Helden, die verstümmelt und ermordet werden. Das Motiv des Geschwister-Inzests werde in diesem Roman an eine Deterritorialisierung der Sprache gekoppelt. In der deutschsprachigen Literatur nach 1945 erhalte jedoch auch der Geschwisterinzest eine neue Konnotation. So lasse sich an Thomas Bernhards Vor dem Ruhestand die Funktion des Geschwisterinzests als Bollwerk gegen das Fremde und gegen historische Verantwortlichkeit ablesen.

Weltwanken

Inzest verbindet sich in Literatur und Film mit Bildern von Sonnen- und Mondfinsternis, von Verdunklung und Tod. Insofern hierbei ein Außerkraftsetzen der Ordnung inszeniert wird, verweisen diese Bilder, wie die Analysen der Autorin zeigen, auf die mythische Dimension des Inzests. Denn die Finsternis bedeute weniger eine Abwesenheit von Licht als vielmehr eine Art Urzustand des Begehrens. Jeder Anfang hat, wie Dagmar von Hoff im Anschluss an Rüdiger Safranski formuliert, zwangsläufig einen inzestuösen Charakter. Künstlerische Darstellungen thematisieren den Schrecken dieses „Infernos aus Gewalt und Blutschande“ (S. 169) und stellen zugleich einen Abstand zum verschlingenden Abgrund her. Der Aufnahme mythischer Bildwelten geht die Autorin anhand pointierter Einzelanalysen nach. Sie reicht von der Fremdheit des Dschungels in Max Frischs Homo Faber bis zur Entmythisierung von Mondgestalten bei Robert Musil. Celans Bild der „schwarzen Milch“ stehe dagegen im Zeichen der endlosen Marter der Verfolgung und der Unmöglichkeit des Sprechens über das Trauma. Auch das Bild der Insekten wird, so Dagmar von Hoff, in vielfältiger Weise mit der Inzesterfahrung verbunden. So analogisiere Antonia Byatt in Morpho Eugenia Metaphern von Insekten und Menschen, um Vorstellungswelten und Genderkonstruktionen des viktorianischen Zeitalters in Frage zu stellen. In Freuds Krankengeschichte vom „Wolfsmann“ dagegen stelle die Angst vor einem Schmetterling den Schlüssel zum Fall dar. Doch dieser erweise sich als trügerisch, verliere sich die Krankengeschichte doch in einem Geflecht inzestuöser Szenen. Freud konstruiert damit, wie die Autorin zeigt, einen Mythos des Subjekts, der eng an die Vorstellung des Inzests gebunden ist und eine widerständige Grenze in der Geschichte des Subjekts anzeigt.

Traumatische Dimensionen

Ist für Freuds Konzeptualisierung des Inzests gerade das Schwanken zwischen Realität und Phantasie kennzeichnend, so zeigt Dagmar von Hoff, dass in neueren Traumamodellen, insbesondere aber im sogenannten victim talk, eine Umdeutung des Traumas stattfindet. Das Trauma wird nunmehr an kulturelle und technische Medien des Gedächtnisses geknüpft und erscheint als rekonstruierbar und darstellbar. Dabei folge der Opferdiskurs häufig einer seltsamen Stereotypie und blende gesellschaftliche Dimensionen weitestgehend aus. Lediglich afro-amerikanische Autorinnen wie Toni Morrison oder Alice Walker reflektierten sexuelle Gewalt in einem sozio-kulturellen Kontext. In Christiane Rocheforts Die Tür dahinter und Jeanette Wintersons Kunst und Lügen werde die Undarstellbarkeit des Traumas dagegen durch die Verweigerung einer kathartischen Entwicklungsgeschichte bewahrt. Inzest stelle aber auch das Medium Film vor besondere Herausforderungen. Wie auch in ihren literarischen Analysen legt die Autorin den Schwerpunkt auf die Reflexion der Grenze innerhalb des Visuellen und führt Thomas Vinterbergs Festen, Tim Roths War Zone sowie Carax’ Pola X und Murnaus Tabu als gelungene Umsetzungen an.

Auch die Täterperspektive wird an zahlreichen literarischen Beispielen untersucht. Dabei liegt die Grausamkeit der Täter, wie Dagmar von Hoff am Beispiel von Frischs Homo Faber und Nabokovs Lolita zeigt, vor allem in der Verweigerung der Einsicht in das eigenen Tun. Literatur kann jedoch auch zum Ort der Uneindeutigkeit von Täter und Opfer werden. So werde der Leser, die Leserin in Thomas Bernhards An der Baumgrenze in die Aufklärung eines Inzests hineingezogen, die nirgendwo endet. Den Inzest entlarven zu wollen, heiße hier, ihn erneut zu verrätseln. Auch Elfriede Jelinek habe in der Klavierspielerin ein inzestuöses Mutter-Tochter-Verhältnis dargestellt, doch parodiere sie in der Lesart der Autorin den psychoanalytischen Diskurs, indem sie die Rollen von Tochter und Mutter vertausche. Im posttraumatischen Theater Sarah Kanes schließlich werde der Geschwisterinzest zu einem Symbol menschlichen Lebens inmitten einer als traumatischer inszenierten Welt.

Dagmar von Hoffs Studie überzeugt vor allem durch die Fülle des untersuchten Materials und die Pointiertheit der Einzelanalysen, durch die es der Autorin gelingt, trotz des weitgespannten Bogens die Inzestthematik zu kontextualisieren und die jeweils spezifischen Bildwelten dieser Grenzerfahrung zu analysieren. Mit dem Insistieren auf der Undarstellbarkeit des Inzests plädiert Dagmar von Hoff für die Literatur als Ort einer produktiven Darstellung existentieller, menschlicher Konflikte.

URN urn:nbn:de:0114-qn052276

Monika Ehlers

LB am Institut für Germanistik II, Universität Hamburg

E-Mail: monikaehlers@tiscali.de

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