Marianne Henn, Holger A. Pausch (Hg.):
Body Dialectics in the Age of Goethe.
Amsterdam, New York, NY: Rodopi 2003.
437 Seiten, ISBN 90–420–1076–2, € 95,00
Abstract: Der vorliegende Band versammelt 18 Beiträge zu Körperkonstrukten im Modediskurs des ausgehenden 18. Jahrhunderts sowie in Werken von Goethe, Heinrich von Kleist, Schiller, La Roche, Gersdorf, E.T.A. Hoffmann, Heine, Henriette Herz und Winckelmann. Die Beiträge kommen u. a. zu dem Ergebnis, dass Körperfeindlichkeit als zentrales Merkmal der Aufklärung hergestellt wurde. Sie diente sowohl als Mechanismus der (Selbst-)Kontrolle des Individuums als auch als Werkzeug zur Erzeugung defizitärer Individuen, die durch kompensierenden Konsum dem Frühkapitalismus der Aufklärungszeit die Existenz sicherten.
Marianne Henn und Holger A. Pausch gehen von der Beobachtung aus, dass in der Frühen Neuzeit der Anthropozentrismus Descartes’ zu einer tiefen Isolierung von und Verachtung für Natur und Körper führte. So konnte der Körper in einem Zeitalter des beginnenden Kapitalismus und einer beginnenden Verbürgerlichung der Gesellschaft neu kodiert werden. In den deutschsprachigen Gebieten geschah dies, so die Herausgeber, im Zeitalter Goethes. Ein Hauptwerkzeug der Rekodierung war die Literatur, die den narrativen Raum bereitstellte, in dem neue diskursive Netzwerke gewebt werden konnten (vgl. S. 20).
Die achtzehn in dem Band versammelten Beiträge fallen grob in zwei Kategorien: Die ersten beiden Aufsätze beschäftigen sich mit dem Thema Mode: Dan Purdy zeigt in seinem Beitrag „Sculptured Soldiers and the Beauty of Discipline: Herder, Foucault and Masculinity“, wie um 1800 der männliche soldatische Körper in der preußischen Uniform einer doppelten Kontrolle durch militärische Disziplin und den Modediskurs unterworfen war – diese Unterwerfung war letztlich so stark, dass ein Soldat – wie das Journal des Luxus und der Moden berichtete – von seiner zu engen Uniform ‚erdrosselt‘ wurde.
Karin A. Wurst weist anhand von Bertuchs Journal des Luxus und der Moden nach, dass im Gegensatz zum ästhetischen Diskurs der Klassik, der die Künstlichkeit ästhetischer Effekte zu verhüllen trachtet, der Modediskurs die Maßnahmen thematisiert, die zur Herstellung des schönen Körpers und seines Selbst angewendet werden können.
Diese beiden Beiträge werden ergänzt durch exemplarische Untersuchungen zu einzelnen Autorinnen und Autoren. Den größten Raum nimmt dabei – wenig verwunderlich, da das Zeitalter Goethes zur Debatte steht, – Goethe selbst ein, daneben Heinrich von Kleist:
Karin Barton untersucht „Goethes Bienenlehre als Schlüssel zu Wilhelm Meisters Wanderjahren“ (S. 117–167), und Alexander Mathäs zeigt, dass in Goethes Götz von Berlichingen die kolonialistische Sichtweise auf ‚das Andere‘ unterwandert wird (S. 269–291). K.F. Hilliard stellt im Vergleich der frühen Lyrik Goethes mit Brockes’ Lyrik fest, dass Goethe den Atem im Gedicht befreit, indem er ihn einer „Diätetik des lebenssteigernden Überschwangs“ (S. 307) gemäß so temperiert, dass der Eindruck entsteht, der fühlende Körper selbst drücke sich im Versmaß der Lyrik aus. Heather Merle Benbow wiederum beurteilt die Figur der Ottilie aus den Wahlverwandtschaften als Goethes Problematisierung des aufklärerischen Weiblichkeitsideals. Dieses Weiblichkeitsideal forderte, so Benbow, eine scharfe (Selbst-)Kontrolle weiblicher Oralität. Ottilie, die kaum spricht, nicht isst und sexuelle Aktivität ablehnt, treibt dieses Muster auf die Spitze, bis sie schließlich daran zu Grunde geht – eine der ersten Anorektikerinnen der deutschen Literaturgeschichte (S. 315–331).
Hans-Günther Schwarz sieht im West-östlichen Diwan den französischen Symbolismus vorweggenommen (S. 333–346).
Zu Kleist finden sich vier Aufsätze. Elisabeth Krimmer untersucht „Die allmähliche Verfertigung des Geschlechts beim Anziehen“ anhand des Dramas Die Familie Schroffenstein (S. 347–363). Matthew Pollard vergleicht das Verhältnis zwischen Körpern und Architekturmetaphern in der Penthesilea, und kommt zum Schluss, Kleist stelle in der Auseinandersetzung zwischen Achilles und Penthesilea die Körper der Liebenden als Konstrukte dar, Orte der Dislokation, Fragmentarisierung und Einschreibung (S. 365–391). Die archetypischen Repräsentationen des Körpers bei Kleist, Büchner und Grillparzer sind Thema des Beitrags von William C. Reeve (S. 393–407). Den Einfluss la Mettries auf Schillers Theorie der Grazie in Anmut und Würde, Kleists Über das Marionettentheater und Hoffmanns Der Sandmann untersucht Jane V. Curran (S. 409–420).
Der Sandmann ist auch Gegenstand des Aufsatzes von Stefani Engelstein, in dem sie die Erzählung ins Verhältnis zu zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Publikationen zur Frage von Reproduktion und Regeneration setzt (169–193).
Weitere Aufsätze beschäftigen sich mit den (Selbst-)Repräsentationen und Portraits der Henriette Herz als ‚schöne Jüdin‘ (Marjanne E. Goozé, S. 67–95), der Genealogie der Körperfeindlichkeit in der Aufklärung (Holger A. Pausch, S. 97–115), dem vampirischen Körper in der Lyrik Heinrich Heines (Sophie Boyer, S. 195–209), Wilhelmine von Gersdorfs Drama Die Horatier und die Curiatier (Gaby Pailer, S. 211–231), Winckelmanns Einfluss auf Joseph Bernard Pelzels Das Gerächte Troja (Daniel J. Kramer, S. 233–251) und „Körperlichkeit und Sexualität in Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim“ (Andrea Heitmann, S. 253–267).
Marianne Henn und Holger A. Pausch haben damit eine recht umfangreiche Sammlung vorgelegt, deren einzelne Beiträge allesamt überzeugen. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von Gaby Pailer und Holger Pausch.
Gaby Pailer ist es gelungen, mit Die Horatier und die Curiatier ein bisher verschollenes Werk Wilhelmine von Gersdorfs wieder aufzuspüren. Als Beigabe zum vorliegenden Band hat man es im Anhang abgedruckt. Dies wird für alle an der Literatur von Autorinnen des 18. Jahrhunderts Interessierten eine besonders erfreuliche Nachricht darstellen.
Holger A. Pauschs Überlegungen zur „Genealogie der Körperfeindlichkeit“ bilden den Dreh- und Angelpunkt der Sammlung. Pausch fragt, worin die „performativen Akte der Körperfeindlichkeit“ (S. 103) bestehen und unter welchen historischen Bedingungen sie sich entwickeln konnten. Wesentlich für die historischen Bedingungen ist seiner Ansicht nach die Entstehung des Frühkapitalismus, der eines konsumfähigen Körpers bedurfte – stoisch-barocke Selbstbeschränkung beispielsweise hätte dem Konsum im Wege gestanden. Dessen – so Pauschs These – waren sich die Theoretiker der Aufklärung bewusst und standen nun vor der Aufgabe, den Körper so zu kodieren, dass seine „Konsumbegabung“ gesichert würde (S. 105). Dies geschah nach Ansicht Pauschs durch die Erzeugung von Identitätsdefiziten, die wiederum durch Konsum zu befriedigen schienen. Als Diskurse zur Herstellung derartiger Defizite nennt Pausch die Alphabetisierungskampagne mit ihrer Absage an das vor-alphabetisierte Subjekt (hier bezieht sich Pausch auf Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999, S. 244), die Unsterblichkeitsdebatte, die Lavater mit dem Naturforscher Charles Bonnet und dem Genfer Pfarrer Jacob Benelle führte und in der die Entkörperung der Seele propagiert wurde, sowie Lavaters Physiognomik, die den Rezipienten unerreichbare Vorbilder zur Nachahmung empfahl. Pausch erklärt, dass mittels dieser Maßnahmen „die Inskription des aufgeklärten Körpers mit Identitätsdefiziten […] die Gestaltungsmerkmale seiner Individualität“ produzierte (S. 114). Die Nachwirkungen sind Pauschs Ansicht nach in den „weit verbreiteten Erscheinungen der Körperfeindlichkeit heute“ (S. 115) zu beobachten – z. B. der Zunahme der Essstörungen Anorexia nervosa und Bulimie sowie dem ebenfalls besorgniserregenden Steroidmissbrauch beim Bodybuilding – Phänomene gestörter Körperwahrnehmung, die seit einigen Jahren diagnostisch als body image disorders bezeichnet werden.
In der Zusammenschau der Beiträge Pauschs, Benbows und Purdys wird deutlich, wie sehr die aufklärerische Körperfeindlichkeit sowohl das männliche als auch das weibliche Subjekt unterwarf und letztlich töten konnte und in unserer Gegenwart weiter wirksam bleibt. Angesichts dieses Befundes stellt sich für die Zukunft die Frage, ob und wie die Körperfeindlichkeit überwunden werden kann.
URN urn:nbn:de:0114-qn052288
Dr. Corinna Heipcke
Lecturer in German (DAAD), University of Surrey (UK), School of Arts, LCIS
E-Mail: c.heipcke@surrey.ac.uk
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