Zwischen Welten wandeln

Rezension von Betina Aumair

Margarethe Herzog:

Lebensentwürfe zwischen zwei Welten.

Migrationsromane karibischer Autorinnen in den USA.

Frankfurt a. M.: Peter Lang 2003.

369 Seiten, ISBN 3–631–50201–X, € 56,50

Abstract: Der Gegenstand der Untersuchung von Margarethe Herzog ist Migration und deren literarische Verarbeitung. Das von ihr behandelte Textkorpus stammt von den drei lateinamerikanischen Gegenwartsautorinnen Christina Garcia aus Kuba, Esmeralda Santiago aus Puerto Rico und Julia Alvarez aus der Dominikanischen Republik. Zentrales Thema aller Romane ist die Spannung zwischen einer karibischen Herkunft und dem Versuch, im Gastland USA eine Heimat zu finden. Margarethe Herzog betrachtet die Texte unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Geschlecht und Migration sowie im Hinblick auf Integrations- und Wertefragen bei der jüngeren Generation von Migrantinnen. Methodisch ist das Werk sehr klar strukturiert. Es besteht aus zwei Teilen: im ersten Teil setzt sich Margarethe Herzog mit der Herkunft der Autorinnen und der Theorie des Begriffs „Migration“ auseinander, im zweiten Teil widmet sie sich der Interpretation der ausgewählten Romane.

Einführung – Theoretische und begriffliche Überlegungen

Wesentlich für die Untersuchung ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Begriffen Identität, Ethnizität, Nation und Transnationalität sowie Hybridisierung. Sie bildet die theoretische Voraussetzung für die Interpretation der Prosawerke. Herzog distanziert sich von den statischen Vorstellungen von Identität, Ethnizität und Nation, vielmehr spricht sie von der „Überschneidung von Positionen und Identitäten, dem Überlappen von Kulturräumen und Interessen sowie dem Ursprung der meisten Kulturen als Mischkulturen“ (S. 19 und 20). Migrant/-inn/en nehmen dabei einen besonderen Status ein. Identität zum Beispiel als ein stabiles und abgeschlossenes Konzept zu sehen, gestaltet sich, so Herzog, bei Migrationsgemeinschaften, die nicht einer Kultur angehören, sondern zwischen Kulturen wandeln, als ein schwieriges und nicht konfliktloses Unterfangen. Auch der Begriff Ethnizität habe sich von seiner starren biologischen Definition entfernt und werde als Ergebnis einer individuellen Auslegung der jeweiligen Gruppe betrachtet. Den Begriff der Nation will Herzog von der eurozentristischen Betrachtungsweise loslösen. Sie rückt vielmehr das Konzept der Transnationalität in den Vordergrund.

Karibische Geschichte als Migrationsgeschichte: Region – Länder – Sozialgefüge

In diesem Teil des Buches beschäftigt sich Herzog mit der karibischen Geschichte, die sie als Migrationsgeschichte par excellence versteht. Die Verfasserinnen der von ihr zur Analyse ausgewählten Romane entstammen und suchen Heimat in Ländern, die geradezu durch Migration entstanden sind. Inseldasein, „koloniale Vereinnahmung und die Einführung des Plantagensystems“ (S. 43) seien wesentliche Merkmale der Karibik, die nicht als historisch überwunden zu betrachten seien, sondern nach wie vor schwerwiegende Folgen auf die heutige Gesellschaft hätten. „Breite Migrationsströme in Richtung USA“, so Herzog, „gehören […] zu den Konsequenzen des karibischen Entwicklungsprozesses im Schatten des wirkmächtigen Nachbarn USA“ (S. 49).

Anschließend geht Herzog in einem Exkurs auf die „Genderaspekte in der Karibik und der Migration“ ein. Männer in Lateinamerika seien auch heute noch im rechtlichen und kulturellen Aspekt den Frauen übergeordnet. Frauen standen lange zwischen der traditionellen Rolle der Hausfrau und Mutter und der Rolle als billige Arbeitskraft vor allem im Produktionsprozess. Mit zunehmendem Einzug der Frauen in den Bildungssektor seien sie auch bewegungsfreier geworden. Ein höherer Bildungsstatus führe auch zu einer höheren Migrationsrate,.

Kubaner/-innen, Puertorikaner/-innen und Dominikaner/-innen in den USA: Gemeinschaften – Generationen – Debatten – Diskurse

In diesem Abschnitt geht die Autorin auf die in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlichen Hintergründe und Motive von Migration ein. Besonders die lateinamerikanischen Migrationsgemeinschaften haben aufgrund ihres hegemonialen Verhältnisses zu den USA mit großen Diskriminierungsproblemen im Gastland zu kämpfen. Obwohl Migrant/-inn/en aus Kuba, Puerto Rico und der Dominikanischen Republik über weite Strecken die gleichen Voraussetzungen und Schwierigkeiten in den USA haben, stehen sie in einem konkurrierenden Verhältnis zueinander. Herzogs Augenmerk liegt zum einen auf dem historisch gewachsenen Verhältnis des Migrationslandes zum Gastland sowie den Schwierigkeiten und Erfolgen der einzelnen Migrationsgruppen in der Supranation USA. Bei der Analyse der Romane steht die dritte Generation im Mittelpunkt. Herzog stellt sich die Frage, wie junge Menschen mit Migrationshintergrund mit dem Exil umgehen, inwiefern das Exil noch Orientierung bietet für die heranwachsenden Generationen.

Typologie spanischkaribischer Migrationsliteraturen

Eingeleitet wird dieser Teil mit der Analyse der Voraussetzungen und Bedingungen für die Entstehung von Minderheitenliteratur in den USA. Die USA stellt nach Ansicht von Herzog eine Migrationsgesellschaft dar, deswegen könne die US-amerikanische Literatur auch per se als Migrationsliteratur gelten. Herzog differenziert die Bereiche Exil-, Migrations- und Minderheitenliteratur und konzentiert sich selbst auf die Analyse von „Strömungen und Schwerpunkte[n] in spanischkaribischen Migrationsliteraturen“ (S. 125). Hierbei geht sie auf jedes der im Forschungsschwerpunkt liegenden Länder gesondert ein und zeigt den Verlauf von den Anfängen der Migrationsliteratur bis zur Gegenwart. In einem angeschlossenen Exkurs führt sie in die Lebensgeschichten und in die Themen der Autorinnen García, Santiago und Alvarez ein. Diese Hintergrundinformationen über die Autorinnen dienen als Übergang zum darauf folgenden empirischen Teil.

Lebensentwürfe zwischen zwei Welten: Migration und ihre literarische Verarbeitung

Dieser zweite große Teil der Publikation stellt den Hauptteil von Herzogs Arbeit, die Interpretation der Migrationsromane, dar. In der literaturwissenschaftlichen Analyse der fünf Familiensagas versucht Herzog, „zwischen fiktionaler Ebene und sozialwissenschaftlicher Studie klare Beziehungen“ (S. 216) herzustellen. Dabei wendet sie sich jeder Autorin einzeln zu, wobei jedoch die einzelnen Themen, die sie untersucht, einander sehr ähnlich sind.

Das erste Thema bei jeder Autorin ist der „Handlungs- und Gliederungsabriss“ der besprochenen Bücher. Hier stellt Herzog übersichtlich den Inhalt und den Aufbau der Romane dar.

Wie die Protagonistinnen ihren Lebensraum, aus dem sie ursprünglich stammen, wahrnehmen, untersucht Margarethe Herzog im ersten Interpretationsabschnitt „Raumwahrnehmung“. Hier geht sie näher auf den jeweils zentralen „Aktionsradius“ (S. 266) aus der Perspektive der Protagonistinnen ein. Beschrieben werden nicht nur Großräume als Elemente, die Handlungen konstituieren, sondern auch kleinere und somit konkret umrissene Lebensräume. So sind bei Santiago als auch bei Alvarez vor allem das Haus und der Garten zentrale Orte der Handlung. Herzog interpretiert sie als „Metaphern für Herrschaftsräume und Geschlechterdifferenz“.

Der zweite große Untersuchungsaspekt betrifft die „Kulturenvorstellungen“ der Protagonist/-innen. Hier fragt Herzog „nach der Verbindung von Geschichtswahrnehmung und gegenwärtigen Kulturenvorstellungen […] in Bezug auf die Karibik wie auf die USA“ (S. 332). Aus den Romanhandlungen heraus versucht Herzog, ein weit reichendes Geschichtsverständnis zu erarbeiten. Ist im vorigen Abschnitt noch ein „nationaler Rahmen“ (S. 172) zentral, so soll jetzt gezeigt werden, dass „der Blick auf Geschichtsbezüge“ (S. 172) den nationalen Rahmen aufweicht und gerade dieser Prozess der Verbindung von Heimat- und Gastland im Mittelpunkt steht.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Untersuchung der USA als Gastland. Die wesentlichen Konflikte der Figuren wie der Verlust der Heimat, die kulturelle Identität und die Lebensorganisation werden anhand äußerer Repräsentationen (Städte, Häuser, Straßen und Arbeitsplätze) untersucht. Dabei werden zum einen „Aussagen über zwei jeweils verschiedene Kulturen getroffen, zum anderen exemplarisch ein persönlich-individueller Umgang mit der Frage nach kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit gezeigt“ (S. 337).

Wie der Blick von den USA zurück auf das Heimatland aussieht, bespricht Herzog unter der Überschrift „Gastland Kuba“ und „Gastland Dominikanische Republik“. Kuba, das Gastland der Protagonistinnen bei García, erhält in deren Beschreibungen ein plakatives und touristisches Aussehen. Orte und Gebäude nehmen funktionalen Charakter an. Sie dienen als Erinnerungsstützen oder symbolisieren geschichtliche Ereignisse. Für die Heldinnen von Alvarez scheint das neue Leben in der Dominikanische Republik einerseits „Inselhaft“ (S. 304) zu sein, andererseits ist hier auch die Möglichkeit gezeigt, sich die Heimat und die Herkunft neu anzueignen. Die Protagonistinnen Santiagos kehren nach ihrer Migration nicht mehr in ihr Herkunftsland zurück, deswegen wird Puerto Rico von Herzog nicht als Gastland tituliert, sondern als „Heimatland Puerto Rico“.

Im letzten Teil des Interpretationskapitels, „Lebenswege zwischen zwei Welten“, stellt Herzog „die persönliche Wahl und Gestaltung von Geschichts- und Lebenswelt, sowie die individuelle Umsetzung von Identitäts- und Kulturenvorstellung“ (S. 204) der einzelnen Protagonist/-innen dar. Wie sich die „Migrationsperspektiven“ (S. 343) der Figuren entwickeln, ist, so Herzog, wesentlich davon abhängig, welche soziale Ausgangslage die Figuren haben und wie ihre Familienstrukturen aussehen. Der Bereich der Kunst, dem Margarethe Herzog in den drei Romanen einen zentralen Wert zuerkennt, wird unter dem Aspekt der „Räume zur Kunst“ (S. 345), die von Frauen stammen und für Frauen geschaffen wurden, betrachtet. Kunst, sei es Malerei, das Besuchen von Konzerten oder das Erzählen von Geschichten, bedeute für die Heldinnen Hilfe, um schwierige Lebenssituationen zu meistern, Verarbeitung neuer Kultureindrücke oder auch ein Weg, das eigene Sein zu definieren.

Margarethe Herzog gelingt mit ihrem Werk eine ausgesprochen umfassende, gut recherchierte, klar strukturierte Bearbeitung des Themas Migration im literaturwissenschaftlichen Kontext.

URN urn:nbn:de:0114-qn052295

Betina Aumair

Wien

E-Mail: be.au@gmx.at

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