Erleiden oder aktiv Gestalten? Frauenalltag im Nationalsozialismus

Rezension von Sabine Gieschler

Bea Dörr, Gerrit Kaschuba, Susanne Maurer:

„Endlich habe ich einen Platz für meine Erinnerungen gefunden“.

Kollektives Erinnern von Frauen in Erzählcafés zum Nationalsozialismus.

Herbolzheim: Centaurus 2000.

174 Seiten, ISBN 3–8255–0245–7, DM 24,80 / SFr 23,00 / ÖS 181,00

Abstract: Mit der Form des öffentlichen, (teil-)geschützten Erzählens und Zuhörens, seiner anschließenden Auswertung und Veröffentlichung wird der retrospektive Blick auf das subjektive Erleben, Fühlen und Handeln einzelner Frauen während der Zeit des Nationalsozialismus einer vorsichtigen singulären und kollektiven Bearbeitung zugänglich gemacht. Frauen werden als Akteure und nicht als Erleidende in ihrer Lebenszeit sichtbar.

Wenn eine Zeitzeugin im dritten der von den Autorinnen veranstalteten Erzählcafés zum Thema „auf sich selbst gestellt“ erzählt, daß die Organisation von etwas Eßbarem ihren Kindheitsalltag während des Krieges bestimmte, wenn sie wie selbstverständlich resümiert, daß ihre Mutter sich nur um die Kleinen kümmern konnte und zu ihr, der siebenjährigen „Großen“ morgens sagte: „Geh, komm heut‘ abend wieder, schau, daß du über die Runden kommst!“ (S. 63), wird die Entfernung ahnbar – nicht nur als zeitliche Distanz – die das erinnerte Erleben der Frauen und Kinder im Krieg von dem der ihnen heute zuhörenden Jüngeren trennt.

Wenn eine andere im Erzählcafé zum Thema „Gefühle in einer schwierigen Zeit“ darüber nachdenkt, wie die national-sozialistischen Jugendorganisationen für sie nicht nur ungewöhnliche und schöne Erfahrungen ermöglichten, sondern auch andere Lebensmodelle verhießen, werden die fein verästelten Wege erkennbar, auf denen die nationalsozialistische Ideologie in den Lebensalltag der Frauen und Mädchen drang.

Wenn eine dritte sich des Einflusses älterer Mädchen entsinnt, der „Führerinnen“ und oft bewunderten Leitbilder (S. 71), wird bildhaft, wie sich diese Ideologie Hoffnungen und Sehnsüchte junger Frauen zunutze machte und vor der Schablone der historischen Zeit und der jeweiligen sozialen und familialen Prägung ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmte.

Zeitzeuginnen als Akteurinnen ihrer Geschichte

Jede erzählte Episode, jede erinnerte scheinbare Banalität aus einer ebenso scheinbaren Normalität entwirft ein Spektrum neuer Fragen. Ein Geheimnis der Wirkung erzählter Lebensgeschichten ist sicherlich, daß sie uns die heraufbeschworene Zeit und die in ihr handelnden Menschen verständlicher, faßbarer machen. Nicht, daß sie Wissenslücken schlössen und alle Fragen beantworteten. Sie schaffen neue Lücken und neue Fragen und damit ein Wissen um die Komplexität der Aufgabe und um die Gefahr zu schneller Antworten.

Jeder der im vorliegenden Buch wiedergegebenen Erinnerungssplitter der erzählenden Frauen zu ihrem Alltag, ihren Gefühlen, ihren Handlungsweisen und politischen Verstrickungen verweist so gesehen gleichzeitig auf die Anstrengungen der zuhörenden Nachgeborenen. Es bedarf ihrer emotionalen wie kognitiven eigenen Leistung, die Handlungen oder Nicht-Handlungen ihrer Mütter und Großmütter in der Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen, ohne sie gleichzeitig rechtfertigen oder von sich weisen zu müssen. Anschaulich und auf eine Weise, die die eigene Identität stärker berührt, als es eine Dokumentation oder Manifestation vermocht hätte, wird deutlich, daß der Rolle der Frauen im Nationalsozialismus mit ihrer einfachen Einteilung in Täterinnen oder Opfer nicht beizukommen ist. Auch ihre Stilisierung als Heldin des Alltags, als Unterdrückte oder als ein zur Politikabstinenz erzogenes Wesen ist wenig hilfreich.

Solche auf Eindeutigkeit gerichteten Zuordnungen mögen der strukturellen Annäherung an die historische Vergangenheit dienlich sein, sie verhindern aber den erkennenden Blick und die Empathie, die nötig sind, sich in einem kollektiven Erinnerungsprozeß der Bedeutung jeder singulären Erfahrung und Biographie von Frauen für das historische Geschehen zu vergewissern und damit die je subjektiv erlebte gegenwärtige Existenz auch der Jüngeren mit, wie die Autorinnen es sagen, „zeitlicher Tiefe“ zu versehen.

Genau das war das Anliegen der Autorinnen und Initiatorinnen von sieben Erzählcafés. Diese fanden im Rahmen der Ausstellung „Vorbei und vergessen – Nationalsozialismus in Tübingen“ statt. Bea Dörr, Gerrit Kaschuba und Susanne Maurer gehören zu eine Arbeitsgruppe des autonomen Frauenprojektes „Bildungszentrum und Archiv zur Frauengeschichte Baden-Württembergs (BAF) e.V.“, die die Ausstellung konzipierte und in den Jahren zwischen 1991 und 1993 an verschiedenen Orten durchführte.

Die Erzählcafés standen unter thematischen Schwerpunkten wie: Frauenalltag im Nationalsozialismus * Auf sich selbst gestellt * Gefühle in einer schwierigen Zeit * Erinnerungen an die Reichspogromnacht * Fremde in der Heimat(?) und Entnazifizierung. Sie wählten damit eine Veranstaltungs- und Erinnerungsform, die sich mit der Eröffnung des „Erzähl-Cafés“ im September 1987 in Berlin-Wedding als eine Methode der Biographiearbeit durchzusetzen begann. Dieses erste Erzählcafé verstand und versteht sich als ein öffentliches Forum für erlebte und erzählte (Berliner) Geschichte. Es sieht seine Aufgabe darin, Menschen, die zum großen Teil nie gefragt wurden, wie sie die historischen Ereignisse ihrer Zeit erlebt haben, zu fragen, ihre Lebensgeschichten vor dem Vergessen zu bewahren und sie jüngeren Generationen für ein besseres Verständnis der eigenen Handlungsspielräume und -möglichkeiten zur Verfügung zu stellen.

Mit „Endlich habe ich einen Platz für meine Erinnerungen gefunden“ liegt nun eine ausführliche Beschreibung der Idee und des Ansatzes von Erzählcafés als Methode des inszenierten Erinnerungsraums auch und gerade in der Frauenforschung vor; desgleichen eine Auswertung des Verlaufs der Erzählrunden, eine in einen kritischen und thematischen Kontext gestellte Bewertung der mitgeschnittenen und transkribierten Erzählsituationen sowie eine kritische und bewußt selbstkritische Würdigung der Ergebnisse und ihrer Bedeutung.

Die Praxis von Erzählcafés als dialogischer Raum der Vergegenwärtigung

Die Praxis von Erzählcafés wird als gestalteter Erinnerungsraum beschrieben, der den Frauen als in der Geschichte Handelnde, als „aktiv Gestaltende“ und nicht nur als „Opfer“ von Gewalt und Geschlechterhierarchie“ (S.119) ein Podium für ihre Erinnerungen bietet und damit eine in der bisherigen Geschichtsarbeit nicht gekannte Öffentlichkeitsarbeit initiiert. Diese ist letztendlich Voraussetzung dafür, daß die Erinnerungen und Reflexionen von Frauen Teil des kollektiven Gedächtnisses künftiger Generationen – nicht nur von Frauen – werden.

Als Raum für singuläre und kollektive und damit öffentliche Selbstreflexion, Selbstvergewisserung und auch Selbstdarstellung bieten Erzählcafés auch Schutz. Diesen garantieren Ansatz und Methode; die Zeitzeuginnen werden als Expertinnen ihres Lebens ernst genommen, erzählt wird in einer Atmosphäre wechselseitiger Akzeptanz und Empathie, die Kritik nicht ausschließt. Die Moderatorinnen haben Fragen im Kopf und stellen Zusammenhänge her, sie wissen aber auch, daß es den Prozeß des Erinnerns und Erkennens stört oder gar nicht erst ermöglicht, wenn ihnen vorher „schon allzu klar ist, was dabei herauskommen soll“ (S, 41).

Die Initiatorinnen und Moderatorinnen der Erzählcafés verstehen es, deren Ansatz und Möglichkeiten immer auch und vielleicht gerade dann überzeugend darzustellen, wenn sie über ihre gleichzeitigen Grenzen und kontextabhängigen Unzulänglichkeiten reflektieren, oder wenn sie vor den Risiken der methodischen Voraussetzungen warnen: Davor zum Beispiel, „Die Anerkennung der Erzählenden als Subjekt“ mit „der inhaltlichen Anerkennung des Erzählten“ zu verwechseln (S. 137).

Die Zuhörenden als Akteurinnen einer Erinnerungspraxis

Diese und ähnliche selbstkritische Überlegungen helfen, sich von den tatsächlichen Lernmöglichkeiten, die in den Geschichten der Zeitzeuginnen verborgen sind, überzeugen zu lassen. Was von der Veranstaltungsform Erzählcafé und der Herangehensweise der Initiatorinnen schließlich vollends überzeugt und das vorliegende Buch über seine Funktion als Dokumentation hinaus bedeutsam macht, scheint mir zweierlei: Erzählcafés formell und inhaltlich zu konzipieren und durchzuführen ist eine Sache. Das Erzählte anschließend auszuwerten, möglicherweise eine andere. Im vorliegenden Fall deckt sich beides.

Die Autorinnen verlassen nie die Ebene der wechselseitigen Gleichwertigkeit von Erzählenden, Fragenden und Zuhörenden in einem kollektiven Erinnerungsprozeß. Ihre Deutungen sind vorsichtig, fragend, feinfühlig, nicht behauptend, aber auch nicht das eigene Erkenntnisinteresse verleugnend. Sie erschrecken vor der „selbstgerechten Sicherheit der Nicht-Dabeigewesenen“ (S. 107) und eröffnen Interpretationsoptionen. So entspricht es ihrem konsequent differenzierten Vorgehen, daß sie im letzten Teil des Buches einen anläßlich einer Tagung der bundesweiten Geschichtswerkstatt e.V. „Gegen den Schlußstrich. Erinnern an den Nationalismus – Ende der Veränderung?“ gehaltenen Vortrag über die Erinnerungspraxis in den Erzählcafés sowie die Kontroverse, die dieser auslöste, wiedergeben.

Indem sie an dieser Stelle ihrem Anspruch treu bleiben, daß erst durch „Das In-den-Blick-Nehmen von Subjekten und deren Handlungsmöglichkeiten […] die Qualität und Intensität der (Mit-) Beteiligung am Nationalsozialismus angemessen und differenziert begriffen werden“ kann (S. 135), fügen sie mit ihrem Buch der Diskussion um angemessene Erinnerungsformen ein gewichtiges Argument hinzu.

URN urn:nbn:de:0114-qn012133

Dr. Sabine Gieschler

Leiterin und Moderatorin der Erzählcafés in Berlin-Wedding

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.