Gisela Pravda:
Die Genderperspektive in der Weiterbildung.
Analysen und Instrumente am Beispiel des berufsbildenden Fernunterrichts.
Bielefeld: Bertelsmann 2003.
248 Seiten, ISBN 3–7639–0987–7, € 19,90
Abstract: Gisela Pravda untersucht in ihrer 2002 an der Humboldt Universität Berlin vorgelegten Dissertation berufsbildende Fernlehrgänge in Deutschland aus feministischer Perspektive. Sie richtet ihren Blick auf die dort verwendeten Unterrichtsmaterialien und analysiert Sprache und Inhalt daraufhin, inwieweit traditionelle Geschlechterrollen reproduziert und Frauen damit als Lernende behindert oder ausgeschlossen werden. Ihr Befund ist deprimierend: Auch an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert orientieren sich Sprache und Inhalt im Fernlernen an traditionellen androzentrischen Mustern, werden jahrzehntelange Frauenbewegung und -forschung ignoriert. Pravda bleibt bei der Analyse nicht stehen, sondern entwickelt konkrete Checklisten, mit deren Hilfe Lernmaterialien gendergerecht umgestaltet werden können.
Fernlehrgänge haben Tradition in Deutschland. Seit 1977 müssen alle berufsbildenden und allgemeinbildenden Fernlehrgänge in der BRD durch eine staatliche Stelle, die Staatliche Zentralstelle für Fernunterricht (ZFU), zugelassen werden. Fernunterricht wird definiert als überwiegende oder vollständige räumliche Trennung zwischen Lehrenden und Lernenden, die „Überwachung“ des Lernerfolgs muss Bestandteil der Konzepte sein. Die Unterrichtsinhalte werden in der Regel in Form von „Lehrbriefen“ vermittelt, bisher noch überwiegend traditionell in Printform. In Zukunft wird die Anzahl von eLearning-Angeboten sicherlich wachsen, wobei dies den kommunikativen und interaktiven Elementen eines didaktischen Konzepts zu Gute kommen wird. In der vorliegenden Untersuchung spielt eLearning allerdings noch keine Rolle.
Der „Arbeitsbereich Fernunterricht und offenes Lernen“ des „Bundesinstituts für Berufsbildung“ (BIBB), in dem Pravda arbeitete, hat eine beratende Aufgabe und begutachtet Fernlehrgänge – als Entscheidungshilfe für die ZFU.
Pravda schloss ihr wirtschaftswissenschaftliches und -pädagogisches Studium 1962 als Diplom-Handelslehrerin ab und hat von 1974 bis zur ihrer Pensionierung 2002 achtundzwanzig Jahre im BIBB als Wissenschaftliche Direktorin gearbeitet, hauptsächlich im Bereich Fernunterricht. Vor vier Jahren wurde ihr das Bundesverdienstkreuz für jahrzehntelanges frauenpolitisches Engagement verliehen. Seit den 1990er Jahren publiziert Pravda zur Genderperspektive in der Frauenaus- und -weiterbildung.
Sie hat den Gegenstand ihrer Dissertation aus ihrem unmittelbaren praktischen Arbeitsfeld gewonnen, der Begutachtung berufsbildender Fernlehrgänge. Die Arbeit ist ein Ergebnis des Forschungsprojekts „Analyse von Fernlehrmaterialien unter Berücksichtigung der Genderperspektive zur Entwicklung von Qualitätskriterien für die Begutachtung“. Offensichtlich war es in der Zulassungspraxis der ZFU während ihrer Tätigkeit nicht möglich, Genderkriterien als Zulassungs- und Qualitätskriterien durchzusetzen, sonst hätte es dieser Dissertation nicht bedurft.
Pravda suchte auch „das direkte Gespräch mit Vertreterinnen und Vertretern der Fernlehrinstitute, was in einem Fall […] zu einem schlagartigen Umdenken führte; die zuständigen Personen waren von der Fülle von geschlechtsblinden Ausführungen in ihren Lehrgängen völlig überrascht.“ (S. 30) Wie so häufig, hängt die Umsetzung vom Genderbewusstsein einzelner Personen ab und ist nicht institutionell verankert.
Seit kurzem hat Pravda eine Website unter www.genderanalysen.de (30.04.2004), über die wir uns über ihre weitere Arbeit auf dem Laufenden halten können.
Pravda hat die bisherige Frauen- und Gender-Forschung aus den Bereichen Schule und Schulbuch, Erwachsenenbildung sowie einige Modelluntersuchungen über das Lernen von Frauen gründlich rezipiert und wendet die Ergebnisse auf ihren Gegenstandsbereich an. Die Analysekriterien entwickelt sie durch Aufarbeitung vorhandener und publizierter Kriterien aus der Frauenweiterbildung. Pravda untersucht die Lehrbriefe v. a. in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht. Das Ergebnis ist eine Bestätigung der referierten Forschungen:
Sprache und Inhalt im Fernlernen orientieren sich an traditionellen androzentrischen Mustern, Geschlechtsrollenstereotypen werden in fast jeder Zeile reproduziert.
Aus ihrer Analyse von exemplarischen Fernunterrichtsmaterialien entwickelt Pravda sodann Checklisten für die gendergerechte Konzipierung und Abfassung derselben. Die darin enthaltenen Qualitätskriterien sind herauslesbar, wenngleich eine explizite Formulierung die mögliche Anwendbarkeit auf Lehrmaterialien ähnlicher Weiterbildungsformen, z.B. im eLearning, erleichtert hätte.
Den Genderblick auf ein didaktisches Gesamtkonzept, auf Zielgruppen und Rahmenbedingungen lässt sie in ihren einführenden Worten einfließen, in der Analyse aber bewusst beiseite.
Wir kennen das schon aus anderen Zusammenhängen und wurden durch die Forschungen und Publikationen v. a. Luise Puschs sensibilisiert: Frauen kommen sprachlich nicht vor oder werden festgelegt auf Frauenrollen. „Wenn Frauen aufgrund einer sexistischen Sprache in Lehrbriefen nicht vorkommen und nicht der Rede wert sind, werden sie als Lernende demotiviert – ob ihnen das bewusst ist oder nicht.“ (S. 103) In Kinderbüchern, Schulbüchern, Lehrmaterialien aller Art gibt es seit Jahren eine zunehmende Abkehr von herkömmlichen Geschlechtsrollenstereotypen. In der Fernlehre und der Zulassungsinstitution ZFU scheinen traditionelle Rollenvorstellungen eines ihrer Refugien zum Überleben gefunden zu haben.
„Häufig sind es auch die Beispiele, die frauenfeindlich sind: Da gibt es erfolgreiche, dynamische, kenntnisreiche und Respekt einflößende Männer und passive, begriffsstutzige, hilfesuchende Frauen in untergeordneten beruflichen Situationen, die dann doch lieber ‚zukünftig ganz Hausfrau und Mutter sein‘ wollen“.(S. 11) Männer „haben Arbeitszimmer, sind Villenbesitzer oder selbständiger Kaufmann, machen erhebliche Kapitalgewinne, haben fundierte EDV-Kenntnisse […], setzen Pläne in die Tat um, bauen sich ein Eigenheim und ziehen mit ihrer ganzen Familie ein.“ (S. 87) Frauen sind nicht Handelnde, sondern Abhängige: Verlobte, „drängelnde schwangere Ehefrauen, lästige Großmütter und -tanten“ Eine Frau als Unternehmerin macht natürlich Konkurs oder hat nur eine kleine Beratungsfirma.
Nach ihrer Sprach- und Inhaltsanalyse wendet Pravda eine unterrichtsmethodische Perspektive auf die Lehrbriefe an. Durch die Fokussierung auf die Lehrbrief-Inhalte ergeben sich vielleicht zwangsläufig Überschneidungen und Wiederholungen zu den vorhergehenden Kapiteln, da der methodische Einsatz und der didaktische Rahmen, in dem die Lehrbriefe stehen, nicht einbezogen ist. Allerdings ist dieser Teil auch nicht so umfangreich. Das liegt wohl auch daran, dass Pravda hier sehr viel weniger als in den Bereichen Sprach- und Inhaltsanalyse auf vorhandene Forschungen zurückgreifen konnte und eine „geschlechtergerechte Didaktik“ der Erwachsenenbildung erst seit kurzem entsteht – in Deutschland v. a. durch Karin Derichs-Kunstmann.
Die umfangreichen Checklisten, die das wesentliche Ergebnis dieser Arbeit bilden, sind ein weiterer Baustein zu einer geschlechtergerechten Didaktik der Erwachsenenbildung
Und ein weiterer Nutzen für alle, die im Bereich (Frauen)-Weiterbildung arbeiten und forschen oder ihren Genderblick (re)aktivieren wollen: Pravda arbeitet sehr genau die relevante deutsche und internationale Forschung auf, die es zum Thema „Geschlechterrollen in der Erziehung/Bildung“ gegeben hat, referiert internationale (Sprach-)Regelwerke und bringt uns auf den neuesten wissenschaftlichen Stand. Außerdem verwendet Pravda eine gut lesbare, klare Sprache, die nicht nur für eingeweihte Erziehungswissenschaftler/-innen verständlich ist.
Eine inhaltlich und politisch sehr verdienstvolle Arbeit!
URN urn:nbn:de:0114-qn052314
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