Heinz Walter (Hg.):
Männer als Väter.
Sozialwissenschaftliche Theorie und Empirie.
Gießen: Psychosozial 2003.
861 Seiten, ISBN 3–89806–140–X, € 49,90
Abstract: In dem umfangreichen Band wird in 23 Kapiteln ein detaillierter Überblick über die deutschsprachige Väterforschung geboten, wobei selbstverständlich die in anderen Ländern gesammelten Erkenntnisse berücksichtigt werden. Alle relevanten Wissenschaftsdisziplinen sind mit Beiträgen vertreten. Die einzelnen Aufsätze sind entweder eher theoretisch ausgerichtet, enthalten Literaturübersichten oder stellen empirische Untersuchungen vor. Der Sammelband präsentiert somit eine Gesamtschau des Forschungsstandes.
Im ersten Kapitel – „Deutschsprachige Väterforschung – Sondierungen in einem weiten Terrain“ – zeigt Heinz Walter die Entwicklung der Väterforschung ab Ende der 1970er Jahre auf. Er beschreibt ihre Wurzeln in der Psychoanalyse, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Ethnologie und Literatur. Walter stellt fest, dass in den einzelnen Disziplinen weitgehend unabhängig von den anderen und eher diskontinuierlich geforscht wurde.
Wolfgang Walter geht in dem Kapitel „Das ‚Verschwinden‘ und ‚Wiederauftauchen‘ des Vaters“ weit in die Geschichte zurück: Er untersucht die Entwicklung der Vaterrolle anhand des altrömischen und altgermanischen Rechts, im „ganzen Haus“ des Mittelalters, in der traditionellen bürgerlichen Kernfamilie des 19. Jahrhunderts, im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 und ab 1960. Die Entwicklung verläuft vom Bild des „übermächtigen Vaters“ über die Vorstellung von der „vaterlosen Gesellschaft“ hin zu aktuellen Leitbildern, in denen die Bedeutung von Vaterschaft betont wird.
Im Kapitel „Vaterschaft und Väter im Kontext sozialen Wandels“ stellen Claudia Born und Helga Krüger eine empirische Studie vor, bei der u. a. junge Väter und deren Väter interviewt wurden. Die Autorinnen zeigen die großen Unterschiede zwischen den beiden Generationen in ihrem Verständnis und ihrer Ausübung von Vaterschaft auf, aber auch die großen Beharrungstendenzen, die einer verstärkten Übernahme von Familienarbeit durch Männer entgegenstehen.
Werner Kudera geht in dem Beitrag „Neue Väter, neue Mütter – neue Arrangements der Lebensführung“ der Frage nach, inwieweit die alltägliche Lebensführung mit ihren sich im Verlauf der Zeit ändernden Anforderungen, normativen Verhaltensvorgaben, Mustern familialer Arbeitsteilung usw. die Ausübung von Vaterschaft prägt und welche Handlungsspielräume Väter heute haben. Kudera arbeitet die großen Unterschiede zwischen ländlich-traditionellen, karrierezentrierten und „modernen“ Arrangements heraus.
Im nächsten Kapitel fasst Michael Matzner zunächst den Forschungsstand zum Thema „Alleinerziehende Väter“ zusammen. Dann stellt er eine empirische Studie über 66 getrennt lebende bzw. geschiedene Väter mit Kindern im Haushalt vor. Neben Befragungsergebnissen zu Lebenslagen, Sorgerechtsregelungen, Eltern-Kind-Beziehungen, besonderen Belastungen etc. werden sechs exemplarische Skizzen von Vaterfamilien präsentiert.
Harald Sing und Hans-Wolfgang Strätz behandeln in ihrem Beitrag „Zur Entwicklung der rechtlichen Situation verheirateter und nicht verheirateter Väter“ neueste Entwicklungen im deutschen Kindschaftsrecht. Diese führten 1998 zu einer Verbesserung der Rechtsposition nicht verheirateter Väter, die mit Zustimmung der Mütter die gemeinsame elterliche Sorge erlangen können. Zugleich erhielten nicht eheliche Kinder das Recht auf Umgang mit ihren Vätern, wenn ihre Mütter die alleinige Sorge ausüben.
Im Kapitel „Der Kinderwunsch von Männern: Bewusstes und Nicht-Bewusstes“ beschreibt Iniga Schlottner eine Untersuchung, die mit 12 Männern durchgeführt wurde, von denen sechs seit mindestens zwei Jahren vergeblich ein Kind zu zeugen versuchten und die anderen Erst-Väter mit einem Kind unter zwei Jahren waren Die Ergebnisse wurden mit Hilfe von zwei projektiven Verfahren und dem Verfahren des biographischen Interviews nach Thomae gewonnen. Dabei wurde bei einigen Männern u. a. eine unbewusste Ambivalenz der Vaterschaft gegenüber und insbesondere bei den sterilen Personen ein unaufgelöster Rivalitätskonflikt diagnostiziert.
Erwin Bernat behandelt in seinem Beitrag „Der anonyme Vater im System der Fortpflanzungsmedizin“ die normativen Probleme der so genannten „therapeutischen Donorinsemination“. Er stellt einen Interessengegensatz zwischen den Samenspendern und den unfruchtbaren Eltern mit ihrem Wunsch nach Geheimhaltung auf der einen und dem Kind mit dem (potenziellen) Wunsch nach Kenntnis seines leiblichen Vaters auf der anderen Seite fest. Im Anschluss daran beschreibt er die Rechtslage in Österreich, wo 1992 die Anonymität des Samenspenders aufgehoben wurde.
Im Kapitel „Evolutionsbiologische Mutmaßungen über die Vaterschaft“ geht Andreas Paul der Frage nach, was die Biologie Erhellendes zum Verständnis des Phänomens Vaterschaft beitragen kann. Er stellt fest, dass nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern auch in traditionellen Kulturen die Kontakte zwischen Kind und Vater weniger intensiv sind als die zur Mutter. Bei Tieren (inkl. Primaten), Vögeln und Fischen ist eine Beteiligung der Väter an der Aufzucht der Jungen eher die Ausnahme. Nach Pauls Auffassung werden dadurch die unterschiedlichen Reproduktionsinteressen der Geschlechter deutlich.
Brigitta Rollett und Harald Werneck beschreiben in ihrem Beitrag „Die Vaterrolle in der Kultur der Gegenwart und die väterliche Rollenentwicklung in der Familie“, wie die sich ändernden gesellschaftlichen und kulturellen Erwartungen die Vaterrolle prägen, aber auch zu Verunsicherung führen. Im Mittelpunkt des Kapitels steht eine Längsschnittsuntersuchung, bei der ein Wandel väterlicher Rollenbilder zwischen den Testzeitpunkten drei Monate vor, drei Monate nach und drei Jahre nach der Geburt des Kindes ermittelt wurde.
Auch Kurt Kreppner behandelt in seinem Beitrag „Väter in ihren Familien“ den Wandel im Verständnis und in der Ausübung von Vaterschaft, wobei er einen längeren Zeitraum betrachtet: von der Geburt bis zum Erwachsenwerden der Kinder. Dabei steht die Bedeutung des Vaters als Kommunikationspartner seiner Kinder und als Begleiter bei Transitionen im Fokus. Kreppner greift auf eigene und andere empirische Studien zurück, um vor allem Variationen in der Interaktion und in der sozialisatorischen Funktion von Vätern aufzuzeigen.
Im Kapitel „Herrn Adams Vaterwerden und Vatersein“ rekonstruieren Mathias Graf und Heinz Walter mittels der Objektiven Hermeneutik den „Fall“ des Vaters eines zweijährigen Sohnes. Sie arbeiten traditionelle und nichttraditionelle Aspekte seiner Vaterschaft und das in seiner Biographie ausgebildete „generative Prinzip“ heraus.
Anschließend stellen Helge Wenger-Schittenhelm und Heinz Walter „Das Konstanzer Väterinstrument“ (KOVI) vor, das acht Skalen mit 282 Items umfasst und bei Vätern mit Kindern im Kindergartenalter eingesetzt werden kann. Es dient der Erfassung der Vateridentität in Verbindung mit der Erzieherrolle, indem z. B. nach der erzieherischen Kompetenz, der Beziehung zum Kind, der Zeit für gemeinsame Aktivitäten, den bereichernden und den belastenden Aspekten von Vaterschaft gefragt wird. Anhand einer Befragung von 525 Vätern wurde das Instrument hinsichtlich seiner Reliabilität und Validität überprüft und revidiert.
Peter Noack präsentiert in seinem Beitrag „Väterliches Wohlbefinden in Familien mit Kindern im Jugendalter“ eine Studie, bei der triadische Gesprächssituationen in 30 Familien untersucht wurden, wobei die Kinder zum ersten Messzeitpunkt 12,9 und zum zweiten 13,8 Jahre alt waren. Gemessen wurde die Auswirkung des Gesprächsverhaltens auf Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartungen, Lebenszufriedenheit und körperliche Gesundheit der Väter. Es zeigte sich, dass vor allem konflikthafte Äußerungsformen der Ehefrauen und Jugendlichen negative Folgen für das Wohlbefinden der Väter hatten.
Im Kapitel „Vater und Sohn“ untersucht Lothar Schon die Entwicklung der Vater-Sohn-Beziehung aus psychoanalytischer Sicht. Er befasst sich mit den Motiven für den Wunsch nach einem Sohn (z. B. Weitergabe der selbst empfangenen väterlichen Fürsorge, Erweiterung und Überleben des eigenen Selbst, Ausdruck homosexueller Libido) und der Bedeutung des Vaters in der Beziehung zum männlichen Säugling bzw. Kleinkind (z. B. Notwendigkeit „primärer Väterlichkeit“ als Ergänzung zu Winnicotts „primärer Mütterlichkeit“, Unterstützung von Mutter und Kind bei der wechselseitigen Ablösung, Förderung der Entwicklung der Geschlechtsidentität, Hilfestellung bei der Lösung ödipaler Konflikte).
Dann widmet sich Vera King in ihrem Beitrag „Tochterväter“ den Vaterbildern von Töchtern, dem Strukturwandel der Vater-Tochter-Beziehung als Folge sich verändernder Geschlechterverhältnisse, den Rollen von Vätern („erregender Anderer“, „begehrtes Objekt der kindlichen Identifizierungsliebe“, „Rivale“, „Leitfigur der Individuation“) und den Folgen von Vaterlosigkeit.
Horst Nickel referiert in seinem Beitrag „Väter und ihre Kinder vor und nach der Geburt“ Forschungsergebnisse zur Vater-Kind-Beziehung in der prä- und postnatalen Phase und im ersten Lebensjahr. Er betont, dass sich die Aufgabe der Väter nicht mehr nur auf die Unterstützung der Mütter beschränken darf, sondern dass von Anfang an eine eigenständige, einfühlsame Beziehung zum Säugling aufgebaut werden sollte – was sich auf dessen Entwicklung positiv auswirke. Nickel geht besonders auf die Bewältigung des Übergangs zur Vaterschaft ein, was laut einer kulturvergleichenden Studie deutschen Männern besonders schwer fällt.
Im Kapitel „Ressourcen der Vaterrolle“ arbeitet Alois Herlth heraus, dass die Qualität der Vater-Kind-Beziehung stärker als die der Mutter-Kind-Beziehung von Merkmalen der Ehebeziehung und der innerfamilialen Arbeitsteilung abhängig ist. Anhand einer Untersuchung von 315 Familien belegt er, dass insbesondere Empathie und Sensibilität aufseiten des Vaters, Ehezufriedenheit und die Mitwirkung des Mannes im Haushalt mit einer positiven Vater-Kind-Beziehung korrelieren.
Ludwig Stecher vergleicht in seinem Beitrag „Der Habitus der Väter und der Bildungserwerb der Kinder“ 552 ost- und westdeutsche Väter hinsichtlich ihrer Handlungsorientierungen und Persönlichkeitseigenschaften (= „Habitus“), die durch Strukturmerkmale wie z. B. das Bildungs- und Ausbildungsniveau geprägt werden. Es zeigte sich, dass ostdeutsche Väter stärker auf die schulische Ausbildung ihrer Kinder zentriert sind, höhere Statusaspirationen für sie haben (insbesondere für Mädchen!) und die Bedeutung sozialen Kapitals höher einschätzen. Durch Clusteranalyse konnten sechs Habituskonfigurationen der west- und fünf Konfigurationen der ostdeutschen Väter unterschieden werden, die in Beziehung zur Schullaufbahn ihrer 10- bis 13-jährigen Kinder standen.
Im Kapitel „Beziehungen zwischen geschiedenen Vätern und ihren erwachsenen Töchtern“ befasst sich Matthias Moch mit der Frage, inwieweit Töchter durch die Scheidung ihrer Eltern in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden und welche längerfristigen Folgen insbesondere die Trennung vom Vater hat. Er referiert relevante Forschungsergebnisse und präsentiert vier Einzelfallanalysen von Vater-Tochter-Dyaden, die vor vielen Jahren von Scheidung betroffen waren. Die Töchter waren zum Zeitpunkt der Trennung mindestens 16 Jahre alt. Moch verdeutlicht, wie sich die Vater-Tochter-Beziehungen in der Ambivalenz- und Trennungsphase sowie in den Jahren nach der Scheidung entwickelten.
Im Kapitel „Kind-Vater-Bindungsbeziehungen und Väter als Bindungspersonen“ geben Heinz Kindler, Karin Grossmann und Peter Zimmermann zunächst einen Überblick über die Bindungsforschung. Dann konzentrieren sie sich auf die Vater-Kind-Beziehung und zeigen auf, dass hier schon in der frühen Kindheit Bindungen entstehen, dass dabei die Erfahrungen des Kindes mit seinem Vater eine wichtige Rolle spielen und dass sich eine sichere Bindung positiv auf die weitere Entwicklung des Kindes auswirkt. Von Bedeutung ist z. B., inwieweit Väter bei Kleinkindern einen deren Kompetenzen herausfordernden Spielstil praktizieren, wie gut ihr Interaktions- und Fürsorgeverhalten ist und inwieweit sie sich der Bedeutung von Bindungen bewusst sind.
Bruno Hildenbrand untersucht in seinem Beitrag „Der abwesende Vater als strukturelle Herausforderung in der familialen Sozialisation“ anhand mehrerer Fallskizzen die Folgen der Vaterabwesenheit für Kinder. Die diesbezüglichen Fragestellungen und Probleme werden als Desiderat der soziologischen Sozialisationstheorie herausgestellt.
Kai von Klitzing widmet sich der Dreierbeziehung „Vater – Mutter – Säugling“, die von der Bindungsforschung vernachlässigt worden sei. Da der Vater relativ häufig aufgrund von Trennung, Scheidung usw. ausfällt, was für die psychische Entwicklung von Kleinkindern mit Risiken verbunden ist, müssen Eltern sowohl auf der intrapsychisch-repräsentationalen als auch auf der interaktionalen Ebene triadische Beziehungen gestalten. Die Bedeutung „triadischer Fähigkeiten“ wird anhand der Ergebnisse aus zwei prospektiven Studien aufgezeigt.
Im Kapitel „Der Vater im Erleben des Kindes als Teil des Entwicklungsprozesses“ untersucht Martin Gossmann auf der Grundlage von Kohuts psychoanalytischer Selbstpsychologie, welche affektiven Erfahrungen ein Kind mit seinem Vater (z. B. mit dessen Stärke und Kraft) sammeln muss, damit es bestimmte Entwicklungsschritte zurücklegen kann. Werden diese Erfahrungen nicht gemacht – so verdeutlicht Gossmann am Fallbeispiel eines Erwachsenen, der von ihm psychotherapeutisch behandelt wurde –, kann es z. B. zu einem Mangel an affektregulierenden Strukturen kommen.
Der Sammelband Männer als Väter ist allen Wissenschaftler/-inne/n, Student/inn/en und Fachleuten zu empfehlen, die sich mit Väter-, Familien- und Geschlechterforschung befassen oder mit Familien, Männern oder Kindern arbeiten. Die Autor/-inn/en der einzelnen Kapitel sind überwiegend wissenschaftlich sehr renommiert. Sie tragen ganz unterschiedliche Aspekte zur Gesamtthematik bei. Nur selten sind in einem Sammelband so viele verschiedene Disziplinen und Perspektiven vertreten.
Das Buch Männer als Väter ist trotz der wissenschaftlichen Zielsetzung gut lesbar. Positiv sind die deutsch- und englischsprachigen Abstracts vor jedem Kapitel sowie das neun Seiten umfassende Autor/-inn/enverzeichnis zu vermerken, negativ das Fehlen eines Stichwort- und Namensverzeichnisses.
URN urn:nbn:de:0114-qn053281
Dr. Martin Textor
München/Staatsinstitut für Frühpädagogik
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