Wiebke Kolbe:
Elternschaft im Wohlfahrtsstaat.
Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000.
Frankfurt a.M.: Campus 2002.
516 Seiten, ISBN 3–593–37058–1, € 49,90
Abstract: Durch die Frauen- und Geschlechterforschung wurde der Blick der Wohlfahrtsstaatsanalysen auf die unbezahlte Arbeit von Ehefrauen und Müttern sowie die wohlfahrtsstaatlichen Reformen für diese Gruppen ausgedehnt. Die vorliegende Untersuchung knüpft an die zunächst auf Mutterschaftskonzepte zentrierte Wohlfahrtsstaatsforschung an, geht jedoch darüber hinaus, indem sie den Gegenstandsbereich um die Erforschung der Vater- und Elternschaft erweitert.
In dieser an der Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie der Universität Bielefeld vorgelegten Dissertation wird vergleichend für Schweden und Deutschland betrachtet, wie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in wohlfahrtsstaatlichen Regelungen das Interesse vom Konstrukt Mutterschaft zu dem von Vater- und Elternschaft verschiebt. Im Zentrum der Analyse stehen der Elternurlaub, den Schweden 1974 als erstes europäisches Land einführte, und das Erziehungsgeldgesetz, das 1986 in der Bundesrepublik in Kraft trat. Der Autorin geht es dabei vor allem um die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser beiden Reformen, weil durch sie das neue Elternschaftskonzept in der Sozialpolitik des jeweiligen Landes institutionalisiert wurde.
Die im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren stehenden Quellengruppen – Gesetzestexte, Gesetzesentwürfe, parlamentarische Anträge, Protokolle der Plenardebatten des schwedischen Reichstags, des deutschen Bundestags und Bundesrats, Ausschussprotokolle, Sachverständigengutachten, Öffentliche Anhörungen sowie Stellungnahmen von Verbänden und Institutionen zu Gesetzesentwürfen – wurden von Wiebke Kolbe mittels konstruktivistischer Perspektive aufgearbeitet. Als Leitthema galt die Frage, wie Elternschaft in der Sozialpolitik zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen nationalen Kontexten konstruiert wurde. Der Vergleich zweier Staaten sollte dabei den Blick für die Relativität und Kontextgebundenheit der Kategorien und Konzepte, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit strukturieren, schärfen.
In der Analyse kommt die Autorin zu dem Schluss, dass in beiden Staaten bis in die ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte das männliche Familienernährermodell dominierte. Jedoch war dies in Schweden bereits damals schwächer ausgeprägt: Die Leistungen der sozialen Grundsicherung leiteten sich im schwedischen Wohlfahrtsstaat vom Staatsbürgerstatus ab, wodurch auch nicht erwerbstätige Mütter und Frauen einen eigenen Rechtsanspruch auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen besaßen. Somit wurde die Abhängigkeit von einem männlichen Familienernährer verringert.
In Deutschland bezogen sich die Sozialleistungen vor allem auf die Erwerbstätigkeit: Nicht erwerbstätige Ehefrauen und Mütter waren somit finanziell und sozial stärker vom männlichen Familienernährer abhängig. Dieser stand nicht nur als Ehemann, sondern auch als Vater im Mittelpunkt. Das zeigt sich darin, dass er vom Staat durch steuerliche Kinderfreibeträge und das 1954 eingeführte Kindergeld in seiner Aufgabe, den Familienunterhalt zu bestreiten, unterstützt wurde.
Hingegen ersetzte Schweden 1948 die steuerlichen Kinderfreibeträge durch staatliche Kinderbeihilfen, die bewusst an die Mütter gezahlt wurden. Dadurch erlitten die Väter – so Wiebke Kolbes Auffassung – einen Funktionsverlust als Familienernährer.
Seit Mitte der 1950er Jahre weisen Statistiken in beiden Staaten eine erhöhte Erwerbstätigkeit der Mütter aus. Die Geschlechterrollendebatte in Schweden hatte dazu geführt, dass Politiker und Politikerinnen als Lösung des anhaltenden Arbeitskräftemangels anstelle einer Anwerbung von Gastarbeitern verstärkt verheiratete Mütter in den Erwerbsprozess integrieren wollten. Der Überzeugung, dass Mütter von Kleinkindern nicht erwerbstätig sein sollten, wurde als Schlüsselbegriff der sechziger Jahre die weibliche Wahlfreiheit entgegengesetzt: Frauen sollten zwischen Erwerbs- und Hausarbeit wählen können. Die sozialdemokratische Regierung schuf dazu ein umfangreiches Programm an ganztägigen Kinderbetreuungseinrichtungen. Diese Möglichkeit wurde schließlich auch auf Männer ausgedehnt, und deshalb wurde programmatisch zunehmend von Eltern statt von Müttern gesprochen.
In Deutschland nahm man die wachsende Müttererwerbstätigkeit als alarmierende Entwicklung wahr, die das Familienleben zerstöre und bei den Kindern nachhaltige psychische und soziale Schäden verursache. Dies schien auch durch die rezipierten medizinischen und psychologischen Forschungen bestätigt, während die Forschungsöffentlichkeit in Schweden zu dem Schluss kam, dass Kleinkinder zwar eine ständige Bezugsperson bräuchten, dies aber nicht unbedingt die Mutter sein müsse.
In Schweden wandelte die sozialdemokratische Regierung 1974 den sechsmonatigen Mutterschaftsurlaub im Zuge der Gleichstellungspolitik und gemäß dem neuen politischen Leitbild der Zweiversorgerfamilie in einen Elternurlaub um. Mütter oder Väter sollten während dieser Zeit ein zu versteuerndes Elterngeld in Höhe von 90 Prozent ihres bisherigen Bruttoeinkommens erhalten. Nicht Erwerbstätige erhielten ein einheitliches Elterngeld.
Zur ungefähr selben Zeit führte die sozialliberale Bundesregierung in Deutschland einen sechsmonatigen Mutterschaftsurlaub mit Lohnersatzfunktion für abhängig erwerbstätige Frauen ein. Dahinter lag ein Definitionskampf: Während die Bundesregierung den Mutterschaftsurlaub im Mutterschutzdiskurs verortete, bezog die Opposition ihre Argumente aus dem Kindeswohldiskurs und vertrat die Ansicht, es gehe nicht um arbeitsrechtliche, sondern um familienpolitische Reformen.
Somit hatte sich in Schweden bereits eine geschlechtsneutrale Sprache durchgesetzt, als sich die bundesdeutsche Diskussion noch vor allem auf die Rolle der Mutter konzentrierte.
In der Herausbildung der neuen Elternschaftskonzepte sieht die Autorin in beiden Ländern einen Bedeutungsverlust von Mutterschaft. Die sozialen Mutterfunktionen seien teilweise oder vollständig auf Eltern oder ein Elternteil übergegangen. Vaterschaft hingegen habe in beiden Staaten an Bedeutung zugenommen, da sie nun auch die Tätigkeit der Kinderbetreuung umfasste. Während in Schweden dieser Bedeutungsgewinn als Bezugsperson für Kleinkinder die fehlende Familienernährerfunktion von Vätern kompensiert habe, sei er in der Bundesrepublik zur alten Funktion hinzu getreten.
Durch die in der gesamten Untersuchung beibehaltene Konzentration auf die Konstruktion von Mutter-, Vater- und Elternschaft im politischen Diskurs ist es der Autorin gelungen, ihre Fragestellung methodisch konsequent und schlüssig zu behandeln. Eine abschließende Zusammenführung des politischen Diskurses mit der sozialen Praxis und den gesellschaftlichen Wertvorstellungen im letzten Kapitel fasst die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Länder noch einmal systematisch zusammen.
URN urn:nbn:de:0114-qn053136
Mag. Ellinor Forster
Forschungsassistentin Universität Innsbruck/Institut für Geschichte
E-Mail: ellinor.forster@uibk.ac.at
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