Probleme mit ‚Modernisierung als Interpretationsrahmen von sozialer Arbeit und ‚Mütterlichkeit‘

Rezension von Brita Rang

Christoph Sachße:

Mütterlichkeit als Beruf.

Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929.

Weinheim, Basel, Berlin: Juventa 2003.

336 Seiten, ISBN 3–407–55894–5, € 24,90

Abstract: Unverändert ist das bereits 1986 von Christoph Sachße vorgelegte Buch nun ein drittes Mal, allerdings in einem anderen Verlag erschienen. Gegenstand ist die Entstehung der modernen beruflichen Sozialarbeit, die – so die These –, aus einer Verbindung von bürgerlich-kommunaler Wohlfahrtspflege und bürgerlich-konservativer Frauenbewegung hervorging. Deren ethisches Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“ habe jedoch von Beginn an in einem Spannungsverhältnis zur zunehmenden Verberuflichung und Bürokratisierung der sozialen Arbeit im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik gestanden.

Das erfolgreiche Buch

Das Buch von Sachße ist ein erfolgreiches Buch, inzwischen fast ein Standardwerk für die Forschung und Ausbildung. Der neuen wie der alten Leserin wird auffallen, dass es nicht nur gut geschrieben, sondern auch didaktisch souverän strukturiert ist: der Autor argumentiert, bringt komplexe Zusammenhänge auf Begriffe, fasst Ergebnisse zusammen und formuliert Thesen. Die Plausibilität und damit die Angemessenheit der Darstellung bietet sich gleichsam an. So sieht es auch der Autor. Er hat das Buch deshalb nicht verändert, denn in seinen „Kernaussagen“ sei es, so im Vorwort zur 3. Auflage, zwar durch die umfängliche neue Forschung ergänzt, präzisiert und modifiziert, aber primär doch bestätigt worden (vgl. S. 12).

Was sind die Kernaussagen, was ist der Gegenstand des Buches?

Massenhafte Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungsmangel, Krankheit, fehlende Hygiene und Jugendverwahrlosung ließen sich, angesichts rapider Industrialisierung und enormer Ausweitung der Städte nach der Reichseinigung von 1871, im Rahmen der alten Sicherungs- und Fürsorgesysteme nicht länger bewältigen. Neue soziale, kulturelle und vor allem politisch-rechtliche Muster und Gesichtspunkte für die bis dahin ehrenamtliche, häufig noch kirchlich getragene Armensorge wurden deshalb diskutiert und in ersten Versuchen auch umgesetzt.

Sachßes zentraler Begriff für die Ordnung des Quellenmaterials und dessen Analyse ist der Begriff der Modernisierung. Kategorien, die den Begriff begleiten, sind vor allem Bürokratisierung, Rationalisierung, Disziplinierung und Verwissenschaftlichung. Das Konzept der Mütterlichkeit verbindet sich für Sachße zwar auch mit moderner Bürgerlichkeit, aber es steht gleichsam kulturkritisch quer zu den Prinzipien der Modernisierung.

Aus dieser Perspektive beschreibt der Autor die Ausdifferenzierung kommunaler Fürsorgeleistungen, die Aufteilung privater und öffentlicher Wohlfahrt, die Koordinierung aller Unterstützungsmaßnahmen und die Durchsetzung eindeutiger gesetzlicher Voraussetzungen und Verpflichtungen. In dem Veränderungsprozess ist seiner Meinung nach auch die Wissenschaft, insbesondere die Nationalökonomie, die Medizin und Hygieneforschung, als Faktor bedeutsam.

Die bürgerliche Frauenbewegung mit ihrem konservativen Emanzipationsideal aber wird nach seiner Interpretation zu jener Instanz, die die verschiedenen neuen Entwicklungstendenzen zu verknüpfen vermochte und „ein spezifisches Konzept sozialer Arbeit ausformulierte und diese als Frauenberuf auf den Weg brachte“ (S. 93). Kern des Konzeptes sei die kulturelle Mission von Frauen basierend auf dem Prinzip der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ gewesen. In dessen Rahmen sei es nicht um Gleichberechtigung, wohl aber um eine kulturkritische Antwort auf kapitalistische Prinzipien der Konkurrenz, des Eigennutzes, der technischen Rationalität gegangen. Mütterliche Wärme, Emotionalität und Erfahrung von Ganzheit seien damit zur Basis für die sittliche Erneuerung und die Beseitigung der gesellschaftlichen Missstände erklärt worden. Sachße zeigt, wie in Berlin seit 1893 Frauengruppen die sozialen Aufgaben zielstrebig aufnahmen, Verpflichtungen gegenüber den unteren Volksklassen betonten und sich teilweise auch wissenschaftlich u. a. bei Max Weber und Theodor Weyl qualifizierten. (vgl. S. 107). Alice Salomon entwarf seit der Jahrhundertwende Ausbildungskonzepte für alle in der sozialen Arbeit, sei es beruflich, sei es ehrenamtlich, Tätigen. Seit 1908 entstanden Schulen für Sozialarbeit, in denen fachliche Gesichtspunkte und soziale Gesinnung in der Ausbildung zusammenwirken sollten. Sozialarbeit wurde konzeptuell zu einem Beruf, der eine persönliche, pädagogisch-betreuende Dienstleistung – wie man sie sich auch im Rahmen des Kathedersozialismus und der englischen Settlement-Bewegung vorgestellt hatte – erbringen sollte (vgl. S. 127 ff.). Bezahlung war kein notwendiges Ziel. Auch ein Ehrenamt entsprach den Vorstellungen der teilweise wohlsituierten Initiativnehmerinnen.

Im ersten Teil des Buches werden diese Voraussetzungen und Ausgangsentwicklungen rekonstruiert, im zweiten die Etablierung der Sozialarbeit als Beruf in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik. Charakterisiert wird der sich wandelnde qualitative, vor allem aber enorme quantitative Ausbau, d. h. die Ausdifferenzierung und Erweiterung der Anzahl städtischer Wohlfahrtseinrichtungen. Angesichts des Umfangs der sozialen Arbeit sei diese – insbesondere unter den Auswirkungen des Krieges und der Inflation – zunehmend zu einem Element der Politik und zu einem Teil der städtischen Verwaltungen geworden. Verrechtlichung und Bürokratisierung wurden die Bestimmungsfaktoren der Nachkriegszeit. Immer mehr Frauen arbeiteten in der wirtschaftlichen Fürsorge, der Gesundheits- oder der Jugendfürsorge. Mit ihrer Zahl stieg auch das Interesse, durch Ausbildung nicht nur das Berufsbild, sondern auch die beruflichen Bedingungen selbst zu verbessern. Seit Anfang der 20er Jahre waren erste Fachhochschulen entstanden. Nur eingeschränkt war eine wissenschaftliche Berufsbildung intendiert. Denn noch betonten die in dieser Entwicklung tonangebenden Frauen stets, dass primär „weibliche Wesensmerkmale“ kennzeichnend für den Beruf seien. Gehe es doch nicht um Erkennen, sondern um ein Handeln, das auf „das Wohl des Menschen in seiner Totalität“ gerichtet sei, wie Sachße Alice Salomon zitiert (S. 224). Ein solches Berufsbild und die veränderte soziale Wirklichkeit hätten sich jedoch nicht mehr bruchlos zusammengefügt. Verändert habe sich auch die Zusammensetzung der die Sozialarbeit Leistenden: neben den wenigen betuchten bürgerlichen Frauen wandten sich zunehmend Frauen aus den verarmten Mittel- und kleinbürgerlichen Schichten der neuen Profession zu (vgl. S. 261). Selbst männliche Sozialarbeiter entdeckten im Zusammenhang mit der Jugendbewegung vor allem die Jugendfürsorge für sich und übernahmen in den expandierenden kommunalen Sozialbürokratien scheinbar selbstverständlich die leitenden Funktionen. Sie waren, ebenso wie die Frauen, so Sachße, angesichts wachsender sozialer Probleme und der Verortung in städtischen Bürokratien zunehmend einer „Schematisierung“ der sozialen Fürsorge, einer „Verselbständigung apparativer Eigeninteressen gegenüber den Problemen der Klienten“ unterworfen (S. 254). Angesichts dieses Wandels der Verhältnisse sei jedoch in den sozialen Ausbildungsstätten unbeirrbar an der „Mütterlichkeitsrhetorik aus der Gründerzeit“ festgehalten worden (S. 264). Sachße spricht resümierend von einer Immunisierung der weiblichen Protagonistinnen gegenüber dem „tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel“. Der Modernisierung sozialer Arbeit in der alltäglichen Berufspraxis hätten sie keine neuen republikanischen Sichtweisen zur Seite gestellt und insofern Berufsideologien den Weg bereitet, die vor allem die alltäglichen Widersprüche bearbeiteten, nicht aber die soziale Arbeit in der Demokratie als das Aufgabengebiet ansahen (vgl. S. 264).

Die Grenzen des Buchs

Auf die aktuell veränderte Forschungssituation hat Sachße in der der neuen Ausgabe hinzugefügten Einleitung selbst unter Hinweis auf Literatur aufmerksam gemacht. Eine Erweiterung seiner Befunde sieht er vor allem in den Forschungen

- zur kommunalen und regionalen Sozialpolitik

- zu den Tätigkeitsfeldern der Wohlfahrtspflege

- zur Freien Wohlfahrtspflege und Privatwohltätigkeit

- zu den Biographien der Protagonistinnen.

Doch fehlten Untersuchungen zu den Anfängen des sozialen Berufs. Die Forschung sei hier noch zu „einsilbig“.

Sachße selbst bleibt allerdings auch relativ einsilbig im Blick auf vorliegende Arbeiten zum Konzept von Mütterlichkeit und Frauenbewegung. Iris Schröders (2001) historisch sehr sorgfältig belegte Auseinandersetzung mit solchen Charakterisierungen, die das Konzept von Sozialreform der Frauenbewegung um 1900 als konservativ und rückwärtsgewandt beschreiben (die ja ein Herzstück seiner Argumentation in „Mütterlichkeit als Beruf“ sind), hat Sachße nicht kommentiert. Das gilt ebenfalls für den Inhalt des Buches von Ann Taylor Allen (1991/2000), die in einer interessanten Weise Mütterlichkeitskonzeptualisierungen des 19. Jahrhunderts mit zivilgesellschaftlichen Überlegungen verbindet.

Sachßes relativ traditionelles Konzept von Modernisierung verhindert m. E., ‚andere‘ Konzeptionen des Sozialen mit demokratischen und republikanischen Prinzipien zu verknüpfen. In verschiedener Hinsicht unterstellt sein begrifflicher Rahmen, der primär teleologisch ausgerichtet ist, die Geradlinigkeit von Prozessen. Dadurch werden Anfangs- und Endsituationen favorisiert, und die Akteure werden aus dieser Perspektive eher im Schlepptau von Tendenzen gesehen statt als deren Konstrukteure. Ambivalente geschichtliche Prozesse, das erstaunlich Aktuelle in weit zurückliegenden Zeiten, relative Konstanzen fallen dann weniger auf. Solche Beschränkungen sehe ich u. a. dort, wo es um das Verhältnis von kommunaler und konfessioneller sozialer Arbeit angeht. Säkularisierung ist für Sachße ein Indiz der Moderne. Also richtet sich sein Blick primär auf die staatlich-gemeindliche Fürsorge. Sie ist für ihn das historische Resultat. Nun finden sich aber selbst in der kommunalen Armenpflege und in Armenordnungen des christlichen Mittelalters säkulare Entwicklungen (vgl. dazu z. B. Wilhelm Lieses Geschichte der Caritas von 1922 oder Maurers Arbeit zur christlichen Diakonie im Mittelalter aus dem Jahr 1953). Interessant sind gerade die spezifischen und sich unter den ökonomisch-politischen Verhältnissen jeweils verändernden Verknüpfungen und Konstellationen von konfessionellen und privaten Initiativen einerseits und kommunalen und obrigkeitlichen Maßnahmen andererseits (vgl. dazu etwa Rosenbaum 1999). Auch die Vorgeschichte des Konzepts von geistiger Mütterlichkeit bleibt Sachßes eher schematisierender Geschichtskonstruktion unterworfen. Emotionalisierung der Liebe und Ehe entstehe im 18. Jahrhundert, „Neudefinitionen“ bzw. „Neubestimmungen“ nicht nur des Verhältnisses zwischen Ehepartnern, sondern auch zwischen Eltern und Kindern seien zu diesem Zeitpunkt erstmalig registriert worden (S. 98). So wie Sachße in Anlehnung an Ariès und Shorter die „Entdeckung“ der Kindheit im 18. Jahrhundert registriert, so sieht er auch in Mütterlichkeit als „Komplementärbegriff“ eine Schöpfung des 18. Jahrhunderts (a.a.O.). Aber bereits in den 1980er Jahren war der internationale Forschungsstand von dieser Argumentation entfernt (Arnold 1980, Beales 1975, Hanawalt 1977, Niestroj 1985, Pollock 1983). Und auch zum Aufkommen einer Dualität der Geschlechtscharaktere gibt es seit den 80er Jahren differenzierende Argumente, die der Eindeutigkeit der Konstruktion unter Hinweis auf historisches Material widersprechen (Rang 1985). Kurzum: auch aus dieser Perspektive muss über das Konzept der geistigen Mütterlichkeit heute differenzierter gesprochen werden.

Literatur

Allen, Ann Taylor (1991/2000): Feminismus und Mütterlichkeit in Deutschland 1800–1914. Weinheim: Deutscher Studienverlag 2001 (amerik. Erstaufl. 1991)

Arnold, Klaus (1980): Kind und Gesellschaft. Texte und Beiträge zur Geschichte der Kindheit in Mittelalter und Renaissance. Paderborn/München: Schöningh.

Beales, Ross W. (1975): The Child in Seventeenth Century America. In: Joseph M. Hawes & N. Ray Hiner (Hrg.): American Childhood. A Research Guide and Historical Handbook. Westport CT: Greenwood Press, 15–56.

Hanawalt, Barbara (1977): Childrearing among the Lower Classes of Late Medieval England. In: Journal of Interdisciplinary History 8(1977), 1–22.

Liese, Wilhelm (1922): Geschichte der Caritas, Band I und II. Freiburg i. Br.: Caritasverlag.

Maurer, Wilhelm (1953): Die christliche Diakonie im Mittelalter. In: Krimm, herbert: Das diakonische amt der Kirche. Stuttgart: Evangelischer Verlag, 125–155.

Niestroj, Brigitte (1985): Die Mutter-Kind-Beziehung im Kontinuum von Neuzeit und Moderne: In: J. H. Campe: Über die früheste Bildung junger Kinderseelen. Frankfurt: Ullstein, 7–52.

Pollock, Linda (1983): Forgotten Children. Parent-Child Relations from 1500 to 1900. Cambridge University Press.

Rang, Brita (1985): Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert. In: Dalhoff, J. et al. (Hrg.): Frauenmacht in der Geschichte. Düsseldorf : Schwann Verlag, 194 – 205.

Rosenbaum, Ute (1999): Liebestätigkeit und Armenpflegein der Stadt Zwickau. Hamburg: Korvac-Verlag.

Schröder, Iris (2001): Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914. Frankfurt a. M.: Campus.

URN urn:nbn:de:0114-qn053235

Prof. Dr. Brita Rang

Universität Frankfurt/Main

E-Mail: Rang@em.uni-frankfurt.de

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