Ingrid Herlyn, Dorothee Krüger (Hg.):
Späte Mütter.
Eine empirische Untersuchung aus biographischer Perspektive bei späten Erstmüttern in West- und Ostdeutschland.
Opladen: Leske + Budrich 2003.
217 Seiten, ISBN 3–8100–3796–6, € 19,90
Abstract: Der Übergang in die Mutterschaft findet zunehmend später statt. Über die Gründe liegen zahlreiche Vermutungen und einige theoretische Diskussionen, aber kaum empirische Befunde vor. Die Autorinnen möchten mit ihrer Studie einen Beitrag zum Abbau dieses Forschungsdefizits leisten. In ihrer empirisch-biografischen Untersuchung gehen Ingrid Herlyn und Dorothea Krüger der Frage nach, ob späte Erstmutterschaft ein neues biografisches Muster der Familiengründung darstellt oder ob Mutterschaft nach wie vor eine selbstverständlich anerkannte Norm ist, deren Realisierung im Lebenslauf lediglich zeitlich später stattfindet.
Die Autorinnen sehen ihre Studie als eine Pionierarbeit in einem bislang vernachlässigten Forschungsbereich. Mit Ausnahme der Untersuchung von Engstler/Lüscher am Ende der 80er Jahre (Engstler, Heribert/Lüscher, Kurt [1991]: Späte erste Mutterschaft. Ein neues biografisches Muster der Familiengründung? In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 17, S. 433–460. ) und meiner eigenen Untersuchung Mitte der 90er Jahre (Beham, Martina [1998]: Lebenslanger Verzicht auf Kinder oder späte Mutterschaft? Über die Wahlfreiheit und den biographischen „Nicht“-Entscheidungsprozeß von kinderlosen Frauen und späten Müttern ab 35 Jahren. Dissertation. Linz.) wurde, wie auch die Autorinnen (S. 24) feststellen, die Frage, ob späte Mutterschaft Ausdruck gesteigerter Optionsmöglichkeiten und bewusster Wahl ist, empirisch im deutschsprachigen Raum nicht untersucht. In Erweiterung zu den vereinzelt vorliegenden Befunden wurden von der mittlerweile verstorbenen Ingrid Herlyn und von Dorothea Krüger nicht nur die Hintergründe, die zu einer späten ersten Mutterschaft führten, beleuchtet, sondern auch die praktizierten Muster später Erstmutterschaft. Sowohl durch die Erweiterung der Fragestellung, den Mehrmethodenansatz als auch die Ausdehnung der Untersuchung auf West- und Ostdeutschland versuchen die Autorinnen, zu einer umfassenderen empirischen Klärung des Phänomens später erster Mutterschaft beizutragen.
Neben sekundärstatistischen Auswertungen der amtlichen Statistik sowie repräsentativer Datensätze (Sozioökonomisches Panel (SOEP), Wohlfahrtssurvey (WFS) und der Niedersächsischen Perinatalerhebung (NPE)) wurden Expert/-innen befragt, die beruflich mit Erstmüttern befasst sind, sowie standardisierte Telefoninterviews (mit 180 Müttern) und qualitativ biografische Interviews (28 qualitative Interviews) durchgeführt. Diese Interviews stellen das methodische Kernstück der Untersuchung dar. Die Primärerhebungen fanden in den Regionen Hannover und Leipzig statt. Über den genauen Erhebungszeitraum finden sich in der Publikation keine Angaben.
Wenig überraschend bestätigt sich anhand der sekundäranalytischen Auswertungen und der Ergebnisse der Telefonbefragung, dass späte erste Mutterschaft vor allem ein Familiengründungsmuster hoch qualifizierter Frauen ist. Entgegen gängiger Alltagsmeinungen lässt sich späte Mutterschaft aber nicht allein auf längere Ausbildungszeiten zurückführen. Denn auch der Anteil der Frauen mit mittlerer und geringerer beruflicher Qualifikationen ist unter den späten Müttern nicht unerheblich. Meist sind späte Mütter in stabile Partnerschaften eingebunden. Während bei mittel- und hochqualifizierten Frauen Mutterschaft mehr oder weniger bewusst auf einen biografisch späteren Zeitpunkt aufgeschoben wurde, überwiegen bei gering qualifizierten Frauen unvorhersehbare Zwänge, die sie ungewollt zu einer späten Mutter werden lassen.
Fazit der Studie ist: Späte Erstmutterschaft stellt nicht generell ein neues biografisches Muster dar, dazu sind die Gründe für späte Erstmutterschaft und deren Ausgestaltung zu unterschiedlich. Auf Basis der biografischen Interviews werden anhand der primären Lebensorientierung vor und nach der Mutterschaft vier biografische Muster unterschieden: das Muster der berufsorientierten Frauen, der persönlichkeitsorientierten, der doppelorientierten und der familienzentrierten Frauen. Nur selten ist späte Mutterschaft das Ergebnis wahlbiografischer Entscheidungen. Die Ergebnisse des qualitativen Samples sprechen vielmehr dafür, dass Mutterschaft auch für die Mehrheit der späten Mütter nach wie vor eine selbstverständlich anerkannte Norm ist, der allerdings später im Leben entsprochen wird. Für eine kleine Gruppe, nämlich jene der berufsorientierten Frauen, als auch für jene Gruppe, die die eigene Persönlichkeitsentwicklung in den Vordergrund stellt (die zusammen etwa ein Drittel des qualitativen Samples ausmachen), ist sie allerdings tatsächlich eine bewusste Wahl, die auch zu einer Entscheidung gegen Kinder hätte führen können (vgl. S. 175). Neben der beruflichen Orientierung sind es die veränderten Partnerschaftsansprüche und individuellen Entwicklungsansprüche, aber auch temporäre Fertilitätsstörungen, ungeeignete strukturelle Gegebenheiten und unvorhergesehene Lebensereignisse, die zu später Erstmutterschaft führen.
Die Annahme, dass sich aufgrund der durchschnittlich besseren beruflichen Qualifikation später Mütter die üblichen Traditionalisierungseffekte in der familiären und häuslichen Arbeitsteilung in einem geringeren Ausmaß zeigen, bestätigte sich nicht. Auch die Partner später Mütter reduzieren selten den Umfang ihrer Erwerbstätigkeit zugunsten der Familie. Trotz ihrer hohen Berufsorientierung müssen sich auch späte Mütter mit Diskontinuitäten von beruflichen und familiären Zielen arrangieren. Und auch für beruflich hoch qualifizierte späte Mütter scheint es sich in Deutschland immer noch auszuschließen, Familie zu haben und gleichzeitig eine beruflich verantwortungsvolle Position zu bekleiden.
Der Anspruch der Autorinnen, mit ihrer Studie zu einer umfassenderen empirischen Abklärung später erster Mutterschaft beizutragen, wurde zum Teil erfüllt. Aufgrund von Zugangsschwierigkeiten zu den Befragten stießen die Autorinnen aber an Grenzen. Die Grenzen werden vor allem dort erreicht, wo es um Vergleiche zwischen west- und ostdeutschen späten Erstmüttern geht. Aufgrund der ungleichen Verteilung der Interviewpartnerinnen auf die beiden Untersuchungsgebiete sind Vergleiche, wie die Autorinnen auch selbstkritisch feststellen, methodisch problematisch. Die diesbezüglichen Ausführungen nehmen daher in der Studie berechtigterweise nur wenig Raum ein. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass mit unterschiedlichen Alterskriterien in den beiden Untersuchungsgebieten gearbeitet wurde, so dass auch deshalb ein west-ostdeutscher Vergleich nur bedingt möglich ist. Die nachträgliche Begründung für die unterschiedliche Altersuntergrenze für späte Erstmütter, nämlich, dass das durchschnittliche Erstgeburtsalter in den neuen Bundesländern zwei Jahre früher als in den alten Bundesländern liege, wirkt wenig überzeugend.
Abgesehen von diesen eingeschränkten regionalen Vergleichsmöglichkeiten gelingt es den Autorinnen aber, ausgehend von einer klaren Fragestellung eine klare Antwort auf die Frage zu finden, ob späte Erstmutterschaft eine Folge biografischer Entscheidungen oder unvorhergesehener, wenig beeinflussbarer Zwänge ist.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen zum Teil Bekanntes hinsichtlich der Gründe für späte Erstmutterschaft, liefern aber für an der Thematik Interessierte in gut lesbarer Form neue Erkenntnisse zum Sozialprofil sowie zur Alltags- und Beziehungsgestaltung später (Erst-)Mütter.
URN urn:nbn:de:0114-qn053037
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